BGE 141 III 549
 
71. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
 
4A_221/2015 vom 23. November 2015
 
Regeste
Verrechnungserklärung im Prozess.
 
Sachverhalt
A. Am 22. Oktober 2007 schlossen die A. (Bestellerin) und die B. AG (Unternehmerin) einen schriftlichen "GU-Vertrag" betreffend die Instandsetzung der Parkgarage und der Fussgängerbrücke der Wohnsiedlung G. in Zürich.
Am 4. Januar 2010 übersandte die Unternehmerin der Bestellerin eine Abrechnung über Fr. 13'857'123.83 inkl. MWSt mit drei Rechnungen mit jeweils einem Beiblatt, das den Titel "Schlussabrechnung" trug. Während die Bestellerin die Rechnungen Nr. x und Nr. y vollumfänglich bezahlte, weigerte sie sich, die Rechnung Nr. z zu bezahlen.
Zwischen den Parteien bestand parallel zum Vertrag betreffend die Wohnsiedlung G. noch ein weiterer Vertrag bezüglich des Neubaus des Stadions H. Auch in diesem Zusammenhang kam es zwischen den Parteien zu einem Streit über die Höhe des geschuldeten Werklohns. Die Bestellerin erkannte die Schlussabrechnung der Unternehmerin nicht an. Am 3. Juni 2010 erhob die Unternehmerin diesbezüglich Klage beim Bezirksgericht Zürich auf Zahlung eines Betrags von "mindestens CHF 22'954'484.10". In ihrer Klageantwort beantragte die Bestellerin die vollumfängliche Abweisung der Klage. Dabei erhob sie eventualiter für den Fall, dass sich die eingeklagte Forderung als begründet erweisen sollte, die Einrede der Verrechnung mit Guthaben aus den Nachträgen 16 und 17 des Projekts "H." im Umfang von Fr. 2'791'457.54.
Die Unternehmerin rief schliesslich auch im Zusammenhang mit dem ausstehenden Werklohn bezüglich der Wohnsiedlung G. die Zürcher Schlichtungsbehörden an, wobei die Schlichtungsverhandlung scheiterte.
B.
B.a Mit Klage vom 27. April 2011 beantragte die Unternehmerin dem Bezirksgericht Zürich, die Bestellerin sei zur Zahlung von Fr. 289'260.58 nebst Zins zu 5 % seit dem 8. Mai 2010 zu verurteilen.
In ihrer Klageantwort vom 25. August 2011 beantragte die Bestellerin die vollumfängliche Abweisung der Klage. Sie bestritt, dass die Parteien Nachträge als Ergänzung zum Vertrag vereinbart hätten, dass in insgesamt 68 Nachträgen Zusatzleistungen vereinbart worden sein sollen und diese durch Pauschalpreise abzugelten gewesen seien. Weiter machte die Bestellerin geltend, sämtliche Änderungen des Vertrags hätten gemäss dessen Ziff. 16.6 in einem beidseits unterzeichneten schriftlichen Nachtrag erfolgen müssen. Eventualiter für den Fall, dass sich die eingeklagte Forderung als begründet erweisen sollte, erhob die Bestellerin wie bereits im Verfahren betreffend das Projekt "H." die Einrede der Verrechnung mit Guthaben aus den Nachträgen 16 und 17 des genannten Projektes, dieses Mal im Umfang von Fr. 2'127'331.30. Nach eigenen Angaben der Bestellerin handelt es sich bei den zur Verrechnung gestellten Forderungen um dieselben, mit denen sie bereits im Verfahren betreffend das Projekt "H." eventualiter die Verrechnungseinrede erhoben hat.
Mit Urteil vom 23. Oktober 2014 hiess das Bezirksgericht die Klage teilweise gut, verurteilte die A. zur Zahlung von Fr. 252'543.05 zuzüglich 5 % Zins seit dem 8. Mai 2010 an die B. AG und wies die Klage im Mehrbetrag ab. Den Einwand der Bestellerin, diese Zahlung sei wegen Verletzung vertraglicher Obliegenheiten verwirkt, verwarf das Bezirksgericht ebenso wie den Einwand, sie habe gültig mit einem Guthaben aus dem (parallelen) Bauvorhaben "Stadion H." verrechnet.
B.b Gegen das Urteil des Bezirksgerichts legte die Bestellerin Berufung beim Obergericht des Kantons Zürich ein, mit der sie die Aufhebung des bezirksgerichtlichen Entscheids und die vollumfängliche Abweisung der Klage beantragte.
Die Bestellerin beharrte darauf, die Unternehmerin habe über die Nachtragsleistungen nicht vertragskonform abgerechnet. Eventualiter hielt sie die Verrechnungseinrede mit Forderungen aus dem (parallelen) Bauvorhaben "Stadion H." aufrecht.
Mit Urteil vom 27. Februar 2015 wies das Obergericht die Berufung ab und bestätigte das bezirksgerichtliche Urteil.
C. Das Bundesgericht weist die von der Bestellerin gegen das Urteil des Obergerichts erhobene Beschwerde teilweise gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache zur (erneuten) Beurteilung der Verrechnungseinrede an die Vorinstanz zurück.
(Zusammenfassung)
 
Aus den Erwägungen:
Im vorliegenden Verfahren betreffend die Wohnsiedlung G. hat die Beschwerdegegnerin eine Forderung im Umfang von Fr. 289'260.58 eingeklagt. Auch diese Forderung bestritt die Beschwerdeführerin und erhob in ihrer Klageantwort vom 25. August 2011 für den Fall, dass sich diese wider Erwarten als begründet erweisen sollte, erneut die Einrede der Verrechnung mit Guthaben aus den Nachträgen 16 und 17 des Projektes "H.", dieses Mal im Umfang von Fr. 2'127'331.30.
Bei der zur Verrechnung gestellten Forderung handelt es sich sowohl gemäss den Feststellungen der Vorinstanz als auch gemäss eigenen Angaben der Beschwerdeführerin in der Klageantwort vom 26. August 2011 um dieselbe, mit der sie bereits im Verfahren betreffend das Projekt H. eventualiter die Verrechnungseinrede erhoben hat.
(...)
6.5 Nach der herrschenden Lehre wird die in einem Prozess erhobene Verrechnungseinrede zwar nicht von der Rechtshängigkeit i.S.v. Art. 62 ZPO erfasst (ISABELLE BERGER-STEINER, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 13 zu Art. 62 ZPO; MARKUS MÜLLER-CHEN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Brunner und andere [Hrsg.], 2011, N. 36 zu Art. 62 ZPO; PRISCA SCHLEIFFER MARAIS, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Baker & McKenzie [Hrsg.], 2010, N. 1 zu Art. 62 ZPO; STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2013, § 12 N. 2; CORINNE ZELLWEGER-GUTKNECHT, Berner Kommentar, 2012, N. 175 ff. der Vorbemerkungen zu Art. 120-126 OR; aus der Lehre zu den kantonalen Zivilprozessordnungen sodann MAX GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 233 f.; ihm folgend LEUCH UND ANDERE, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5. Aufl. 2000, N. 6b zu Art. 160 ZPO/BE; CHRISTOPH ZIMMERLI, Die Verrechnung im Zivilprozess und in der Schiedgerichtsbarkeit, 2003, S. 105; LUC PITTET, Compétence du juge et de l'arbitre en matière de compensation, 2001, N. 121; HANS GAUTSCHI, Verrechnungseinrede und Widerklage im schweizerischen Prozessrecht, 1946, S. 80; a.M. - d.h. für Rechtshängigkeit der Verrechnungsforderung - hingegen GEORG LEUCH, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3. Aufl. 1956, N. 4 zu Art. 160 ZPO/BE; PETER LYSSY, Die Rechtshängigkeit im Zivilprozess der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft, 1987, S. 72; BRUNO HABERTHÜR, Praxis zur Basler Zivilprozessordnung mit Erläuterungen, Bd. I, Stand: Oktober 1964, S. 394 f.; wohl auch JEAN-MARC REYMOND, L'exception de litispendance, 1991, S. 224 f.). Es ist aber aus prozessökonomischen Gründen und wegen der Gefahr widersprüchlicher Urteile nicht hinnehmbar, dass sich mehrere Gerichte bzw. Spruchkörper parallel mit der identischen Verrechnungsforderung auseinanderzusetzen haben, wenn diese von der beklagten Partei in mehreren Prozessen gegen die gleiche Klägerin im Rahmen von Eventualverrechnungen als Verteidigungsmittel eingesetzt wird (vgl. ZELLWEGER-GUTKNECHT, a.a.O., N. 177 der Vorbemerkungen zu Art. 120-126 OR; in diesem Sinne wohl auch WOLFGANG PETER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 5. Aufl. 2011, N. 4 vor Art. 120-126 OR). In einem solchen Fall sind die Verfahren vielmehr so zu koordinieren, dass das gleiche Prozessthema nicht doppelt beurteilt wird. Dies kann etwa durch eine Prozessüberweisung gestützt auf Art. 127 Abs. 1 ZPO oder eine Verfahrensvereinigung gestützt auf Art. 125 lit. c ZPO geschehen. Ebenfalls denkbar ist eine Sistierung des Zweitprozesses gestützt auf Art. 126 ZPO, wobei diese Lösung in einem Spannungsfeld zum verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot nach Art. 29 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK steht und von der beklagten Partei im Rahmen einer (missbräuchlichen) Verschleppungstaktik ausgenützt werden kann. In der Lehre wird daher zu Recht die Prozessüberweisung bzw. - wenn die Verfahren beim gleichen Gericht hängig sind - die Verfahrensvereinigung nach Art. 125 lit. c ZPO als Mittel der ersten Wahl bezeichnet (vgl. ZELLWEGER-GUTKNECHT, a.a.O., N. 178 ff. der Vorbemerkungen zu Art. 120-126 OR).
6.6 Die Beschwerdeführerin hat vorliegend die Eventualverrechnungseinreden in zwei Verfahren erhoben, die beide beim Bezirksgericht Zürich anhängig gemacht wurden. Sie hat zwar keinen Anspruch auf eine doppelte Beurteilung des gleichen Prozessthemas, sehr wohl aber auf eine einmalige Beurteilung ihrer Verrechnungsforderung, wenn - wie hier - in mindestens einem der beiden Verfahren der Bestand der eingeklagten Forderung ganz oder teilweise bejaht wird. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur neuen Beurteilung der Verrechnungseinrede zurückzuweisen. Die Vorinstanz wird dabei das Verfahren betreffend das Stadion H. und das vorliegende Verfahren betreffend die Wohnsiedlung G. zu koordinieren haben, wobei in Übereinstimmung mit der Lehre eine Verfahrensvereinigung im Vordergrund stehen dürfte.