BGE 116 II 651
 
115. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. November 1990 i.S. S. & Co. gegen K.
 
Regeste
Unentgeltliche Rechtspflege (Art. 152 OG).
 
Aus den Erwägungen:
2. Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat nach Art. 152 OG die bedürftige Partei, deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Die Regelung ist nach der Rechtsprechung auf natürliche Personen zugeschnitten; juristische Personen sind vom Anspruch ausgeschlossen (BGE 88 II 386 Nr. 54). Diese können sich ausserhalb des Regelungsbereichs des Bundesprozessrechts auch nicht auf die verfassungsmässige Garantie der unentgeltlichen Rechtspflege nach Art. 4 BV berufen (nicht publ. Entscheid vom 11. März 1987 i.S. S. AG c. M.). Bisher nicht entschieden wurde die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen parteifähige Rechtsgebilde - insbesondere Kollektiv- und Kommanditgesellschaften -, welchen keine oder keine volle Rechtsfähigkeit als juristische Personen zukommt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege haben; verneint wurde sie lediglich für die Konkursmasse (BGE 61 III 170 Nr. 49).
a) Die bundesgerichtliche Rechtsprechung entspricht herrschender schweizerischer Auffassung (HAEFLIGER, Der bundesrechtliche Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im Zivilprozess, FS 500 Jahre Solothurn im Bund, S. 375 ff., 378; derselbe, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, S. 162/3; KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl. 1984, S. 253; VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechts, 2. Aufl. 1988, S. 231, Rz. 62; LEUCH, N 2 zu Art. 77 ZPO BE). Abweichende Meinungen haben sich nicht durchzusetzen vermocht (vgl. etwa GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 410 Fn. 30 lit. c; CHRISTIAN FAVRE, L'assistance judiciaire gratuite en droit suisse, Diss. Lausanne 1988, S. 98 ff. mit weiteren Hinweisen in Fn. 2, S. 101).
Von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen, besteht keine Veranlassung, auch nicht mit Blick auf die europäische Menschenrechtskonvention. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK beschränkt den Anspruch auf Verbeiständung ausdrücklich auf den Bereich des Strafverfahrens. Die Rechtsprechung hat es bisher abgelehnt, aus den Verfahrensgarantien dieser Bestimmung einen allgemeinen Anspruch der bedürftigen Partei auf unentgeltliche Zivilrechtspflege abzuleiten (Berger, Jurisprudence de la Cour européenne des droits de l'homme, 2e éd. 1984, S. 110 Nr. 227; zum Gesamten auch PATRICK WAMISTER, Die unentgeltliche Rechtspflege, die unentgeltliche Verteidigung und der unentgeltliche Dolmetscher unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 BV und Art. 6 EMRK, Diss. Basel 1983, S. 62 ff. und 72 f.).
Die Antinomie zwischen natürlichen und juristischen Personen wird der Kollektiv- und der Kommanditgesellschaft allerdings nicht gerecht und erlaubt daher für sich allein deren feste Zuordnung unter den einen oder andern Begriff nicht. Ob sie Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege haben, ist daher aus systematischen und namentlich teleologischen Erwägungen zu ermitteln.
b) Die Bestimmungen der Kantone zur hier interessierenden Frage lassen sich im wesentlichen in vier Kategorien einteilen.
aa) Eine erste Gruppe von Kantonen gewährt die unentgeltliche Rechtspflege der bedürftigen, unvermögenden oder armen Partei, ohne ausdrücklich nach der Art der Rechtspersönlichkeit zu unterscheiden (§ 305 ZPO LU, Art. 94 ZPO UR, § 75 ZPO SZ, § 173 ZPO BS, § 71 ZPO BL, NE Art. 2 loi sur l'assistance judiciaire et administrative).
Ausdrücklich zugelassen oder befürwortet wird die unentgeltliche Rechtspflege für Kollektiv- und Kommanditgesellschaften in den Kantonen Luzern (SJZ 27/1930/31, S. 103 Nr. 86; WALTER DÜGGELIN, Das zivilprozessuale Armenrecht im Kanton Luzern, S. 33) und Basel-Stadt (HABERTHÜR, Praxis zur Basler Zivilprozessordnung, Band II, S. 728).
bb) Eine zweite Gruppe beschränkt den Anspruch auf natürliche Personen, ohne sich über die Zuordnung der Personengesellschaften ausdrücklich auszusprechen (§ 106 Abs. 3 ZPO SO, § 125 ZPO AG, § 80 ZPO TG, Art. 155 ZPO TI, VD Art. 1 loi sur l'assistance judiciaire en matière civile, GE Art. 143A loi sur l'organisation judiciaire).
Zugelassen zur unentgeltlichen Rechtspflege scheinen die Kollektiv- und Kommanditgesellschaften namentlich in den Kantonen Aargau (EICHENBERGER, Beiträge zum aargauischen Zivilprozessrecht, S. 91; derselbe, N 2 zu § 125 ZPO AG) und Thurgau zu sein (vgl. Bundesgerichtsentscheid vom 8. September 1989 i.S. C. c. S.).
cc) Damit verwandt sind die Regelungen einer dritten Gruppe, wonach die Prozessarmut davon abhängig ist, dass die Partei die Prozessmittel neben dem Lebensunterhalt für sich und ihre Familie nicht aufbringen kann, was ebenfalls bloss auf natürliche Personen zugeschnitten sein dürfte (Art. 77 ZPO BE, Art. 98 ZPO OW, Art. 51 GG NW, Art. 53 ZPO GL, § 46 ZPO ZG, FR Art. 1 des Gesetzes betreffend die unentgeltliche Rechtspflege, Art. 127 ZPO SH, Art. 98 ZPO AI, Art. 156 ZPO SG, Art. 76 ZPO JU, VS Art. 4 des Gesetzes zur Verminderung der Ausgaben an Gerichtskosten und zum Zwecke der Abänderung einiger Artikel der Prozessordnung).
Befürwortet wird die unentgeltliche Rechtspflege für Kollektiv- und Kommanditgesellschaften namentlich in den Kantonen Bern (LEUCH, N 2 zu Art. 77 ZPO BE), Glarus (THOMAS NUSSBAUMER, Ausgewählte Rechtsbehelfe der Glarner Zivilprozessordnung, Diss. Zürich 1980, S. 41) und Zug (KURT MEYER, Das zivilprozessuale Armenrecht im Kanton Zug, Diss. Freiburg 1952, S. 81).
dd) Eine vierte Gruppe schliesslich nimmt die Handelsgesellschaften vom Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege ausdrücklich aus (§ 84 Abs. 3 ZPO ZH, Art. 87 Abs. 2 ZPO AR allerdings beschränkt auf den Regelfall, Art. 42 Abs. 5 ZPO GR).
c) In der schweizerischen Literatur wird im allgemeinen die Auffassung vertreten, den Kollektiv- und Kommanditgesellschaften sei bei eigener Prozessarmut und solcher ihrer unbeschränkt haftenden Gesellschafter für nicht aussichtslose Vorkehren das Recht der unentgeltlichen Rechtspflege zu gewähren (vgl. neben den zu den einzelnen kantonalen Regelungen aufgeführten Autoren namentlich SONTAG, SAG 21/1948/49, S. 94/5; FRITZ VON STEIGER, SAG 23/1950/51, S. 161 ff.; WAMISTER, a.a.O., S. 73; FAVRE, a.a.O., S. 102).
Die deutsche (§ 116 Ziff. 2) und die österreichische (§ 63 Abs. 2) ZPO ermöglichen die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege auch an juristische Personen und parteifähige Vereinigungen (DZPO) oder Gebilde (AZPO), wenn die erforderlichen Mittel weder von ihnen noch von den am Rechtsstreit wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können.
d) Den Kollektiv- und den Kommanditgesellschaften geht nach schweizerischer Auffassung die Rechtspersönlichkeit ab (BGE 95 II 549 E. 2). Sie erscheinen als Gesamthandgemeinschaften, die allerdings in bestimmten Hinsichten wie juristische Personen behandelt werden (MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, Grundriss des schweizerischen Gesellschaftsrechts, 6. Aufl. 1989, S. 205 Rz. 15 und S. 223 Rz. 14; WERNER VON STEIGER, SPR VIII/1, S. 244/5, 528 ff. und 589/90; BUCHER, N 110 zu Art. 11 ZGB). BUCHER spricht von der geläufigen Formel, diese Gesellschaften im Innenverhältnis als Gesamthandschaften, im Aussenverhältnis dagegen als juristische Personen zu bezeichnen (N 49 zu Art. 11 ZGB).
Das Bundesgericht hat in BGE 88 II 388 (E. 3) die juristischen Personen vom Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nach Art. 152 OG ausgenommen, weil sie im Sinne des Gesetzes nicht "bedürftig" oder nach dem französischen Gesetzestext nicht "dans le besoin" sein könnten. Dem Gesetzgeber habe vorgeschwebt, den armen wie den reichen Mann gleichermassen zur Rechtsverfolgung zuzulassen. Die Rechtsgleichheit könne aber im hier interessierenden Bereich zwischen natürlichen und juristischen Personen nicht angerufen werden. Auf die Verhältnisse der weiteren Beteiligten, namentlich der Mitglieder der juristischen Person, könne nichts ankommen, da nicht ihr Prozess geführt werde.
Vieles spricht dafür, diese Erwägungen auch gegenüber Kollektiv- und Kommanditgesellschaften anzuwenden und sie entsprechend vom Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nach Art. 152 OG auszuschliessen. Nach deutschem Recht werden die parteifähigen Vereinigungen in dieser Hinsicht den juristischen Personen gleichgesetzt (§ 116 Ziff. 2 DZPO), was namentlich damit begründet wird, dass die für natürliche Personen geltenden Kriterien der Prozessarmut auf sie nicht anwendbar seien (ROSENBERG/SCHWAB, Zivilprozessrecht, 14. Aufl. 1986, S. 522).
Demgegenüber ist nicht zu übersehen, dass die Kollektiv- und Kommanditgesellschaften namentlich in vermögensrechtlicher Hinsicht Gesamthandverhältnisse sind, die zwar selbständig Vermögensrechte unter eigener Firma erwerben können (WERNER VON STEIGER, a.a.O., S. 529), dieses Sondervermögen aber in Wirklichkeit nicht der Gesellschaft, sondern den Gesellschaftern zu gesamter Hand zusteht und diese Träger der Rechte und Pflichten sind (MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, a.a.O., S. 205 Rz. 16). Ein gegen die parteifähige Gesellschaft ergehendes Urteil berührt daher unmittelbar auch die Gesellschafter persönlich, entfaltet ihnen gegenüber formelle und materielle Rechtskraftwirkung, soweit nicht ausschliesslich persönliche Einreden in Frage stehen (BGE 71 II 40). Ein gegen die Gesellschaft ergangenes Urteil gibt daher einen Rechtsöffnungstitel - nach herrschender Auffassung allerdings bloss einen provisorischen - auch gegen die unbeschränkt haftenden Gesellschafter ab (SIEGWART, N 12 zu Art. 562 OR; HARTMANN, N 16 zu Art. 562 OR; WERNER VON STEIGER, a.a.O., S. 533). Sie haften für die Gesellschaftsschulden solidarisch und mit ihrem ganzen Vermögen (Art. 568 Abs. 1 und 594 Abs. 1 OR). Diese materielle Rechtsträgerschaft der Gesellschafter aber unterscheidet die Personengesellschaften entscheidend von den juristischen Personen, auch von der Konkursmasse (BGE 61 III 170), so dass sich nicht rechtfertigt, sie grundsätzlich vom Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege auszuschliessen. Insbesondere ist auch zu beachten, dass die Gesellschafter - im Gegensatz zu den Konkursgläubigern - keine Möglichkeit haben, einen Prozess an Stelle der Gesellschaft in eigenem Namen oder in Prozessstandschaft zu führen, insbesondere nicht auf der Passivseite. Die Personengesellschaften sind daher insoweit den natürlichen und nicht den juristischen Personen gleichzusetzen.
Damit ist gleichzeitig gesagt, dass die Gewährung des Rechts zur unentgeltlichen Prozessführung an Kollektiv- und Kommanditgesellschaften nur in Frage kommt, wenn die Prozessarmut sowohl der Gesellschaft wie aller unbeschränkt haftenden Gesellschafter erstellt ist (statt vieler LEUCH, a.a.O.). Sind ein oder mehrere unbeschränkt haftende Gesellschafter in der Lage, für die Prozesskosten aufzukommen, obliegt ihnen als materielle Rechtsträger auch die Vorschusspflicht. Die Bedürftigkeit bloss einzelner Gesellschafter gibt keinen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, da im Gesellschaftsprozess keine Streitgenossenschaft vorliegt (vgl. BGE 115 Ia 193). Die unentgeltliche Rechtspflege kann entzogen werden, wenn die Gesellschaft oder einer ihrer unbeschränkt haftenden, bisherigen oder neu eingetretenen Gesellschafter zur Bevorschussung zusätzlicher Prozesskosten in die Lage kommt. Über ihre Solidarhaftung unterstehen sodann auch die Kollektivgesellschafter und die Komplementäre dem Rückforderungsvorbehalt von Art. 152 Abs. 3 OG.