BGE 142 III 381
 
50. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
 
4A_565/2015 vom 14. April 2016
 
Regeste
Art. 322 und 322d OR; Qualifikation einer Sondervergütung (Bonus).
 
Sachverhalt
A. Die A. in Zürich (Arbeitgeberin, Beklagte, Beschwerdeführerin) ist eine (...) Bank. Ihr Geschäftsjahr entspricht nicht dem Kalenderjahr, sondern dauert jeweils vom 1. April bis zum 31. März des Folgejahres.
B. (Arbeitnehmer, Kläger, Beschwerdegegner) war bei ihr vom 1. Oktober 2009 bis 31. März 2013 als Senior Private Banker tätig. Gemäss Arbeitsvertrag betrug der Jahreslohn Fr. 219'240.-. Zusätzlich sah der Arbeitsvertrag Bonuszahlungen auf freiwilliger Basis vor.
B.
B.a Mit Klage vom 14. Juni 2014 beantragte der Arbeitnehmer dem Arbeitsgericht Zürich, die Beklagte sei zu verurteilen, (1) ihm den Betrag von Fr. 266'000.- nebst Zins zu 5 % seit 21. Oktober 2013 zu bezahlen, (2) ihm den Betrag von Fr. 52'500.- nebst Zins zu 5 % seit 21. Oktober 2013 zu bezahlen, (3) in der Betreibung Nr. x vom 21. Oktober 2013 des Betreibungsamtes Zürich 8 sei der Rechtsvorschlag zu beseitigen und (4) die Beklagte sei zur Erstattung der Betreibungskosten (Fr. 210.-) und der Kosten des Schlichtungsverfahrens (Fr. 950.-) zu verurteilen.
Der Arbeitnehmer forderte in Ziffer 1 seiner Klage einen Bonus für das Geschäftsjahr 2012/2013, den er aufgrund des Durchschnitts der Boni für die beiden Vorjahre berechnete, und in Ziffer 2 die zweite und dritte Tranche des "Retention Awards" für das Geschäftsjahr 2011/2012.
Mit Urteil vom 26. Januar 2015 wies das Arbeitsgericht Zürich die Klage ab. (...)
B.b Mit Urteil vom 16. September 2015 verurteilte das Obergericht des Kantons Zürich die Beklagte auf Berufung des Klägers hin, dem Kläger Fr. 128'505.- nebst 5 % Zins seit 21. Oktober 2013 zu bezahlen. In diesem Umfang hob das Gericht den Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr. x des Betreibungsamtes Zürich 8 auf. Im Übrigen wies es die Klage ab. (...)
C. Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Beklagte dem Bundesgericht, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 16. September 2015 sei aufzuheben und die Klage vollumfänglich abzuweisen, unter Kosten- und Entschädigungsfolge. (...)
Der Beschwerdegegner beantragt in seiner Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde, soweit Eintreten. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug)
 
Aus den Erwägungen:
2.1 Eine Gratifikation zeichnet sich gegenüber dem Lohn dadurch aus, dass sie zum Lohn hinzutritt und immer in einem gewissen Masse vom Willen des Arbeitgebers abhängt. Die Gratifikation wird damit ganz oder zumindest teilweise freiwillig ausgerichtet (BGE 131 III 615 E. 5.2 S. 620; BGE 129 III 276 E. 2 S. 278). Freiwilligkeit ist anzunehmen, wenn dem Arbeitgeber zumindest bei der Festsetzung der Höhe des Bonus ein Ermessen zusteht. Ein solches Ermessen ist zu bejahen, wenn die Höhe des Bonus nicht nur vom Erreichen eines bestimmten Geschäftsergebnisses, sondern zudem auch von der subjektiven Einschätzung der persönlichen Arbeitsleistung durch den Arbeitgeber abhängig gemacht wird (Urteil 4A_28/2009 vom 26. März 2009 E. 2.3 mit Hinweis). Ein im Voraus festgesetzter und fest vereinbarter Betrag kann daher keine Gratifikation sein (BGE 139 III 155 E. 3.1 S. 156 mit Hinweisen).
Aus den Feststellungen im angefochtenen Urteil ergibt sich und die Parteien stellen nicht in Frage, dass die Ausrichtung des im Arbeitsvertrag vorgesehenen Bonus vorliegend ins Ermessen der Beschwerdeführerin gestellt war, ohne dass bestimmte Kriterien für die Auszahlung festgesetzt worden wären. Es ist daher grundsätzlich davon auszugehen, dass der Bonus als freiwillige Zahlung vereinbart wurde.
2.2.1 Um den Charakter einer Sondervergütung zu wahren, muss eine Gratifikation gegenüber dem Lohn akzessorisch bleiben und darf im Rahmen der Entschädigung des Arbeitnehmers nur eine zweitrangige Bedeutung einnehmen. Denn dem Arbeitgeber soll es verwehrt sein, die eigentliche Vergütung des Arbeitnehmers in Form einer (freiwilligen) Gratifikation auszurichten (BGE 139 III 155 E. 5.3 S. 158 f.). Daher kann es sich auch bei einem Bonus, dessen Ausrichtung nach der Vereinbarung der Parteien ins Ermessen der Arbeitgeberin gestellt ist, um einen (variablen) Lohnbestandteil handeln, wenn sich die entsprechende Vergütung nicht als zweitrangig und damit nicht als akzessorisch erweist. Unter dem Blickwinkel der Akzessorietät kann bei niedrigen Gesamteinkommen bereits ein im Verhältnis zum Lohn geringerer Bonus den Charakter eines (variablen) Lohnbestandteils aufweisen, da bei einem niedrigen Einkommen ein kleiner Einkommensunterschied mehr Bedeutung hat, als bei einem hohen Einkommen. Bei mittleren und höheren Gesamteinkommen kann ein im Verhältnis zum Lohn sehr hoher Bonus, ein gleich hoher oder ein den Lohn übersteigender Bonus, der regelmässig bezahlt wird, trotz vereinbarter Freiwilligkeit ausnahmsweise einen (variablen) Lohnbestandteil darstellen. Die entsprechende Grenze kann nicht einfach in einer festen Verhältniszahl zwischen dem vereinbarten Lohn und dem freiwilligen Bonus liegen. Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. zum Ganzen: BGE 141 III 407 E. 4.3.1 S. 408 f.; BGE 139 III 155 E. 3.2 S. 156 f.; BGE 131 III 615 E. 5.2 S. 621; BGE 129 III 276 E. 2.1 S. 279 f.).
2.2.2 Wenn der Arbeitnehmer hingegen ein sehr hohes Gesamteinkommen erzielt, das seine wirtschaftliche Existenz bei Weitem gewährleistet bzw. die Lebenshaltungskosten erheblich übersteigt, kann die Höhe der Gratifikation im Verhältnis zum Lohn kein entscheidendes Kriterium mehr sein, um über den Lohncharakter der Sondervergütung zu entscheiden (BGE 141 III 407 E. 4.3.2 S. 409 m.H.). Diesfalls entfällt die Akzessorietätsprüfung und eine ins Ermessen der Arbeitgeberin gestellte freiwillige Vergütung ist in jedem Fall als Gratifikation zu qualifizieren, auf die kein Anspruch besteht, sofern der Arbeitnehmer auch ohne den umstrittenen Bonus ein sehr hohes Einkommen aus der gesamten Entschädigung für seine Arbeitstätigkeit erzielt. Als sehr hohe Entschädigung wird ein Einkommen aus Arbeitsvertrag angesehen, das den fünffachen Medianlohn übersteigt (BGE 141 III 407 E. 5 S. 409 ff.). Um die - tatsächliche - Entschädigung festzustellen, die ein Arbeitnehmer insgesamt aus Arbeitsvertrag bezieht, stellt das Bundesgericht nicht darauf ab, wofür die Zahlung erfolgt. Es kommt nicht darauf an, ob die tatsächlich erzielten Bezüge regelmässige oder einmalige Lohnzahlungen sind, ob es sich um Zahlungen für besondere Projekte oder Anstrengungen, (andere) Gratifikationen, Prämien zu irgendwelchen Anlässen oder anderes handelt; es ist nicht entscheidend, unter welchem Titel oder unter welcher Bezeichnung sie bezahlt werden. Es kommt daher auch nicht darauf an, für welche Zeitperiode sie erfolgen bzw. für welches Geschäftsjahr sie nach der Parteivereinbarung bestimmt sind. Für die Höhe des Lohnes im vorliegenden Zusammenhang sind allein die tatsächlichen Einkünfte im Zeitpunkt ihrer Realisierung massgebend. Es ist daher zur Feststellung der Bezüge aus Arbeitsvertrag während der massgebenden Zeitspanne rein tatsächlich zu ermitteln, welche Einnahmen dem Arbeitnehmer während dieser Zeit aus Arbeitsvertrag zugeflossen sind (BGE 141 III 407 E. 6 S. 416 f.).
2.3 Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz festgestellt, dass das Geschäftsjahr der Beschwerdeführerin jeweils von Ende März bis zum 1. April des Folgejahres dauerte. Beide Parteien gehen davon aus, dass jeweils die Bezüge einem Geschäftsjahr zuzuordnen seien, um zu ermitteln, ob die Gesamtvergütung des Beschwerdegegners aus Arbeitsvertrag das Fünffache des Medianlohnes erreicht oder übersteigt. Dies entspricht der Praxis nicht. Danach ist vielmehr auf den Zeitpunkt des effektiven Geldzuflusses abzustellen zur Beurteilung, ob in einem bestimmten Zeitraum die Grenze des sehr hohen Einkommens erreicht oder überschritten ist. Der Rechtstitel, unter dem die Zahlung erfolgt, ist nur für die Frage entscheidend, ob die dem Arbeitnehmer zugeflossenen Mittel aus Arbeitsvertrag stammen. Sonst spielt keine Rolle, wofür der Arbeitnehmer die geldwerten Leistungen erhält. Für die Ermittlung des massgebenden Einkommens aus Arbeitsvertrag ist nicht die Zuordnung einer Zahlung zu einem Geschäftsjahr, sondern der Zeitpunkt der Zahlung erheblich.
2.4 Der massgebliche Zeitraum zur Beurteilung, ob ein Arbeitnehmer aus dem Arbeitsvertrag ein sehr hohes Einkommen erzielt, bestimmt sich in der Regel nach einem Jahreslohn (BGE 141 III 407 E. 5.3.1 S. 412). Im erwähnten publizierten Urteil vom 11. August 2015 wurde das Einkommen ermittelt, das dem Arbeitnehmer während des letzten halben Jahres vor der Beendigung des Arbeitsvertrages per Ende Juni zugeflossen war. Diese Einkünfte überschritten die Grenze des sehr hohen Einkommens, während der Arbeitnehmer in diesem Fall früher noch höhere Einkünfte erzielt hatte; es stand daher nicht in Frage, dass auch die Einkünfte der letzten sechs Monate vor Ende des Arbeitsvertrages aussagekräftig waren. Vorliegend fällt das Ende des Arbeitsvertrages mit dem Ende eines Geschäftsjahres der Arbeitgeberin zusammen. Es ist daher ohne weiteres auf die gesamten Einkünfte des Beschwerdegegners im letzten Jahr vor Vertragsbeendigung abzustellen zur Beurteilung, ob er ein sehr hohes Einkommen aus Arbeitsvertrag erzielte. Denn es besteht kein Grund, an der Aussagekraft dieser Einkünfte zu zweifeln.
2.5 Die Vorinstanz stellt im angefochtenen Urteil fest, welche Boni jeweils für ein Geschäftsjahr ausgezahlt wurden und rechnet die entsprechenden Zahlungen dem Geschäftsjahr zu, für das sie nach der Vereinbarung bezahlt wurden. Der Zeitpunkt der Zahlungen wird im angefochtenen Urteil nicht festgestellt; vielmehr wird nicht unterschieden zwischen Zahlungen "für" ein Geschäftsjahr und "in" einem Geschäftsjahr. Es kann jedoch davon abgesehen werden, die Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen, denn es ergibt sich aus den Akten und wird auch vom Beschwerdegegner in der Antwort nicht in Frage gestellt, dass der Bonus für das Geschäftsjahr 2011/2012 erst nach Ablauf dieses Geschäftsjahres tatsächlich bezahlt wurde - auch wenn der Beschwerdeführer selbst zuweilen die tatsächlich erfolgten Zahlungen "in" einem Geschäftsjahr mit den "für" das Geschäftsjahr ausgerichteten Zahlungen gleichsetzt. Aus der der Antwort beigefügten Beilage 3 ergibt sich eindeutig, dass die Auszahlung des Bonus "für" das Geschäftsjahr 2011/2012 am 25. Juni 2012 erfolgt ist, was mit der Feststellung im Urteil des Arbeitsgerichts übereinstimmt, wonach dem Beschwerdegegner der Bonus "für" das Geschäftsjahr 2011/2012 im Umfang von Fr. 214'480.- im Juni 2012 überwiesen wurde. Neben dem unbestrittenen Grundlohn von Fr. 239'220.- nahm der Beschwerdegegner daher in der hier massgebenden Zeit vom 1. April 2012 bis 31. März 2013 unter dem Titel "Bonus für das Geschäftsjahr 2011/2012" im Juni 2012 weitere Fr. 214'480.- (sowie im Dezember 2012 Fr. 30'000.-) ein. Die tatsächlichen Einnahmen des Beschwerdegegners im letzten Jahr vor Beendigung seines Vertrages mit der Beschwerdeführerin beliefen sich damit auf Fr. 483'700.-. Dieser Betrag übersteigt den fünffachen Medianlohn in der von keiner Partei in Frage gestellten Höhe von Fr. 367'725.-.
2.6 Die Einnahmen, welche der Beschwerdegegner im letzten Jahr seiner Tätigkeit vor Beendigung des Arbeitsvertrages tatsächlich aus dem Arbeitsverhältnis erzielte, übersteigen das Fünffache des schweizerischen Medianlohnes. Die Vergütung, die der Beschwerdegegner für seine Arbeitstätigkeit bei der Beschwerdeführerin tatsächlich unabhängig vom umstrittenen Bonus erhielt, war sehr hoch. Unter diesen Umständen hat der Beschwerdegegner keinen Anspruch auf die im Arbeitsvertrag in Aussicht gestellte freiwillige Leistung. Die Frage nach der Akzessorietät, also ob der als freiwillige Leistung vereinbarte Bonus aufgrund der Gestaltung und Handhabung der Entlöhnung (namentlich wegen dessen verhältnismässiger Höhe zum Grundlohn) als (variabler) Lohnbestandteil zu qualifizieren ist, stellt sich nicht.