BGE 136 III 497
 
71. Auszug aus der Verfügung der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Vormundschaftsrat des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in Zivilsachen)
 
5A_432/2010 vom 26. Juli 2010
 
Regeste
Art. 397a und 397d ZGB; Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG; fürsorgerische Freiheitsentziehung; Entlassung der Beschwerde führenden Person aus der psychiatrischen Anstalt während des vor Bundesgericht hängigen Beschwerdeverfahrens; aktuelles rechtlich geschütztes Interesse an der Behandlung der Beschwerde in Zivilsachen.
 
Sachverhalt
A. X., geboren 1966, leidet seit vielen Jahren an Zwangsvorstellungen. Sie hat Angst vor elektromagnetischen Übergriffen auf ihren Körper und begegnet ihrer Furcht vor Erkrankungen mit andauernden Hygienemassnahmen. (...)
B. In der Annahme, sie leide an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, verfügte der Vormundschaftsrat des Kantons Basel-Stadt am 12. März 2010 gestützt auf Art. 397a Abs. 1 ZGB die Einweisung von X. in die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK). In den Erwägungen dieses Entscheids wurden die UPK und die Vormundschaftsbehörde beauftragt, bis zum 30. September 2010 ein Gutachten darüber zu erstellen, wo X. untergebracht werden könne und wie weiter vorzugehen sei. X. gelangte gegen die Einweisung am 18. März 2010 an das Appellationsgericht Basel-Stadt mit dem Begehren, den Entscheid des Vormundschaftsrates aufzuheben. (...) Mit Urteil vom 20. April 2010 gab das Appellationsgericht dem Rekurs von X. nicht statt.
C. Dagegen hat X. beim Bundesgericht mit einem am 7. Juni 2010 der Post übergebenen Schriftsatz Beschwerde in Zivilsachen erhoben mit den Anträgen, das Urteil des Appellationsgerichts aufzuheben (...) und die UPK superprovisorisch anzuweisen, sie sofort zu entlassen. (...)
In seiner Stellungnahme vom 9. Juni 2010 weist der Vormundschaftsrat darauf hin, dass die Explorationen der Beschwerdeführerin abgeschlossen sind und diese am Vormittag des 9. Juni 2010 aus den UPK entlassen worden ist. (...)
(...)
E. Mit Schreiben vom 16. Juni 2010 wurde die Beschwerdeführerin darum ersucht, zur beabsichtigten Abschreibung des bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahrens zufolge Gegenstandslosigkeit und zur Kostenverlegung Stellung zu nehmen. Dieser Aufforderung kam sie am 25. Juni 2010 nach. Das Bundesgericht schreibt das Verfahren als gegenstandslos ab.
(Auszug)
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
1.1 Nach der Praxis der II. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts setzt die Beschwerde in Zivilsachen gegen den letztinstanzlichen Entscheid betreffend fürsorgerische Freiheitsentziehung ein aktuelles rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheides voraus, welches nicht mehr gegeben ist, wenn die betroffene Person aus der fürsorgerischen Freiheitsentziehung entlassen worden ist (Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG; Urteile 5C.3/1997 vom 20. Januar 1997 E. 2 und 5C.11/2003 vom 22. Januar 2003 E. 1.2). Die Rechtsprechung verzichtet aber auf das Erfordernis des aktuellen und fortdauernden praktischen Interesses, wenn sich die gerügte Rechtsverletzung jederzeit wiederholen könnte und eine rechtzeitige gerichtliche Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre (sog. virtuelles Interesse; Urteile 5C.11/2003 vom 22. Januar 2003 E. 1.2 und 5C.3/1997 vom 20. Januar 1997 E. 2b mit Hinweis auf BGE 111 Ib 56 E. 2b S. 59; BGE 107 Ib 391 E. 1 S. 392; BGE 106 Ib 109 E. 1b S. 112).
1.2 Die Beschwerdeführerin ist am 9. Juni 2010 nach Abschluss der Explorationen aus den UPK entlassen worden, womit kein aktuelles Interesse an der Überprüfung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung besteht. Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, in ihrem Fall seien bereits mehrmals kurzfristige Freiheitsentziehungen angeordnet worden, die nie rechtzeitig auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 397a Abs. 1 ZGB, Art. 5 Ziff. 1 lit. e bzw. Art. 5 Ziff. 4 EMRK hätten überprüft werden können. Auch beruft sie sich nicht darauf, dass eine entsprechende Gefahr in ihrem Fall konkret besteht. Unter Hinweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Camenzind gegen Schweiz vom 16. Dezember 1997 (Recueil CourEDH 1997-VIII S. 2880) lässt sie ausführen, die Aktualität des Rechtsschutzinteresses solle nicht verneint werden, soweit EMRK-Garantien infrage stehen, deren Verletzung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geltend gemacht werden können.
 
Erwägung 2
2.1 Fehlt es am aktuellen praktischen Interesse und ist auch kein virtuelles Interesse auszumachen, wird die Beschwerde in Anwendung von Art. 32 Abs. 2 BGG im Verfahren nach Art. 108 BGG durch die Präsidentin bzw. den Präsidenten der Abteilung als gegenstandslos abgeschrieben, soweit der rechtliche Nachteil des angefochtenen Entscheides nach Einreichung der Beschwerde weggefallen ist (Verfügung 5A_20/2007 vom 1. März 2007). Ist der Nachteil hingegen bereits bei Einreichung der Beschwerde nicht gegeben, wird auf die Beschwerde nicht eingetreten (z.B. Urteil 5A_470/2009 vom 14. Juli 2009; zur Unterscheidung zwischen Nichteintreten und Gegenstandslosigkeit: BGE 118 Ia 488 E. 1a). In diesen Fällen wird der Betroffene für eine Feststellung der Widerrechtlichkeit der angeordneten Freiheitsentziehung auf die Verantwortlichkeitsklage nach Art. 429a ZGB verwiesen.
2.2 Eine der II. zivilrechtlichen Abteilung entsprechende Praxis verfolgt grundsätzlich auch die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts bei der Beurteilung öffentlich-rechtlicher Beschwerden gegen Entscheide betreffend Untersuchungshaft. So wird ein aktuelles rechtlich geschütztes Interesse nach Beendigung der Haft verneint. Trotzdem werden aber bestimmte Rügen unter besonderen Umständen behandelt (statt vieler BGE 125 I 384 E. 5 S. 404). In BGE 136 I 274 E. 1.3 hat die I. öffentlich-rechtliche Abteilung solche Umstände bejaht, wenn eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention offensichtlich ist und dem Beschwerdeführer durch eine entsprechende Feststellung im Dispositiv des Urteils und eine für ihn vorteilhafte Kostenregelung sogleich die verlangte Wiedergutmachung verschafft werden kann. Bevor abgeklärt wird, ob entsprechende Umstände (offensichtliche Verletzung der EMRK) im vorliegenden Fall gegeben sind, ist zu prüfen, ob diese neue Praxis für den Bereich der fürsorgerischen Freiheitsentziehung im Grundsatz übernommen werden soll. Wird nämlich dieser Praxis gefolgt, dürften nach Entlassung der betroffenen Person kaum mehr Verfahren nach Art. 108 BGG möglich sein.
2.3 Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung hat im besagten Entscheid die Befürchtung geäussert, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte im Fall einer Beschwerde erkennen, der Beschwerdeführer habe im nationalen Verfahren über keine wirksame Beschwerde im Sinn von Art. 13 EMRK zur Geltendmachung einer Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK verfügt. Zur Begründung dieserBefürchtung hat sie auf das Urteil Camenzind verwiesen. Im besagten Fall war das Bundesgericht auf die vom Betroffenen bei ihm gegen eine Hausdurchsuchung eingereichte Beschwerde mangels aktuellen praktischen Interesses nicht eingetreten, da die Hausdurchsuchung abgeschlossen war. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs stand dem Beschwerdeführer damit keine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK zur Geltendmachung der gerügten EMRK-Verletzungen zur Verfügung. Dabei erachtete er den Einwand der Schweiz als nicht massgeblich, der Beschwerdeführer hätte seine Rügen der Verletzung der EMRK insbesondere in einem Entschädigungsverfahren nach Art. 99 VStrR (SR 313.0) geltend machen können (siehe dazu insb. die §§ 51 ff. des zitierten Urteils).
2.4 Im Bereich der fürsorgerischen Freiheitsentziehung erweisen sich solche Befürchtungen als unbegründet: Nach Art. 429a ZGB hat derjenige, der durch eine widerrechtliche Freiheitsentziehung verletzt wird, Anspruch auf Schadenersatz und, wo die Schwere der Verletzung es rechtfertigt, auf Genugtuung. Auch in diesem Verantwortlichkeitsprozess ist die Feststellung der Widerrechtlichkeit als "eine andere Art der Genugtuung" möglich und zulässig (BGE 118 II 254 Nr. 52). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt die Klage nach Art. 429a ZGB eine wirksame Beschwerde im Sinn von Art. 13 EMRK zur Überprüfung der Einhaltung von Art. 5 Ziff. 4 EMRK dar. Überdies genügt sie den Anforderungen von Art. 5 Ziff. 5 EMRK (Anspruch auf Schadenersatz) (Urteil A.B. gegen Schweiz vom 6. April 2000, Zusammenfassung in: VPB 64/2000 Nr. 134 S. 1323). Stellt aber die Klage nach Art. 429a ZGB eine wirksame Beschwerde zur Geltendmachung von EMRK-Verletzungen und zur Durchsetzung daraus resultierender Schadenersatzansprüche dar, besteht für die II. zivilrechtliche Abteilung keine Veranlassung, ihre bisherige Praxis bei Entlassung der betroffenen Person aus der fürsorgerischen Freiheitsentziehung aufzugeben und sich der Rechtsprechung der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung anzuschliessen. Damit kann offenbleiben, ob BGE 136 I 274 überhaupt auf den vorliegenden Fall anwendbar wäre (Offensichtlichkeit der EMRK-Verletzung) und ob mangels ausdrücklichen Antrages seitens der anwaltlich verbeiständeten Beschwerdeführerin überhaupt auf Feststellung einer EMRK-Verletzung erkannt werden könnte.