BGE 105 IV 60
 
15. Urteil des Kassationshofes vom 2. März 1979 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 51 Abs. 2 und 3 SVG/Art. 56 Abs. 1 und 2 VRV.
2. Voraussetzungen, unter denen die Pflicht, die Unfallendlage zu markieren, auch bei einem Unfall nur mit Sachschaden entstehen kann (E. 2b).
 
Sachverhalt
A.- Am 4. November 1977, um ca. 12.05 Uhr, kam es in D. bei der Einmündung einer Nebenstrasse in die Hauptstrasse zu einer Kollision zwischen den Personenwagen von B. und P., wobei an beiden Fahrzeugen ein Sachschaden entstand. Personen wurden nicht verletzt.
Die beiden Unfallbeteiligten stellten ihre Automobile wegen des Mittagsverkehrs auf der Hauptstrasse zur Seite, ohne die Unfallendlage angezeichnet zu haben.
B.- Mit Strafbefehl vom 19. Dezember 1977 verurteilte das Bezirksamt Zurzach beide Fahrzeugführer in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG wegen Verstosses gegen Art. 56 Abs. 1 VRV zu einer Busse von je Fr. 50.-.
Auf Einsprache von B. sprach das Bezirksgericht Zurzach diesen am 23. Mai 1978 von Schuld und Strafe frei.
C.- In Gutheissung einer Berufung der Staatsanwaltschaft auferlegte die 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Aargau B. am 26. Oktober 1978 wegen Verletzung von Art. 56 Abs. 1 VRV in Verbindung mit Art. 92 Abs. 1 SVG eine Busse von Fr. 50.-.
D.- Mit rechtzeitiger Nichtigkeitsbeschwerde ans Bundesgericht beantragt B., das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei kostenfällig zum Freispruch an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft beantragt Abweisung der Beschwerde.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Der Beschwerdeführer hält dem entgegen, Art. 56 Abs. 1 VRV sei in Zusammenhang mit Art. 55 VRV zu sehen. Die Pflicht, die Unfallendlage zu belassen, resp. die Endlage vor einer allfällig notwendigen Veränderung zu markieren, bestehe nur bei Unfällen mit Personenschaden. Das ergebe sich auch aus einer Gegenüberstellung der Absätze 1 und 2 von Art. 56 VRV. Abs. 2 regle die Fälle, bei denen "keine Meldepflicht" bestehe, während sich Abs. 1 demnach ausschliesslich auf Fälle mit Meldepflicht beziehe.
2. a) Für die Beantwortung der Frage, ob Art. 56 Abs. 1 VRV auch bei Unfällen, die lediglich einen Sachschaden zur Folge hatten, Anwendung finde oder nicht, ist von Art. 51 SVG auszugehen. Dieser Artikel verpflichtet in Abs. 2 die an dem Unfall Beteiligten, im Falle der Verletzung von Personen die Polizei zu benachrichtigen (vgl. aber die Einschränkung in Art. 55 Abs. 2 VRV) und dieser bei der Feststellung des Tatbestandes zu helfen. Gemäss Abs. 3 hat der Schädiger, sofern nur ein Sachschaden entstanden ist, sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und ihm Namen und Adresse anzugeben. Wenn dies nicht möglich ist, hat er unverzüglich die Polizei zu verständigen. Die Meldung an die Polizei erfolgt jedoch erst in zweiter Linie. Sie ist nur notwendig, wenn der Schädiger den Geschädigten nicht erreichen kann (BGE 91 IV 23).
Das SVG geht somit davon aus, dass bei einem Unfall mit Personenschaden grundsätzlich die Polizei zu verständigen ist, während bei einem Unfall mit Sachschaden eine Benachrichtigung der Polizei durch den Schädiger nicht als nötig erachtet wird, sofern der Geschädigte erreicht werden kann.
Eine Auslegung von Art. 56 VRV unter Berücksichtigung dieser im Strassenverkehrsgesetz statuierten Grundsätze führt zum Schluss, dass Art. 56 Abs. 2 VRV, der von einem Beizug der Polizei spricht, obwohl keine Meldepflicht besteht, sich hauptsächlich auf die in Art. 51 Abs. 3 SVG erwähnten Unfälle mit Sachschaden bezieht, die dem Grundsatze nach keine Benachrichtigung der Polizei nötig machen (vgl. aber auch Art. 55 Abs. 2 VRV). Art. 56 Abs. 1 VRV, der eine Veränderung der Unfallstelle bis zum Eintreffen der Polizei nur zum Schutz von Verletzten oder zur Sicherung des Verkehrs gestattet, nimmt dagegen offensichtlich auf einen Unfall mit Personenschaden und auf die damit verbundene Verpflichtung, die Polizei zu benachrichtigen, Bezug. Die Verpflichtung, die Unfallendlage zu belassen oder sie vor einer Veränderung zum Schutz von Verletzten oder zur Sicherung des Verkehrs zu markieren, besteht somit aufgrund von Art. 56 Abs. 1 VRV nur für Unfälle mit Personenschaden, die von Gesetzes wegen eine Benachrichtigung der Polizei erfordern. Diese Auslegung entspricht sowohl der Systematik von Art. 51 Abs. 2 und 3 SVG wie den praktischen Gegebenheiten. Würden sich nämlich die in Art. 56 Abs. 1 VRV statuierten Pflichten allgemein auch auf Unfälle ohne Meldepflicht beziehen, würde die Strafbarkeit von Unfallbeteiligten, welche die Unfallendlage ohne Markierung verändern, weil sie der Meinung sind, sie könnten sich ohne Beizug der Polizei über die Schadenstragung einigen, davon abhängen, dass nicht einer von ihnen nachträglich doch noch auf einer Benachrichtigung der Polizei besteht. Andrerseits würde es zu weit führen, beispielsweise einen Schädiger, der im Fall eines Parkschadens den Geschädigten nicht erreichen kann und deshalb die Polizei benachrichtigen muss, zu verpflichten, die Unfallendlage bis zum Eintreffen der Polizei nicht zu verändern. Zu diesem Schluss führt insbesondere auch die Tatsache, dass es in einem solchen Fall dem Ermessen der Polizei überlassen bleibt, ob sie sofortige Erhebungen an Ort und Stelle durchführen oder andere Anordnungen treffen will (vgl. BGE 91 IV 23).
b) Indessen ist nicht zu übersehen, dass die Pflicht, die Unfallstelle vor einer allfällig notwendigen Veränderung zu markieren, auch bei einem Unfall ohne obligatorische Meldung an die Polizei entstehen kann. Wo ein Geschädigter von Anfang an auf einer Nichtveränderung der Unfallstelle und auf einem Beizug der Polizei besteht, ist der andere zu solchem Verhalten im Rahmen der in Art. 56 Abs. 2 VRV vorgeschriebenen Mitwirkung bei der Feststellung des Sachverhaltes verpflichtet. Die als sicher erscheinende amtliche Tatbestandsaufnahme darf in diesem Fall nicht dadurch erschwert werden, dass ein Unfallbeteiligter die Unfallendlage ohne Markierung verändert. Geschieht das trotzdem, so verletzt der Betreffende dadurch seine Mitwirkungspflicht, und er macht sich gemäss Art. 96 VRV strafbar. Zu betonen bleibt, dass auch der Geschädigte selbst gegen die Pflicht, bei der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken, verstossen kann. Wenn er in Art. 56 Abs. 2 VRV nicht ausdrücklich als Person erwähnt wird, die bei der Sachverhaltsaufnahme mitzuhelfen habe, so offensichtlich deshalb, weil das Gesetz von der Annahme ausgeht, er habe selbst ein Interesse daran, bei der Feststellung des Sachverhaltes teilzunehmen, und es sei deshalb nicht notwendig, ihn ausdrücklich zu erwähnen.
Die Nichtmarkierung der Unfallendlage bedeutet indessen dann keinen Verstoss gegen die Mitwirkungspflicht und eine Bestrafung fällt ausser Betracht, wenn die Unfallbeteiligten nach der Kollision angehalten haben und nach einer ersten Besichtigung der Unfallfolgen übereinkommen, die Fahrzeuge von der Strasse wegzustellen, um sich anschliessend ohne Beizug der Polizei über die Schadenstragung zu einigen. Kommt eine Einigung nicht zustande will einer der Beteiligten dann doch die Polizei beiziehen, so entfällt eine Bestrafung wegen Nichtmarkierung der Unfallendlage, weil beide Beteiligten in gegenseitigem Einverständnis eine Verschlechterung der Beweislage in Kauf genommen haben. Sie genügen in diesem Fall ihren Mitwirkungspflichten, wenn sie nach Erscheinen der Polizei auf dem Unfallplatz so weit zur wahrheitsgetreuen Rekonstruierung des Unfallgeschehens beitragen, als ihnen das möglich und zumutbar ist.
3. Im vorliegenden Fall wurde von der Vorinstanz für den Kassationshofverbindlich festgestellt (Art. 277bis Abs. 1 BStP), dass es bei der Kollision zwischen den Fahrzeugen von B. und P. lediglich zu Sachschaden kam. B. konnte sich deshalb durch die Nichtmarkierung der Unfallendlage keiner Verletzung von Art. 56 Abs. 1 VRV schuldig machen. Fest steht im weitern, dass weder er noch P. auf einer Nichtveränderung der Unfallstelle bestanden und dass er erst an einen Beizug der Polizei dachte, nachdem sie beide ihre Fahrzeuge am Strassenrand parkiert hatten. B. verletzte deshalb durch die Nichtmarkierung der Unfallendlage auch Art. 56 Abs. 2 VRV nicht. Dass er aber auf andere Weise gegen seine Pflicht, bei der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken, verstossen hätte, wird nicht behauptet. Seine Nichtigkeitsbeschwerde ist deshalb gutzuheissen, und die Sache ist zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts - 2. Strafkammer - des Kantons Aargau vom 26. Oktober 1978 aufgehoben und die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückgewiesen.