BGE 143 III 153
 
24. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. AG gegen B. und vice versa (Beschwerde in Zivilsachen)
 
4A_595/2016 / 4A_599/2016 vom 14. März 2017
 
Regeste
Art. 312 Abs. 1 und Art. 313 ZPO; Zustellung der Berufung an die Gegenpartei; Anschlussberufung.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 4
4.2 Die Anschlussberufung ist das Rechtsmittel, mit dem der Berufungsbeklagte in einem vom Berufungskläger bereits eingeleiteten Berufungsverfahren beantragt, dass der angefochtene Entscheid zuungunsten des Berufungsklägers abgeändert wird. Die Anschlussberufung ist nicht auf den Gegenstand der Berufung beschränkt und kann sich demnach auf einen beliebigen, mit diesem nicht notwendig in Zusammenhang stehenden Teil des Urteils beziehen (BGE 138 III 788 E. 4.4 S. 790 f.). Sie hat jedoch keine selbstständige Wirkung; zieht der Berufungskläger die Berufung zurück, fällt die Anschlussberufung dahin. Die Anschlussberufung ist deshalb ein Verteidigungs- oder Gegenangriffsmittel bzw. eine Option zum Gegenangriff der berufungsbeklagten Partei (BGE 141 III 302 E. 2.2 S. 305; Urteil 4A_241/2014 vom 21. November 2014 E. 2.2).
4.3 Die Anschlussberufung dient dazu, die Berufung führende Partei mit dem Risiko einer Änderung des erstinstanzlichen Entscheids zu ihren Ungunsten zu konfrontieren und sie dadurch zum Rückzug des Rechtsmittels zu bewegen (Botschaft des Bundesrats vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7374 Ziff. 5.23.1 zu Art. 309 und 310; vgl. auch SUTTER-SOMM, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2017, N. 1380). Sie ist für den Fall gedacht, dass sich eine Partei grundsätzlich mit dem erstinstanzlichen Entscheid abfindet, auch wenn sie mit ihren Begehren nicht durchgedrungen ist; die verzichtende Partei soll jedoch auf ihren Entschluss, diesen Entscheid nicht anzufechten, nicht nur zurückkommen können, um die Gegenpartei zum Rückzug des Rechtsmittels zu bewegen, sondern auch, wenn sich wegen der Berufung der Gegenpartei die Gründe für ihren Verzicht nicht verwirklichen - weil namentlich die erwartete Zeitersparnis oder die erwartete Befriedung nicht eintreten (vgl. BGE 138 III 788 E. 4.4 S. 790 f.).
4.4 Anschlussberufung kann in der Berufungsantwort während der 30-tägigen Frist seit Zustellung der Berufung zur Antwort erhoben werden. Umstritten ist, ob sie während dieser Frist in einer separaten Eingabe eingereicht werden kann (u.a. dafür etwa REETZ/HILBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.] [im Folgenden Sutter-Somm und andere], 3. Aufl. 2016, N. 26 zu Art. 313 ZPO; dagegen etwa STERCHI, in: Berner Kommentar, 2012, N. 9 zu Art. 313 ZPO). Einhelligkeit besteht in der Doktrin jedoch darüber, dass die Anschlussberufung nur während der Frist eingereicht werden kann, die für die Berufungsantwort läuft (GASSER/RICKLI, Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kurzkommentar, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 312 ZPO; HUNGERBÜHLER/BUCHER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], 2. Aufl. 2016, N. 13 zu Art. 313 ZPO; JEANDIN, in: CPC, Code de procédure civile commenté, Bohnet/Haldy/Jeandin/Schweizer/Tappy [Hrsg.], 2011, N. 5 zu Art. 313 ZPO; REETZ/HILBER, a.a.O., N. 27 zu Art. 313 ZPO; SPÜHLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 4 zu Art. 313 ZPO; STERCHI, a.a.O., N. 9 ff. zu Art. 313 ZPO). Eine Anschlussberufung kann daher frühestens nach Eröffnung der Berufungsantwortfrist eingereicht werden und die Möglichkeit zur Anschlussberufung setzt die Zustellung der Berufung zur Antwort voraus.
4.5 Nach Art. 312 Abs. 1 ZPO stellt die Rechtsmittelinstanz die Berufung der Gegenpartei zur schriftlichen Stellungnahme zu. Die Zustellung der Berufung an die Gegenpartei ist die Regel (GASSER/RICKLI, a.a.O., N. 3 zu Art. 312 ZPO; JEANDIN, a.a.O., N. 6 zu Art. 312 ZPO; SPÜHLER, a.a.O., N. 2 zu Art. 312 ZPO). Eine Fristvorgabe besteht zwar für die Zustellung nicht, aber sie sollte rasch erfolgen, zumal die gesetzliche Frist von 30 Tagen für die begründete Antwort im Interesse der Prozessbeschleunigung und der Waffengleichheit (vgl. BGE 141 III 554 E. 2.4 S. 557) bestimmt ist (vgl. BRUNNER, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 1, 2 zu Art. 312 ZPO; HUNGERBÜHLER/BUCHER, a.a.O., N. 2 zu Art. 312 ZPO; REETZ/THEILER, in: Sutter-Somm und andere, a.a.O., N. 14 zu Art. 312 ZPO). Vom Grundsatz der Einholung einer Antwort kann nur abgesehen werden, wenn sich die Berufung als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist (vgl. BGE 138 III 568 E. 3.1 S. 569). Dies hat sich im Rahmen einer Vorprüfung herauszustellen und dient ebenfalls der raschen Erledigung (HUNGERBÜHLER/BUCHER, a.a.O., N. 3 zu Art. 312 ZPO).
4.6 Als Beispiele für offensichtlich unzulässige Berufungen werden in der Literatur etwa genannt die fehlende Berufungsfähigkeit, die Nichteinhaltung der Berufungsfrist, fehlendes Rechtsschutzinteresse, Nichtleistung des Kostenvorschusses u.ä. (vgl. GASSER/RICKLI, a.a.O., N. 2 zu Art. 312 ZPO; HUNGERBÜHLER/BUCHER, a.a.O., N. 5 zu Art. 312 ZPO; JEANDIN, a.a.O., N. 7 zu Art. 312 ZPO; REETZ/THEILER, a.a.O., N. 17 zu Art. 312 ZPO; SPÜHLER, a.a.O., N. 11 zu Art. 312 ZPO; STERCHI, a.a.O., N. 3 zu Art. 312 ZPO). Als offensichtlich unbegründete Berufungen werden solche genannt, die ohne weiteres erkennbar keine stichhaltigen Beanstandungen am erstinstanzlichen Entscheid enthalten, die sich schon bei summarischer Prüfung als aussichtslos erweisen (GASSER/RICKLI, a.a.O., N. 2 zu Art. 312 ZPO; HUNGERBÜHLER/BUCHER, a.a.O., N. 7 zu Art. 312 ZPO; JEANDIN, a.a.O., N. 8 zu Art. 312 ZPO; REETZ/THEILER, a.a.O., N. 18 zu Art. 312 ZPO; SPÜHLER, a.a.O., N. 12 zu Art. 312 ZPO; STERCHI, a.a.O., N. 5 zu Art. 312 ZPO).
4.7 Die Vorinstanz begründet im angefochtenen Urteil nicht, weshalb sie die Berufung der Klägerin der Beklagten nicht zur Antwort zugestellt hat. Das Urteil umfasst 73 Seiten und setzt sich eingehend mit den Rügen der Klägerin in Bezug auf die Auslegung von Ziffer 1.2.1 des Werkvertrages, in Bezug auf die Umstände, die nach Ansicht der Klägerin zu einer Abänderung des vertraglichen Vorbehalts der Schriftlichkeit für Bestellungsänderungen geführt haben sollen sowie der Vergütung für Beschleunigungsmassnahmen auseinander. Es erscheint ausgeschlossen, dass die Vorinstanz in dieser Streitsache aufgrund einer summarischen Prüfung sämtliche Rügen der Klägerin gegen den erstinstanzlichen Entscheid als offensichtlich unbegründet beurteilen konnte. Dass die Vorinstanz keine (blosse) Vorprüfung vorgenommen haben kann, ergibt sich ausserdem aus dem zeitlichen Ablauf. Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat die Klägerin die Berufung am 9. November 2015 eingereicht. Das Urteil datiert vom 12. September 2016 und wurde am 14. September 2016 versandt. Die Vorinstanz hat Art. 312 Abs. 1 ZPO verletzt, indem sie die Berufung der Klägerin der Beklagten nicht zur Antwort zustellte.
4.8 Der Klägerin kann nicht gefolgt werden, wenn sie die Ansicht vertritt, die Beklagte habe ihr Recht auf Erhebung einer Anschlussberufung verwirkt, weil sie auf die Mitteilung des Obergerichts nicht reagiert habe, dass Berufung erhoben worden sei. Der Beklagten ist die Begründung der Berufung vom Obergericht unbestritten nicht zur Kenntnis gebracht worden und es wurde ihr auch sinngemäss keine Frist zur Antwort im Sinne von Art. 312 ZPO eröffnet. Auf die blosse Mitteilung, es sei Berufung erhoben worden, musste sie nicht reagieren. Sie durfte die Zustellung der begründeten Berufung mit entsprechender Frist zur Antwort abwarten, ohne ihr Recht auf Antwort und Anschlussberufung zu verwirken. Es oblag vielmehr dem Gericht, ihr die Berufung von Amtes wegen zuzustellen, weshalb aus dem blossen Zuwarten nicht auf einen Verzicht auf Stellungnahme zur Berufung oder Anschlussberufung geschlossen werden kann.