BGE 131 III 314
 
42. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y. (Berufung)
 
5C.245/2004 vom 11. März 2005
 
Regeste
Betrügerische Begründung des Versicherungsanspruchs (Art. 40 VVG).
 
Sachverhalt
A. Nebst einer Reihe weiterer Policen besteht zwischen den Parteien eine "Erwerbsausfallversicherung bei Krankheit". Seit dem 8. Mai 2000 ist der Kläger ganz oder teilweise arbeitsunfähig und die Versicherung erbrachte in der Zeit vom 8. Juni 2000 bis 28. Februar 2002 Taggeldleistungen von über Fr. 100'000.-.
Im Rahmen einer Strafuntersuchung gegen den Kläger wegen Brandstiftung, Irreführung der Rechtspflege und mehrfachen Betrugs machte die Versicherung am 2. April 2002 adhäsionsweise eine Forderung von rund Fr. 150'000.- geltend (Rückforderung der als Sachversicherer geleisteten Entschädigung für einen vorgetäuschten Einbruchdiebstahl; Rückforderung der in Zusammenhang mit dem Brandfall geleisteten Zahlung; Rückforderung der Taggeldleistungen).
Mit Schreiben vom 17. April 2002 erklärte die Versicherung gestützt auf Art. 40 VVG den Rücktritt von sämtlichen Versicherungsverträgen, da sich aufgrund der polizeilichen Untersuchungen ergeben habe, dass mindestens ein Teil der geltend gemachten Forderungen nicht gerechtfertigt gewesen seien; es würden daher keine weiteren Leistungen ausgerichtet und die bereits erbrachten zurückgefordert. Während der Kläger den pauschalen Rücktritt von den anderen Versicherungsverträgen akzeptierte, bestritt er ihn mit Bezug auf die Erwerbsausfallversicherung und ersuchte die Versicherung, die Taggeldzahlungen wieder aufzunehmen.
B. Nachdem die Versicherung dieser Forderung nicht nachgekommen war, reichte der Kläger beim Kreisgericht Rheintal eine Klage ein, mit der er die Auszahlung der restlichen Taggelder und einer Invalidenrente für das erste Quartal verlangte.
Mit Entscheid vom 2. Juli 2003 hiess das Kreisgericht Rheintal die Klage vollumfänglich gut. Das Kantonsgericht St. Gallen wies die kantonale Berufung mit Entscheid vom 20. Oktober 2004 ab.
Das Bundesgericht weist die hiergegen von der Versicherung erhobene eidgenössische Berufung ab.
 
Aus den Erwägungen:
2.2 Gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Gesetzesbestimmung in erster Linie nach ihrem Wortlaut auszulegen. An einen klaren und unzweideutigen Gesetzeswortlaut ist die rechtsanwendende Behörde gebunden. Abweichungen von einem klaren Wortlaut sind indessen zulässig oder sogar geboten, wenn triftige Gründe zur Annahme bestehen, dass er nicht dem wahren Sinn der Bestimmung entspricht. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Norm, aus ihrem Sinn und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben. Vom klaren Wortlaut kann ferner abgewichen werden, wenn die grammatikalische Auslegung zu einem Ergebnis führt, das der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann. Im Übrigen sind bei der Auslegung alle herkömmlichen Auslegungselemente zu berücksichtigen, wobei das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus befolgt und es ablehnt, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (BGE 124 III 266 E. 4 S. 268; BGE 127 III 318 E. 2b S. 322 f.).
Angesichts des klaren Wortlauts bleibt zu prüfen, ob die grammatikalische Auslegung zu einem Ergebnis führt, das der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann, oder ob triftige Gründe zur Annahme bestehen, dass der Wortlaut nicht dem wahren Sinn der Bestimmung entspricht. In diesem Zusammenhang gilt es zunächst, sich mit der Lehrmeinung auseinander zu setzen, wonach dem Versicherer nach richtigem Gesetzesverständnis ein generelles Rücktrittsrecht zustehen müsse (dazu E. 2.3.1). Anschliessend ist auf weitere vorinstanzliche Überlegungen zur Tragweite des Rücktrittsrechts hinzuweisen (E. 2.3.2).
Vorab ist zu bemerken, dass sich der Versicherungsvertrag schlecht mit denjenigen Vertragsverhältnissen vergleichen lässt, für die der Besondere Teil des Obligationenrechts gesetzliche ausserordentliche Beendigungsgründe kennt (namentlich Miet- und Arbeitsvertrag sowie einfache Gesellschaft). Gerade der Arbeitsvertrag wird regelmässig mit einem spezifischen Arbeitgeber und im Hinblick auf die persönlichen Qualitäten des Arbeitnehmers geschlossen. Sodann obliegen dem Arbeitgeber umfassende gesetzliche Fürsorge- und Schutzpflichten (Schutz der Persönlichkeit, Art. 328 OR; Personalvorsorge, Art. 331 ff. OR; Lohnfortzahlung, Art. 324a OR; etc.). Umgekehrt trifft den Arbeitnehmer eine umfassende Sorgfalts- und Treuepflicht (Art. 321a OR). Im Unterschied dazu treten auf dem Versicherungsmarkt weitgehend austauschbare Gesellschaften auf, bei deren Versicherungsangeboten es sich zu einem grossen Teil um ein von der Person des Versicherungsnehmers unabhängiges Massengeschäft handelt. Aber selbst dort, wo die persönlichen Eigenschaften des Versicherungsnehmers geprüft werden, geschieht dies regelmässig zur Risikokalkulation und Prämienbestimmung und kaum je mit Rücksicht auf eine gegenseitige persönliche Verbundenheit der Vertragsparteien.
Wesentlicher als dieser Unterschied ist jedoch, dass sich auch die ausserordentliche Kündigungsmöglichkeit gemäss Art. 266g, Art. 337 oder Art. 545 Abs. 2 OR auf den jeweiligen Miet-, Arbeits- resp. Gesellschaftsvertrag und nicht auf sämtliche zwischen den betreffenden Parteien bestehenden Verträge bezieht. Rechtsdogmatisch lässt sich deshalb von diesen gesetzlich geregelten ausserordentlichen Kündigungsrechten nicht auf ein generelles Rücktrittsrecht des Versicherers schliessen.
Ebenso wenig dürfen die Unterschiede zwischen Kündigung und Rücktritt übersehen bzw. Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolge vermengt werden. Die Kündigung wirkt ex nunc und damit pro futuro, was zur Folge hat, dass bereits erbrachte Leistungen nicht zurückgefordert werden können und die Leistungspflicht aus bereits eingetretenen Ereignissen fortbesteht. Demgegenüber lässt der Rücktritt das Vertragsverhältnis im Grundsatz ex tunc dahinfallen - wobei die Folgen des Rücktritts bei Versicherungsverträgen etwas weniger weit reichend sind (vgl. dazu KÖNIG, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3. Aufl., Bern 1967, S. 91) - und begründet für bereits erbrachte Leistungen einen Rückforderungsanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung (statt vieler: GUHL/MERZ/KOLLER, Das schweizerische Obligationenrecht, 9. Aufl., Zürich 2000, S. 309 f.).
Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist als Zwischenergebnis festzuhalten, dass sich aus dem bei gewissen Dauerschuldverhältnissen gesetzlich vorgesehenen ausserordentlichen Kündigungsrecht nichts für das geforderte generelle Rücktrittsrecht beim Versicherungsvertrag ableiten lässt.
Eine andere Frage ist, ob unabhängig von den im Besonderen Teil des Obligationenrechts normierten Tatbeständen bei Dauerschuldverhältnissen, zu denen auch der Versicherungsvertrag gerechnet wird (KELLER, Die ausserordentliche Auflösung des Versicherungsvertrages, Diss. Freiburg 1983, S. 3; NEF, a.a.O., N. 45 zu Art. 40 VVG), ein allgemeines Lösungsrecht aus wichtigem Grund besteht (vgl. dazu KRAMER/SCHMIDLIN, Berner Kommentar, Allgemeine Einleitung N. 163 f.; BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Zürich 1988, S. 383 f.; GAUCH, System der Beendigung von Dauerverträgen, Diss. Freiburg 1968, S. 192 ff.; ferner GAUCH/SCHLUEP/SCHMID, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl., Zürich 2003, N. 1286a). Wie es sich damit im vorliegenden Fall verhält, kann indes ebenso offen gelassen werden wie die weitere Frage, ob diesfalls die Rücktrittserklärung der Beklagten als Kündigungserklärung anerkannt werden könnte, da bereits die erste der drei Erklärungen nach Eintritt des Erwerbsausfalls abgegeben worden ist und deshalb die Leistungspflicht aus diesem Schadensfall selbst unter der Hypothese einer zulässigen ausserordentlichen Kündigung unberührt bliebe (BUCHER, a.a.O., S. 384).
2.3.3 Beim vorstehenden Resultat braucht nicht im Einzelnen geklärt zu werden, ob es sich bei Art. 40 VVG um eine dispositive Norm handelt, wie die Lehre aufgrund der Liste der zwingenden bzw. einseitig zwingenden Normen in Art. 97 und 98 VVG festhält (ROELLI/KELLER, a.a.O., S. 585; WICKI, a.a.O., S. 69; NEF, a.a.O., N. 45 zu Art. 40 VVG). Hätte der Beklagten die Möglichkeit offen gestanden, die von ihr gewünschte Rechtsfolge in ihren AGB vorzusehen, wäre jedenfalls nicht einzusehen, weshalb ihr entgegen dem klaren Wortlaut von Art. 40 VVG ein betreffendes Recht ex lege eingeräumt werden müsste.