BGE 131 IV 167
 
24. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Y. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
6S.266/2004 vom 25. Mai 2005
 
Regeste
Art. 189 Abs. 1 und Art. 190 Abs. 1 StGB; Nötigung und Vergewaltigung, psychischer Druck.
 
Sachverhalt
Y. war bis 1993 mit X. verheiratet. Nach der Scheidung lebte er weiterhin mit seiner ehemaligen Ehefrau zusammen. Im März 2001 bezog er eine eigene Wohnung. Bis am 2. September 2001 führten die ehemaligen Ehegatten ihre auch sexuelle Beziehung fort. Danach trennten sie sich endgültig. Im Zeitraum vom 21. September bis zum 12. Oktober 2001 sandte Y. X. und sich selber eine Vielzahl von SMS-Botschaften, welche sie beide unter massiven Drohungen zur Vornahme bestimmter sexueller Handlungen im Schlafzimmer bei aufgezogenen Vorhängen oder im Wald aufforderten. X. erkannte nicht, dass die anonymen SMS-Mitteilungen von ihrem ehemaligen Mann ausgingen. Nach gemeinsamen Gesprächen, anlässlich welcher ihr früherer Ehegatte die Ernsthaftigkeit der eingegangenen Forderungen und die Bedrohlichkeit der Situation unterstrich, willigte sie schliesslich in die verlangten sexuellen Handlungen - unter anderem auch in den Vollzug des Geschlechtsverkehrs und das Drehen eines Sexfilmes - ein.
Das Bezirksgericht Winterthur erklärte Y. der mehrfachen Vergewaltigung, der mehrfachen sexuellen Nötigung, der mehrfachen Drohung und des mehrfachen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage schuldig und bestrafte ihn mit 16 Monaten Zuchthaus unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs. Gegen dieses Urteil ergriff Y. die Berufung.
Das Obergericht des Kantons Zürich sprach ihn am 22. April 2004 von den Vorwürfen der mehrfachen Vergewaltigung und der mehrfachen sexuellen Nötigung frei, verurteilte ihn aber wegen mehrfacher Drohung zu vier Monaten Gefängnis unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs. Auf die Anklage wegen mehrfachen Missbrauchs des Telefons trat das Obergericht infolge Eintritts der Verjährung nicht ein.
X. erhebt gegen das Urteil des Obergerichts eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde beim Bundesgericht. Sie beantragt, es sei das angefochtene Urteil abgesehen vom Schuldspruch wegen mehrfacher Drohung aufzuheben. Ausserdem sei die Vorinstanz anzuweisen, Y. der mehrfachen Vergewaltigung und der mehrfachen sexuellen Nötigung schuldig zu sprechen und ihm gegenüber eine dem Verschulden angemessene Strafe auszufällen, auf ihr Schadenersatzbegehren einzutreten und ihr eine angemessene Genugtuung inkl. 5 % Zins seit dem 1. Dezember 2001 zuzusprechen.
Sowohl das Obergericht als auch die Oberstaatsanwaltschaft verzichten auf eine Stellungnahme zur Beschwerde. Der Beschwerdegegner hingegen beantragt die vollumfängliche Abweisung der Beschwerde.
 
Aus den Erwägungen:
Die Vorinstanz gelangt in dieser Hinsicht zum Schluss, dass die SMS-Botschaften den Tatbestand der Drohung gemäss Art. 180 StGB erfüllen. Sie anerkennt auch, dass der Beschwerdegegner anlässlich der Besprechungen mit der Beschwerdeführerin, wie auf die Drohungen zu reagieren sei, auf diese einen gewissen Druck ausgeübt hat. Hingegen spricht sie den Drohungen und weiteren Beeinflussungen unter den gegebenen Umständen den nötigenden Charakter im Sinne von Art. 189 und Art. 190 StGB ab. Nach ihrer Auffassung war es der Beschwerdeführerin zumutbar, sich gegen die verlangten sexuellen Handlungen zur Wehr zu setzen. Weiter deutet sie an, dass auch die Kausalität zwischen den Drohungen und den sexuellen Handlungen fraglich erscheine. Schliesslich habe sie den Eindruck, dass die Beschwerdeführerin teilweise in die vorgenommenen sexuellen Handlungen eingewilligt habe und schon deshalb kein tatbestandsmässiges Verhalten vorliege.
Diese Beurteilung rügt die Beschwerdeführerin als bundesrechtswidrig. Nach ihrem Dafürhalten sind die Drohungen und Beeinflussungen des Beschwerdegegners ganzheitlicher zu beurteilen, als dies durch die Vorinstanz geschieht. So habe Letzterer durch sein Vorgehen eine eigentliche "Gross-Bedrohungslage" geschaffen, welche die Situation als ausweglos erscheinen liess und in der sie keine Chance zur Gegenwehr gehabt habe. Es sei deshalb verfehlt, einzelne Äusserungen der Beschwerdeführerin so zu werten, dass sie die erfolgten sexuellen Handlungen gar nicht als sehr schlimm empfunden habe, und anzudeuten, sie könnte damit sogar einverstanden gewesen sein. Der Beschwerdegegner habe vielmehr einen solchen psychischen Druck bei ihr erzeugt, dass sie den sexuellen Forderungen nachgegeben habe, um noch Schlimmeres zu verhüten.
Die beiden Strafnormen bezwecken den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Das Individuum soll sich im Bereich des Geschlechtslebens unabhängig von äusseren Zwängen oder Abhängigkeiten frei entfalten und entschliessen können. So setzen die sexuellen Nötigungstatbestände übereinstimmend voraus, dass der Täter durch eine Nötigungshandlung das Opfer dazu bringt, eine sexuelle Handlung zu erdulden oder vorzunehmen (BGE 127 IV 198 E. 3). Die Tatbestände erfassen alle erheblichen Nötigungsmittel, auch solche ohne unmittelbaren Bezug zu physischer Gewalt. Es soll ebenfalls das Opfer geschützt werden, das in eine ausweglose Situation gerät, in der es ihm nicht zuzumuten ist, sich dem Vorhaben des Täters zu widersetzen, auch wenn dieser keine Gewalt anwendet (BGE 128 IV 97 E. 2b/aa und 106 E. 3a/bb). Dementsprechend umschreibt das Gesetz die Nötigungsmittel nicht abschliessend (BGE 122 IV 97 E. 2b S. 100 f.). Es erwähnt namentlich die Ausübung von Gewalt und von psychischem Druck sowie das Bedrohen und das Herbeiführen der Widerstandsunfähigkeit, wobei der zuletzt genannten Variante kaum eigenständige Bedeutung zukommt (vgl. GUIDO JENNY, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Bd. 4, Art. 189 StGB N. 29; PHILIPP MAIER, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch II, Art. 189 StGB N. 4).
Vorliegend ist unbestritten, dass es nach den vom Beschwerdegegner versandten SMS-Botschaften jeweils zu sexuellen Handlungen kam. Ebenso wenig ist streitig, dass der Beschwerdegegner keine physische Gewalt eingesetzt hat. Es stellt sich vorliegend jedoch die Frage, ob er die Beschwerdeführerin durch Drohungen und psychischen Druck zur Vornahme bzw. Duldung der inkriminierten sexuellen Handlungen genötigt hat.
3.1 Die sexuellen Nötigungstatbestände gelten als Gewaltdelikte und sind damit prinzipiell als Akte physischer Aggression zu verstehen. Vor diesem Hintergrund versteht es sich von selbst, dass nicht jeder beliebige Zwang, nicht schon jedes den Handlungserfolg bewirkende kausale Verhalten, auf Grund dessen es zu einem ungewollten Geschlechtsverkehr, zu einer beischlafsähnlichen oder einer andern sexuellen Handlung kommt, eine sexuelle Nötigung darstellt (vgl. dazu ESTHER OMLIN, Intersubjektiver Zwang & Willensfreiheit, Diss. Basel 2002, S. 96). Kein ausreichender Druck oder Zwang im Sinne von Art. 189 und Art. 190 StGB liegt beispielsweise vor, wenn ein Mann seiner Frau androht, nicht mehr mit ihr zu sprechen, alleine in die Ferien zu fahren oder fremdzugehen, falls sie die verlangten sexuellen Handlungen verweigert (vgl. dazu auch GÜNTHER STRATENWERTH/GUIDO JENNY, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I: Straftaten gegen Individualinteressen, 6. Aufl., Bern 2003, § 8 N. 9). Obschon auch diese in Aussicht gestellten Übel das Opfer einer seelischen Belastung aussetzen, erreichen sie die für die Sexualgewaltdelikte erforderliche Intensität nicht.
Der psychische Druck, welchen der Täter durch die Schaffung einer Zwangslage erzeugen muss, hat im Blick auf die gewaltdeliktische Natur von Art. 189 und Art. 190 StGB vielmehr von besonderer Intensität zu sein. Zwar wird nicht verlangt, dass er zur Widerstandsunfähigkeit des Opfers führt. Die Einwirkung auf dasselbe muss aber immerhin erheblich sein (BGE 128 IV 97 E. 2b/aa, BGE 128 IV 106 E. 3a/aa; BGE 131 IV 107 E. 2.4) und eine der Gewaltanwendung oder Bedrohung vergleichbare Intensität erreichen (BGE 128 IV 97 E. 3a). Dies ist der Fall, wenn vom Opfer unter den gegebenen Umständen und in Anbetracht seiner persönlichen Verhältnisse verständlicherweise kein Widerstand erwartet werden kann bzw. ihm ein solcher nicht zuzumuten ist, der Täter mithin gegen den Willen des Opfers an sein Ziel gelangt, ohne dafür Gewalt oder Drohungen anwenden zu müssen (BGE 126 IV 124 E. 3b und c). Erwachsenen mit entsprechenden individuellen Fähigkeiten wird dabei eine stärkere Gegenwehr zugemutet als Kindern (BGE 128 IV 97 E. 2b/cc, BGE 128 IV 106 E. 3a/bb; BGE 124 IV 154 E. 3b).
Für die erforderliche Intensität des psychischen Drucks ergibt dies, dass jedenfalls solche Verhaltensweisen von der Tatbestandsvariante des Unter-psychischen-Druck-Setzens erfasst sind, die Gewaltakte gegen das Opfer oder Drittpersonen befürchten lassen (vgl. OMLIN, a.a.O., S. 96 und 99; JENNY, a.a.O., Art. 189 StGB N. 23; STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Art. 189 StGB N. 6; JÖRG REHBERG/NIKLAUS SCHMID/ ANDREAS DONATSCH, Strafrecht III, Delikte gegen den Einzelnen, 8. Aufl., Zürich 2003, § 57, S. 423). Zu denken ist dabei namentlich an die Drohung mit Gewalt gegen Sympathiepersonen oder, in Beziehungen, auch an Situationen fortbestehender Einschüchterung aufgrund früherer Gewalterfahrungen, andauernder Tyrannisierung bzw. nachhaltigen Psychoterrors, in denen es im Einzelfall keiner erneuten Gewalt oder Bedrohung bedarf, um die Gefügigkeit des Opfers zu erzwingen (JENNY, a.a.O., Art. 189 StGB N. 25; vgl. auch BGE 126 IV 124 E. 3b).
3.2 Eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung setzt ausserdem voraus, dass der fragliche sexuelle Übergriff gerade wegen der eingesetzten Drohungen oder des erzeugten psychischen Drucks erfolgen konnte. Nützt der Täter bloss eine vorbestehende Abhängigkeit oder Notlage aus, scheiden die Tatbestände von Art. 189 und Art. 190 StGB aus (MAIER, a.a.O., Art. 189 StGB N. 20; ders., Das Tatbestandsmerkmal des Unter-psychischen-Druck-Setzens im Schweizerischen Strafgesetzbuch, ZStrR 117/1999 S. 409 f. und 418). Denkbar ist jedoch, dass in solchen Fällen der Tatbestand der Ausnützung einer Notlage nach Art. 193 StGB erfüllt ist. Im Übrigen verlangt die Rechtsprechung keinen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der nötigenden Handlung und dem sexuellen Übergriff (vgl. dazu BGE 126 IV 124 E. 3b).
3.3 Die SMS-Botschaften, die der Beschwerdegegner an die Adresse der Beschwerdeführerin versandte, enthielten unter anderem überaus schwere Drohungen gegen ihr nahestehende Personen. So wurde ihr für den Fall, dass sie die verlangten sexuellen Handlungen nicht vornehme, das Verschwinden ihrer 11-jährigen Tochter angedroht ("sonst passiert D. etwas, sie kommt weg"), das Betäubungsmittel-abhängig-Machen des offensichtlich suizidgefährdeten bzw. labilen Sohnes in Aussicht gestellt ("sonst kommt R. an die Nadel") sowie der Tod des ehemaligen Ehemannes angekündigt ("sonst fliegt er in die Luft"). Insofern geht es hier um Drohungen, die Gewalttätigkeiten gegen Sympathiepersonen der Beschwerdeführerin befürchten liessen. Angesichts ihrer gewaltdeliktischen Natur waren sie deshalb unzweifelhaft geeignet, bei der Beschwerdeführerin einen ausserordentlichen psychischen Druck zu erzeugen. Diesen Druck hat der Beschwerdegegner als Urheber der SMS-Mitteilungen nicht nur geschaffen, sondern geschickt aufrechterhalten, indem er als Vertrauensperson und angebliches Mit-Opfer anlässlich der im Anschluss an diese Botschaften erfolgten gemeinsamen Unterredungen die Aussichtslosigkeit und Bedrohlichkeit der Situation der Beschwerdeführerin gegenüber betonte und sie darin bestärkte, es müsse den Forderungen nachgegeben werden. Dass der Beschwerdegegner bei der Tatausführung auch eine List benutzte, so dass ihn die Beschwerdeführerin nicht als Verfasser der fraglichen SMS identifizieren konnte, ändert nichts daran, dass er zur Erreichung seines Ziels im Wesentlichen Nötigungsmittel einsetzte. So hat er ganz massive Drohungen ausgesprochen, um das Opfer gefügig zu machen. Dies ist ihm denn auch gelungen. Die Beschwerdeführerin liess sich, ohne das hinterhältige Doppelspiel durchschauen zu können, durch die in Aussicht gestellten Nachteile mit Gewalt für Leib und Leben ihrer nächsten Angehörigen derart einschüchtern und in die Enge treiben, dass sie keinen andern Ausweg sah, als sich dem Ansinnen des Beschwerdegegners zu beugen. Daraus erhellt, dass vorliegend nicht nur ein Irrtum ausgenützt, sondern vielmehr gezielt Zwang unter Androhung physischer Aggression ausgeübt wurde, um den erwarteten Widerstand des Opfers zu brechen.
Hat die Beschwerdeführerin aber aus Angst, die Drohungen würden wahrgemacht, unter dem Eindruck der Ausweglosigkeit der Situation kapituliert, kann ihr unter dem Titel zumutbarer Selbstschutzmassnahmen nicht vorgeworfen werden, sie hätte die Polizei aufsuchen, die verlangten sexuellen Handlungen - wie beim ersten Vorfall - nur vortäuschen, ihre Kinder an einen sicheren Ort bringen sowie den Telefonanschluss kündigen oder überwachen lassen können bzw. müssen. Diese Argumentation verkennt, dass eine Gegenwehr des Opfers nicht mehr zumutbar sein kann, wenn erhebliche Angriffe auf seine körperliche Integrität oder diejenige ihm nahestehender Drittpersonen drohen. Im Blick auf die Tragweite der konkret angedrohten Übel erscheint das Nachgeben der Beschwerdeführerin unter den gegebenen Umständen ohne weiteres als nachvollziehbar, zumal es für sie den einzig gangbaren Weg bildete, die befürchteten Gewaltakte von ihren Angehörigen abzuwenden. Hinzu kommt, dass der Beschwerdegegner die Beschwerdeführerin anlässlich der gemeinsamen Gespräche auf eine mögliche Eskalation der Situation hinwies, falls sie sich an die Polizei wendete, und er damit jeglichen Willen zur Gegenwehr von vornherein im Keim erstickte. Dass die nötigenden Handlungen und die sexuellen Übergriffe zeitlich nicht unmittelbar aufeinander folgten, vermag an dieser Beurteilung auch nichts zu ändern. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang vielmehr, dass die vom Beschwerdegegner insgesamt geschaffene und aufrechterhaltene Zwangslage derart nachhaltig wirkte, dass sie unvermindert über den Vollzug der verlangten sexuellen Handlungen hinaus andauerte. Dafür, dass sich die Beschwerdeführerin unmittelbar vor der Vornahme der sexuellen Handlungen doch noch aus freien Stücken damit einverstanden erklärt hätte, gibt es jedenfalls keinerlei Anhaltspunkte. Daraus ergibt sich, dass das inkriminierte Verhalten des Beschwerdegegners tatbestandsmässig im Sinne von Art. 189 und Art. 190 StGB ist. Der angefochtene Entscheid verletzt insofern Bundesrecht.