BGE 85 IV 30
 
9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 25. März 1959 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen R.
 
Regeste
Art. 307 StGB.
 
Sachverhalt
A.- In einem beim Bezirksgericht Zürich hängigen Vaterschaftsprozess wurde R. als Zeugin zur Sache befragt, nachdem sie einleitend zur Wahrheit ermahnt und auf die Folgen eines falschen Zeugnisses hingewiesen worden war. Trotzdem der Richter im Verlaufe der Einvernahme die Ermahnung wiederholte, machte die Zeugin falsche Angaben und behauptete, als ihre Aussagen vorgelesen wurden, die Wahrheit gesagt zu haben. Die Befragung wurde daraufhin fortgesetzt, und auf erneute, eindringliche Vorhalte berichtigte R. schliesslich ihre unwahren Angaben. Sodann wurde ihr nochmals das Protokoll verlesen, dessen Inhalt sie als zutreffend bestätigte.
B.- Am 17. November 1958 verurteilte das Obergericht des Kantons Zürich R. wegen unvollendeten Versuches des falschen Zeugnisses zu einer bedingt aufgeschobenen Freiheitsstrafe von drei Monaten Gefängnis.
C.- R. und die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führen Nichtigkeitsbeschwerde. Die erstere beantragt, das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und sie sei freizusprechen. Die Staatsanwaltschaft verlangt demgegenüber, es sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Verurteilte wegen vollendeten falschen Zeugnisses bestrafe.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hätte die Vorinstanz die Beschwerdegegnerin nicht bloss wegen unvollendeten Versuchs des falschen Zeugnisses, sondern wegen des vollendeten Deliktes bestrafen müssen. Die Befolgung der nach kantonalem Recht bei der Zeugeneinvernahme zu beobachtenden Formvorschriften sei gemäss BGE 71 IV 43 Voraussetzung für die Gültigkeit des Zeugnisses. Würden sie nicht eingehalten, so liege kein gültiges Zeugnis und infolgedessen auch kein falsches Zeugnis im Sinne von Art. 307 StBG vor. Die Beobachtung der kantonalen Verfahrensbestimmungen sei somit objektive Strafbarkeitsbedingung, mit deren Eintritt jede einzelne zuvor gemachte falsche Aussage zum vollendeten falschen Zeugnis werde. Das tatbeständliche Verhalten der Beschwerdegegnerin sei infolgedessen damit abgeschlossen gewesen, dass sie im Bewusstsein ihrer Zeugenqualität und der Unwahrheit ihrer Angabe wenigstens einen falschen Satz vollständig ausgesprochen habe, und die Strafbarkeit dieser einzelnen falschen Aussage sei mit der Erfüllung der kantonalen Formvorschriften eingetreten, unbekümmert um den im Verlaufe der Einvernahme erfolgten Widerruf.
Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Zwar hat die Betrachtungsweise der Staatsanwaltschaft, soweit sie die Beobachtung der kantonalen Prozessvorschriften als objektive Strafbarkeitsbedingung versteht, gute Gründe für sich. Indessen kann die Frage, ob die Gültigkeit des Zeugnisses Strafbarkeitsbedingung oder Tatbestandsmerkmal sei, offen bleiben. Denn selbst wenn man der Staatsanwaltschaft in diesem Punkte beistimmen wollte, wäre ihre Beschwerde deswegen unbegründet, weil die weitere Folgerung, dass der Tatbestand schon vollendet sei, sobald der Zeuge einen "einzelnen falschen Satz" ausgesprochen habe, nicht schlüssig ist. Vollendet ist das Zeugnis erst mit dem Abschluss der Einvernahme (so auch die deutsche und die österreichische Rechtsprechung, vgl. Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 4'174; 8'306; Entscheidungen des österr. Obersten Gerichtshofes in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten, XVI, Nr. 43 und 79). Die Frage, ob ein falsches Zeugnis vorliege, ist daher nach der Gesamtheit der vom Zeugen bis zum Abschluss seiner Vernehmung gemachten Angaben, also nach dem schliesslichen Ergebnis der Aussagen zu beurteilen. Denn prozessrechtlich wird die Einvernahme eines Zeugen allgemein als eine Einheit behandelt. So betrachtet, versteht sich von selbst, dass über einen im Verlaufe derselben Vernehmung erfolgten Widerruf einer falschen Aussage nicht hinweggeschritten und der unwahre "aussagende Satz" unbekümmert um seine Berichtigung zum Anlass einer Strafverfolgung wegen vollendeten falschen Zeugnisses gemacht werden kann. Eine solche Auslegung des Gesetzes würde zu stossenden Ergebnissen führen und wäre der Erforschung der Wahrheit als eines der vordringlichsten Ziele der Rechtspflege, deren Interessen Art. 307 StGB gerade dienen soll (vgl. BGE 80 IV 124), in hohem Masse abträglich. Dem Antrag der Staatsanwaltschaft kann daher nicht gefolgt werden.
2. Dagegen ist die Beschwerde der R., mit welcher diese ihre Freisprechung verlangt, aus den in BGE 80 IV 124 angeführten Gründen gutzuheissen. Von dieser Rechtsprechung abzugehen, besteht trotz der hiegegen erhobenen Kritik kein Anlass. Der Vorwurf, es werde dadurch die Anwendbarkeit der Bestimmungen über den Versuch auf den Tatbestand des falschen Zeugnisses ausgeschlossen (HÄFLIGER, ZStR 71, S. 308 ff; WAIBLINGER, ZStR 72, S. 141 und ZBJV 92, S. 208; SCHULTZ, ZStR 73, S. 256), wäre nur beachtlich, wenn das Gesetz immer so ausgelegt werden müsste, dass für eine Bestrafung des Versuchs Raum bliebe. Ein solches Gebot enthält jedoch das StGB weder ausdrücklich noch sinngemäss. Ob der Versuch strafbar sei, entscheidet sich nicht allgemein, sondern nach der Umschreibung jedes einzelnen der im besonderen Teil des Gesetzes enthaltenen Straftatbestände. Eine Änderung der Rechtsprechung erscheint auch nicht deswegen geboten, weil bei Straflosigkeit einer falschen, aber im Verlaufe der Einvernahme widerrufenen Aussage die Gefahr besteht, dass sich gerade die skrupellosesten Elemente zunächst aufs Lügen verlegen werden, um zuzusehen, ob es der Richter merke, und erst dann, wenn dies zutrifft, die falsche Aussage zu widerrufen (HÄFLIGER, a.a.O. S. 310). Dieser Nachteil muss in Kauf genommen werden, um den erheblich schwerwiegenderen zu vermeiden, dass ein Zeuge die Wahrheit verschweige oder in seinen Lügen verharre aus Furcht, dafür bestraft zu werden. Der Einwand ferner, BGE 80 IV 124 begünstige ungerechtfertigterweise den vom Richter der Lüge verdächtigten und durch Vorhalte zur Wahrheit geführten Zeugen vor demjenigen, der bei der Einvernahme nicht zur Berichtigung seiner unwahren Aussagen angehalten werde (CLERC, Cours élémentaire sur le Code pénal suisse, partie spéciale II. S. 260; HÄFLIGER, a.a.O. S. 309), übersieht, dass jeder zur Tat Entschlossene, der von einem Dritten von der Ausführung seines Vorhabens abgehalten wird, gegenüber demjenigen, dem solches nicht widerfährt, besser gestellt ist. Niemand wird deswegen im Ernst daran denken, den ersteren zu bestrafen, nur weil der zweite eine Strafe verwirkt hat. Schliesslich ist es entgegen der Auffassung des Obergerichtes auch nicht unbillig, dass der Zeuge, der vor Beendigung der Einvernahme seine Lügen zurücknimmt, der strafrechtlichen Verfolgung entgeht, während derjenige, der zwar aus eigenem Antrieb, aber erst nach Abschluss der Vernehmung seine unwahren Aussagen berichtigt, grundsätzlich unter Strafe fällt (Art. 308 StGB). Die unterschiedliche Behandlung rechtfertigt sich, weil der zweite Zeuge im Gegensatz zum ersten - möglicherweise trotz eindringlicher Vorhalte des vernehmenden Richters - bis zum Abschluss des Verhörs auf seiner unwahren Darstellung beharrte.
Die in BGE 80 IV 124 angeführten Gründe für die Straflosigkeit der falschen, aber vor Abschluss der Einvernahme widerrufenen oder berichtigten Zeugenaussage behalten somit weiterhin ihren vollen Wert; dies umso mehr, als der Verzicht auf eine strafrechtliche Verfolgung des Zeugen in einem solchen Falle nicht eine Eigenart der schweizerischen Rechtsprechung darstellt, sondern sich auch in ausländischen Strafgesetzen findet. So sieht beispielsweise § 43 Abs. 2 des deutschen StGB vor, dass der Versuch eines Vergehens nur in den Fällen bestraft wird, in welchen das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt. Die Fassung von 1943 enthielt nun zwar für den Tatbestand der falschen uneidlichen Aussage in Abs. 2 des § 153 eine solche Vorschrift. Diese wurde jedoch bereits durch das Dritte Strafänderungsgesetz vom 4. August 1953 gestrichen, womit der Versuch des falschen Zeugnisses straflos gelassen ist (SCHÖNKE/SCHRÖDER, Kommentar, 8. Auflage N. IV zu § 153; EBERMAYER/LOBE/ROSENBERG, Kommentar, 8.Auflage, N. 5 zu § 153). Nach der französischen Strafrechtslehre und Rechtsprechung bleibt der Zeuge ebenfalls straflos, wenn er seine falsche Aussage vor Abschluss der Einvernahme, oder je nach dem Verfahren sogar noch, wenn er sie in einem späteren Stadium widerruft (DAILOZ, Encyclopédie juridique, Droit criminel II, S. 31 N. 22 ff.; GARÇON, Code pénal annoté, 1956, II S. 418 N. 84 und S. 421 N. 106).