BGE 116 IV 211
 
40. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. Juli 1990 i.S. Z. gegen W. und Fondation W. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 173 und 32 StGB; üble Nachrede durch eine Prozesspartei.
2. Besonderheiten des Vermittlungsverfahrens (E. 4b).
 
Sachverhalt
W. und die Fondation W. klagten gegen Z. wegen verschiedener ehrverletzender Äusserungen, die dieser in einem Leserbrief und anlässlich zweier Vermittlungsverhandlungen gemacht hatte. Das Kantonsgericht St. Gallen sprach Z. mit Entscheid vom 21./30. Juni 1990 der wiederholten und fortgesetzten üblen Nachrede schuldig, büsste ihn mit Fr. 2'000.-- und ordnete eine Urteilspublikation an. Am 2. Februar 1990 wies das Kassationsgericht des Kantons St. Gallen eine dagegen erhobene kantonale Kassationsbeschwerde ab, soweit darauf eingetreten werden konnte.
Die vorliegende eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten richtet sich gegen das Urteil des Kantonsgerichts mit den Anträgen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Beschwerdeführer von Schuld und Strafe freizusprechen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden
 
Erwägungen:
Auch die Vorinstanz stellte zu dieser Frage zunächst fest, die Funktion einer Vermittlungsverhandlung bestehe darin, den Parteien eine umfassende Aussprache zu ermöglichen und eine Annäherung herbeizuführen. Sie vertrat dann aber die Ansicht, die für den Vermittlungsvorstand typische Verhandlungs- und Gesprächssituation vermöge Ehrverletzungen (und schon gar nicht gegen Dritte) jedoch nicht zu entschuldigen. Mit dem Bezirksgericht sei festzuhalten, dass die Wahrnehmung prozessualer Rechte grundsätzlich keinen rechtlichen Sonderstatus verschaffe.
a) aa) Das Bundesgericht stellte in BGE 98 IV 90 fest, wer in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht Behauptungen vor Gericht aufstelle, welche jemanden in seiner Ehre verletzen, bleibe dafür grundsätzlich nur dann straflos, wenn diese Behauptungen nicht einen der Straftatbestände der Art. 173 ff. StGB erfüllten; im Prozess von einer Partei aufgestellte ehrverletzende Behauptungen genössen mit anderen Worten nur dann Straffreiheit, wenn sich die Partei im Sinne von Art. 173 Ziff. 2 StGB zu exkulpieren vermöge. Das Bundesgericht erachtete es somit als ausreichend, der besonderen Situation der Prozesspartei im Rahmen des Gutglaubensbeweises Rechnung zu tragen, da bei einer anderen Betrachtungsweise die Ehre des Betroffenen im Prozess ihres strafrechtlichen Schutzes beraubt würde.
Diese Rechtsprechung ist auf Kritik gestossen. In der Literatur wird die Ansicht vertreten, der Anwalt und die Prozesspartei, die im Rahmen der ihnen obliegenden prozessualen Darlegungs- und Begründungspflicht Ausführungen machen, sollten sich auf die entsprechenden prozessualen Bestimmungen berufen dürfen (SCHULTZ, AT I S. 155; LIONEL FREI, Der Entlastungsbeweis bei übler Nachrede und Beschimpfung, Bern 1976, S. 89; VON BÜREN, SJZ 73/1977 S. 85 ff.; SCHUBARTH, Kommentar Art. 173 N 111; vgl. auch RIKLIN, ZStrR 100/1983 S. 54: Wahrnehmung berechtigter Interessen).
bb) Zu prüfen ist, ob an der in BGE 98 IV 88 E. 3 dargelegten Auffassung festgehalten werden kann. Dabei ist davon auszugehen, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichtes in anderem Zusammenhang anerkennt, dass über den Entlastungsbeweis von Art. 173 Ziff. 2 StGB hinaus besondere ausserstrafrechtliche Rechte und Pflichten einen Rechtfertigungsgrund begründen können. So ist der Richter oder Beamte, der in den Erwägungen eines Urteils oder einer Verfügung ehrverletzende Äusserungen macht, durch seine Pflicht zur Entscheidungsbegründung gedeckt, soweit er dabei nicht über das Notwendige hinausgeht oder wider besseres Wissen handelt (BGE 106 IV 179 ff.). Ebenso handelt der Zeuge aufgrund seiner Zeugnispflicht rechtmässig, wenn er aussagt, was er für wahr hält (BGE 80 IV 60). Auch kann sich ein Polizeimann auf seine Amtspflicht berufen, wenn er in Berichten ehrverletzende Äusserungen macht, sofern er nicht aufbauscht und sofern er Gerüchte als solche bezeichnet (BGE 76 IV 25). Wem in amtlicher Funktion eine Informationspflicht obliegt, der handelt rechtmässig, soweit die für die Öffentlichkeit bestimmten Äusserungen den gebotenen Sachbezug haben und mit der nötigen Zurückhaltung erfolgen (vgl. BGE 108 IV 94 ff.).
Im Lichte dieser Rechtsprechung ist nicht einzusehen, warum sich eine Prozesspartei zur Rechtfertigung einer objektiv ehrverletzenden Äusserung unter keinen Umständen auf Bestimmungen des jeweiligen Verfahrensrechtes (z.B. auf die ihr obliegende prozessuale Darlegungs- und Begründungspflicht) sollte berufen können. Aus der soeben zusammengefassten bundesgerichtlichen Rechtsprechung ergeben sich zunächst nur folgende generelle Schranken: Die Prozesspartei muss sich auf das für die Erläuterung ihres Standpunktes Notwendige beschränken; ihre Ausführungen müssen sachbezogen sein; Behauptungen dürfen nicht wider besseres Wissen aufgestellt und blosse Vermutungen müssen als solche bezeichnet werden. Innert dieser Grenzen können ehrverletzende Äusserungen im Rahmen einer prozessualen Auseinandersetzung prinzipiell durch Art. 32 StGB in Verbindung mit den Regeln des entsprechenden Verfahrensrechts gerechtfertigt sein. Wie weit die Straffreiheit im einzelnen geht, hängt neben den angeführten Schranken auch von der konkreten Ausgestaltung des Prozessrechts ab (s. dazu unten lit. b).
Soweit BGE 109 IV 42 lit. f eine andere Auffassung vertritt, kann daran nicht festgehalten werden. Das Bundesgericht verwies in diesem Entscheid unter Berufung auf frühere Urteile auf die Teilrevision des StGB vom 5. Oktober 1950. Diese wurde (u.a.) nötig, weil das alte Recht als Entlastungsbeweis nur den Wahrheitsbeweis gekannt hatte. Seit der Revision kann der Beschuldigte sich der Strafe nun nicht mehr bloss durch den Wahrheitsbeweis entziehen, sondern auch durch den Gutglaubensbeweis (BGE 78 IV 33; vgl. Botschaft des Bundesrates in BBl 1949 I S. 1266-1270). Daraus schloss das Bundesgericht in mehreren Entscheiden (BGE 82 IV 10, BGE 80 IV 111, BGE 78 IV 33), die Wahrung berechtigter Interessen könne nun entgegen der älteren Rechtsprechung (z.B. BGE 71 IV 189) seit der Gesetzesrevision nicht mehr als übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund anerkannt werden, sondern falle nur noch als Voraussetzung für die Zulassung zum Entlastungsbeweis in Betracht. Diese Rechtsprechung muss heute nicht weiter geprüft werden, da sich nicht die Frage stellt, ob sich der Beschwerdeführer auf den aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen berufen kann, sondern ob ihm die Berufung auf den im StGB verankerten Rechtfertigungsgrund der gesetzlichen Pflicht gemäss Art. 32 StGB offensteht. Dieselbe Unterscheidung der Rechtfertigungsgründe trifft VON WERRA (Bulletin des Schweizerischen Anwaltsverbandes, Nr. 70 1980, S. 7), während sie in BGE 109 IV 42 lit. f nicht auseinandergehalten werden. Warum der gesetzliche Rechtfertigungsgrund des Art. 32 StGB auf Ehrverletzungsdelikte grundsätzlich nicht anwendbar sein sollte, ist nicht einzusehen. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der obenerwähnten Botschaft des Bundesrates (a.a.O.). SCHULTZ weist demgegenüber zu Recht darauf hin, Art. 173 Ziff. 2 StGB wolle die Verteidigungsmöglichkeiten nicht beschränken, sondern, im Gegenteil, erweitern (ZBJV 109/1973, S. 409).
cc) Nach dem Gesagten steht zunächst fest, dass die Annahme, die Wahrnehmung prozessualer Pflichten vermöge Ehrverletzungen grundsätzlich in keinem Fall zu rechtfertigen, ohne dass das entsprechende Verfahrensrecht geprüft werden müsste, gegen Art. 32 StGB verstösst.
b) Im vorliegenden Fall geht es um Äusserungen in zwei Vermittlungsverfahren in Ehrverletzungssachen. Es stellt sich demnach die Frage nach der Ausgestaltung dieses Sühneverfahrens.
aa) Diese Frage lässt sich nicht losgelöst von der Funktion des Sühneverfahrens beantworten, welche darin besteht, gegebenenfalls durch Vermittlung des Friedensrichters resp. Sühnebeamten den eigentlichen Hauptprozess zu vermeiden. Der Friedensrichter kann dieser Aufgabe nur nachkommen, wenn sich die Prozessparteien in der Sühneverhandlung möglichst frei über den Streitgegenstand aussprechen können. Dazu gehört aber offensichtlich gegebenenfalls auch, dass sie Äusserungen machen dürfen, die objektiv ehrverletzend sind, und zwar unter Umständen auch in bezug auf Drittpersonen. Dies muss jedenfalls insoweit gelten, als die Äusserungen in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Streitgegenstand und der Sühneverhandlung stehen, sie notwendig sind und nicht wider besseres Wissen erfolgen sowie Vermutungen als solche bezeichnet werden (s. oben E. 4a/bb).
Im übrigen soll der Friedensrichter eine Partei, die sich anlässlich der Sühneverhandlung ungebührlich äussert, in die Schranken weisen, und er soll die ihm zu Gebote stehenden Ordnungsmittel, wie z.B. die Ordnungsbusse, androhen und nötigenfalls davon Gebrauch machen. Da Sühneverhandlungen jedenfalls in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit und nur mit einem beschränkten Personenkreis, nämlich dem Friedensrichter und den Parteien, gegebenenfalls mit deren Vertretern, stattfinden, reichen die dem Friedensrichter offenstehenden Sanktionen in aller Regel aus, um die Ehre des Betroffenen zu schützen. Auch insoweit kann an BGE 98 IV 88 E. 3 nicht festgehalten werden.
bb) Die einleitend genannte Funktion der Sühneverhandlung hat ihren Niederschlag im konkreten Gesetzesrecht gefunden. Art. 270 Abs. 1 des St. Gallischen Gesetzes über die Strafrechtspflege vom 9. August 1954, der unter anderem das Verfahren in Ehrverletzungssachen betrifft, spricht ausdrücklich vom "Versöhnungsversuch" vor dem Vermittler (s. auch § 309 Abs. 2 der Zürcher Strafprozessordnung: "Der Friedensrichter trachtet danach, die Parteien auszusöhnen"; vgl. überdies FRANK, Gedanken zum zürcherischen Ehrverletzungsprozess, SJZ 59/1963 S. 66). Es liegt auf der Hand, dass eine Aussöhnung nur in einer freien Gesprächsatmosphäre möglich ist. Um die nötige Offenheit der Parteien zu erreichen, bestimmt das St. Gallische Recht für das Sühneverfahren in Ehrverletzungssachen,
- dass die Öffentlichkeit vor dem Vermittler ausgeschlossen ist (Art. 60 Gerichtsgesetz/SG);
- dass die einzelnen Wortmeldungen der Parteien im Vermittlungsvorstand nicht protokolliert werden (Art. 272 StPO/SG e contrario; vgl. auch SCHNYDER, Der Friedensrichter im Schweizerischen Zivilprozessrecht, Diss. Zürich 1985 S. 161);
- dass die bei den Verhandlungen vor Vermittleramt gemachten mündlichen Zugaben für das nachherige Prozessverfahren ausser Betracht fallen (Art. 203 ZPO/SG; vgl. hiezu GUBSER, Begründung und Ausbau des Vermittleramtes (Friedensrichteramtes) im Kanton St. Gallen, Diss. Zürich 1939 S. 133; VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechtes, 2. A. S. 237; WIELAND, Der Bündnerische Ehrverletzungsprozess, Diss. Freiburg, i.Ü. 1968 S. 49; zur Anwendbarkeit der Bestimmungen der ZPO/SG über das Sühneverfahren auf jenes in Ehrverletzungsprozessen OBERHOLZER, Grundzüge des St. Gallischen Strafprozessrechts, S. 270 und 276/77), und
- dass der Vermittler über die beim Vermittlungsvorstand gemachten mündlichen Zugeständnisse nicht als Zeuge einvernommen werden darf, soweit die Parteien sich nicht damit einverstanden erklären (Art. 279 Abs. 2 StPO/SG; vgl. VOGEL, a.a.O. mit Hinweis auf die analoge Bestimmung in Art. 238 Ziff. 6 ZPO/SG).
Schliesslich ist im Kanton St. Gallen auch ausdrücklich vorgesehen, dass der Vermittler von seinen sitzungspolizeilichen Befugnissen Gebrauch machen kann (vgl. Art. 68 und 69 Gerichtsgesetz/SG), falls sich die Parteien im Sühneverfahren allzu "temperamentvoll" gebärden sollten (SCHNYDER, a.a.O. S. 161/2).
cc) Die Vorinstanz nahm ohne weiteres an, die Wahrnehmung prozessualer Rechte vermöge Ehrverletzungen grundsätzlich in keinem Fall zu rechtfertigen, ohne dass sie die Funktion und die gesetzliche Ausgestaltung des Vermittlungsverfahrens in Ehrverletzungsangelegenheiten geprüft hätte. Damit verkannte sie, dass ehrverletzende Äusserungen an einer Sühneverhandlung unter Umständen und innert der in E. 4a/bb abgesteckten Grenzen prinzipiell durch Art. 32 StGB in Verbindung mit den Regelungen des entsprechenden Verfahrensrechts gerechtfertigt sein können. Mit dieser Betrachtungsweise hat sie gegen Art. 32 StGB verstossen. Wie oben bereits festgestellt, hängt es von der konkreten Ausgestaltung des kantonalen Prozessrechts ab, wie weit die Straffreiheit im einzelnen geht. Die Vorinstanz wird diese Frage über die vorliegend im Sinne genereller Hinweise gemachten Erwägungen hinaus zu prüfen haben. Ihr Leitgedanke wird dabei sein müssen, dass das Sühneverfahren eine Aussöhnung der Parteien herbeiführen soll und dass die sitzungspolizeilichen Befugnisse des Vermittlers für den Schutz der Ehre des Betroffenen in der Regel jedenfalls dann ausreichen, wenn sich die Partei bei ihren Äusserungen an die oben in E. 4a/bb erwähnten Grenzen hält. In diesem Punkt ist die Nichtigkeitsbeschwerde gutzuheissen.