BGE 89 IV 123
 
24. Urteil des Kassationshofes vom 10. Mai 1963 i.S. H. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen.
 
Regeste
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 und 2 StGB.
 
Sachverhalt
A.- Das Bezirksgericht Untertoggenburg verurteilte am 12. Juli 1956 H. wegen wiederholter Unzucht mit Kindern, wiederholter Verleitung von Kindern zu unzüchtigen Handlungen und wiederholter widernatürlicher Unzucht zu einer bedingt vollziehbaren Strafe von einem Jahr Gefängnis. Die Probezeit wurde auf fünf Jahre festgesetzt und der Verurteilte verpflichtet, sich in der Psychiatrischen Poliklinik in Zürich ungesäumt und so lange behandeln zu lassen, als der behandelnde Arzt es für notwendig erachtete, ferner dem Gericht nach Abschluss der Behandlung, spätestens aber nach einem Jahr Bericht zu erstatten.
Die Psychiatrische Poliklinik in Zürich, welche die angeordnete Behandlung offenbar nicht selber durchführen wollte, wies den Verurteilten an die Heil- und Pflegeanstalt Wil, wo sie ihn auch anmeldete. Statt sich in dieser Anstalt zu stellen, begab er sich anfangs 1957 zweimal zum Nervenarzt Dr. Bachmann in St. Gallen. Dieser leitete die Behandlung ein. Sie konnte indes nicht fortgesetzt werden, weil H. nicht mehr erschien, auch nicht, als ihn Dr. Bachmann durch Schreiben vom 26. Juni 1957 an die Weisung des Richters erinnerte.
Am 25. Oktober 1962 verlängerte das Bezirksgericht die Probezeit wegen Missachtung der Weisung gestützt auf Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB um ein Jahr, mit der neuerlichen Weisung an den Verurteilten, sich ungesäumt psychiatrisch behandeln zu lassen.
B.- Gegen dieses Urteil erhob H. bei der Rekurskommission des Kantonsgerichts von St. Gallen Rechtsverweigerungs- und beim Kassationshof des Bundesgerichts Nichtigkeitsbeschwerde, beide mit dem Antrag, das Urteil mangels richterlicher Mahnung des Verurteilten aufzuheben und die Sache zur Löschung des Urteils vom 12. Juli 1956 im Strafregister an das Bezirksgericht zurückzuweisen.
Die Rekurskommission des Kantonsgerichts trat mit Beschluss vom 24. Januar 1963 auf die Rechtsverweigerungsbeschwerde nicht ein, da gegen das angefochtene Urteil die Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig sei. Der Beschluss wurde dem Bundesgericht am 18. März 1963 eingesandt.
C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde gutzuheissen.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Die Ersatzmassnahmen sind durch die Revision von 1950 eingeführt worden, um Härten zu vermeiden, welche sich aus der früheren Regelung bei Begehung von vorsätzlichen Verbrechen oder Vergehen während der Probezeit ergeben hatten. Blosse Bagatellfälle vorsätzlicher Vergehen, z.B. eine in der Aufregung begangene Beschimpfung, sollten nicht mehr zwingend den Vollzug der Strafe zur Folge haben (BGE 78 IV 10 und dort angeführte Gesetzesmaterialien; s. ferner Botschaft des Bundesrates, BBl 1949 I 1280unter Ziff. 2). Nach der Entstehungsgeschichte würde sich somit Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB nur auf den Widerrufsgrund der vorsätzlichen Verbrechen und Vergehen beziehen. Allein die Bestimmung ist im Gesetze nicht an diesen Widerrufsgrund angeschlossen, sondern findet sich in einem besondern, dem Abs. 1 folgenden Absatze, wo allgemein, ohne Beschränkung auf vorsätzliche Verbrechen und Vergehen, von besonders leichten Fällen die Rede ist. Auch sachlich bestehen keine Gründe für die genannte Beschränkung. Wenn Ersatzmassnahmen angeordnet werden können bei besonders leichten Fällen von Verbrechen und Vergehen, so ist nicht einzusehen, warum sie nicht auch bei besonders leichten Fällen der Nichtunterziehung unter die Schutzaufsicht und allgemein bei der Täuschung des Vertrauens zulässig sein sollten. Das Bedürfnis, anstelle des nicht möglichen Strafvollzuges Ersatzmassnahmen anzuordnen, kann hier ebenso gross sein. Der Kassationshof ist denn auch schon bisher davon ausgegangen, dass Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB bei der Täuschung des Vertrauens nach der Generalklausel anwendbar sei, wenn die Täuschung in einer Übertretung oder einem fahrlässig begangenen Vergehen besteht (BGE 86 IV 7 /8 und 89). Auf den Grund der Täuschung, ob Übertretung, fahrlässiges Vergehen, Missachtung einer Weisung oder sonstiges verwerfliches Verhalten, kann es nicht ankommen. Massgebend ist allein, ob der Verurteilte das richterliche Vertrauen in einer Weise getäuscht hat, die zwar nicht schon den Vollzug der Strafe, wohl aber eine Warnung, die Auferlegung weiterer Bedingungen oder die Verlängerung der Probezeit rechtfertigt.
Die Staatsanwaltschaft stellt sich mit dem Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass das Fehlen der Mahnung Ersatzmassnahmen nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB ausschliesse. In bezug auf die Warnung und die Auferlegung weiterer Bedingungen trifft das schon deshalb nicht zu, weil es hiezu vernünftigerweise keiner Mahnung bedarf. Abgesehen hievon ist festzuhalten, dass die Generalklausel auch bei fehlender Mahnung anwendbar ist, sei die Täuschung erheblich oder nicht. Erforderlich ist nur, dass sich der Verurteilte auch ohne Mahnung der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens bewusst sein musste (BGE 75 IV 158). Ob das zutrifft, hängt von den Umständen des einzelnen Falles ab. Es sind leicht Fälle denkbar, wo das nicht anzunehmen ist, so namentlich, wenn im Verlaufe der Probezeit Umstände eingetreten sind, denen zufolge der Verurteilte glauben konnte, nicht mehr an die Weisung gebunden zu sein. Wo es sich aber nicht so verhält, das genannte Bewusstsein vielmehr auch ohne Mahnung vorhanden sein musste, liegt keine Umgehung der Mahnung vor, wenn bei ernstlicher Täuschung des Vertrauens der Vollzug der Strafe, bei leichter Täuschung eine Ersatzmassnahme angeordnet wird. Die Anwendung der Generalklausel drängt sich dann umsomehr auf, als das Mahnerfordernis seit der Einführung der Ersatzmassnahmen seine ursprüngliche Bedeutung eingebüsst hat und sachlich kaum mehr gerechtfertigt erscheint.
Im vorliegenden Falle musste der Beschwerdeführer sich jedenfalls in der zweiten Hälfte der Probezeit nicht mehr bewusst sein, der Weisung des Richters zuwiderzuhandeln. Nachdem er so lange unbehelligt geblieben, insbesondere nach Ablauf der einjährigen Frist, innert welcher er dem Gericht über die Behandlung hätte Bericht erstatten sollen, nicht gemahnt worden war, ist verständlich, wenn sein Bewusstsein, sich einer ärztlichen Behandlung unterziehen und darüber Bericht erstatten zu müssen, immer schwächer wurde und er sich schliesslich nach Jahren dieser Verpflichtung enthoben glaubte. Hinzu kommt, dass er sich seit seiner Verurteilung im Jahre 1956, also während nahezu sieben Jahren, keine neuen Sexualdelikte mehr zuschulden kommen liess. Wegen der blossen Nichtbefolgung der Weisung kann der Richter somit nicht enttäuscht sein, denn die psychiatrische Behandlung sollte nur dazu beitragen, dass der Verurteilte seine krankhafte Neigung überwinde, und der Bericht sollte dem Gericht bloss sagen, ob etwas weiteres vorzukehren sei. Der Beschwerdeführer vermochte seine Neigung auch ohne ärztliche Behandlung zu meistern. Er steht deshalb vor dem Gesetz als gebessert da, und die Weisung, die angeordnet wurde, um den Zweck des bedingten Strafvollzuges zu erreichen, hat keinen Sinn mehr. Bei diesem Ergebnis ist das Urteil des Bezirksgerichtes vom 12. Juli 1956 im Strafregister zu löschen (Art. 41 Ziff. 4 StGB).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Bezirksgerichtes Untertoggenburg vom 25. Oktober 1962 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie ihr Urteil vom 12. Juli 1956 im Strafregister löschen lasse.