BGE 103 IV 90
 
25. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. April 1977 i.S. E. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau
 
Regeste
Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 2 StGB.
Begriff der Pflegekindschaft.
Täter lebt im Konkubinat mit der Mutter des Kindes.
 
Aus den Erwägungen:
3. Wie das Bundesgericht wiederholt entschieden hat, ist zur Annahme einer Pflegekindschaft im Sinne des Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 2 StGB nicht nötig, dass es sich um ein Verhältnis handle, in dem der Besorger am Kinde dauernd Vater- oder Mutterstelle vertritt. Gegen eine solche Einengung des Begriffs spricht schon die Einbeziehung der Schüler, Zöglinge, Lehrlinge und Dienstboten in den Kreis der besonders geschützten Kinder. Wie das Dienstbotenverhältnis wird auch die Pflegekindschaft im Sinne der genannten Bestimmung vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass das Kind dem Täter im Einverständnis mit dem Inhaber der elterlichen Gewalt in einer Weise zur Betreuung anvertraut ist, dass auf der einen Seite eine besondere Autorität, auf der anderen eine entsprechende Abhängigkeit begründet wird. Dass dem Täter die Hausgewalt über das Kind im Sinne des Art. 331 ZGB zustehe. ist nicht erforderlich; es muss nur die Beziehung zwischen Täter und Kind im Rahmen jenes Autoritäts- bzw. Abhängigkeitsverhältnisses eine zureichend unmittelbare sein (BGE 99 IV 265 f. mit Verweisungen).
Die Vorinstanz stellt fest, der Beschwerdeführer sei der Partner der Mutter des Kindes gewesen, mit der er in wilder Ehe gelebt habe; eine Legalisierung der Beziehung hätte ihn zum Stiefvater des Kindes gemacht. Er sei in der Wohnung P. als Hausherr aufgetreten, sei dort nach Belieben ein- und ausgegangen, habe bei der Einrichtung der Wohnung mitgeholfen und, während seine Freundin auswärts der Arbeit nachging, die Hausgeschäfte besorgt und sich des Knaben angenommen; die Mutter sei froh gewesen, dass der Beschwerdeführer auf das Kind aufgepasst habe. Das Kind habe anfänglich im Doppelbett der Erwachsenen geschlafen; nach einiger Zeit habe ihm E. ein eigenes Zimmer eingerichtet. Der Knabe habe den Beschwerdeführer als Autoritätsperson kennengelernt. Er sei auch wiederholt Zeuge gewesen, wie der Mann seine Mutter geschlagen habe. Das Kind habe seinerseits gefürchtet, von ihm in ein Heim eingewiesen zu werden, und habe es nicht gewagt, sich seinen Anordnungen zu widersetzen. Es habe versucht, sich den Zumutungen des Beschwerdeführers zu entziehen, sei aber gegen diesen nicht aufgekommen. Als E. vor der letzten Tat den Knaben telefonisch von Wittenbach nach Arbon beordert habe, habe dieser dem Ruf Folge geleistet. Noch mehrere Wochen nach der Tat habe das Kind sich nicht getraut, der Mutter im Beisein des Täters vom Vorgefallenen zu erzählen.
Diese Feststellungen sind tatsächlicher Natur und binden den Kassationshof; sie können mit der Nichtigkeitsbeschwerde nicht angefochten werden (Art. 273 Abs. 1 Bst. b, 277bis Abs. 1 BStP). Der Beschwerdeführer ist deshalb nicht zu hören, wenn er behauptet, er sei in der Wohnung P. bloss der Gast, der Geduldete gewesen und nicht als Hausherr ein- und ausgegangen. Nach dem verbindlich festgestellten Sachverhalt bestand zwischen dem Beschwerdeführer und dem Opfer das vom Gesetz geforderte besondere Autoritäts- bzw. Abhängigkeitsverhältnis, zumal der Beschwerdeführer faktisch der Stiefvater des Kindes war. Ferner war während der Zeiten, da der Knabe bei seiner Mutter und dem Beschwerdeführer wohnte, die Beziehung zu diesem eine hinreichend unmittelbare. Während die Mutter des Kindes auswärts der Arbeit nachging, stand es unter der alleinigen Aufsicht des Beschwerdeführers, der sich - nach der Rollenverteilung mit seiner Freundin - im Hause aufhielt, die Hausgeschäfte besorgte und dabei auch das noch nicht 10 Jahre alte Kind betreute. Da E. sich als Hausherr benahm und seine Überlegenheit im Hause vor den Augen des Kindes auch durch Tätlichkeiten gegenüber dessen Mutter bekundet hatte, musste sich bei diesem unwillkürlich das Gefühl einer starken Abhängigkeit, wenn nicht sogar des Ausgeliefertseins an den Mann einstellen. Faktisch unterstand der Knabe denn auch der Hausgewalt des E., dessen Anordnungen er sich nicht zu widersetzen getraute. Daran ändert nichts, dass anlässlich des letzten Vorfalls (Weihnachten) die Mutter sich ebenfalls im Hause, nämlich in der Küche befunden haben soll. Ihre Anwesenheit in einem andern Raum gebot dem Beschwerdeführer höchstens eine gewisse Vorsicht, beeinträchtigte aber seine Stellung gegenüber dem Kinde nach den von diesem bereits gemachten Erfahrungen nicht.