BGE 97 II 216
 
31. Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Mai 1971 i.S. X. gegen Helvetia-Unfall.
 
Regeste
Art. 62 SVG, Art. 42 Abs. 1 und 2 OR.
2. Fall eines Anwalts, der infolge Unfalls die Arbeitszeit eines Monats nicht ausnützen konnte; Anhaltspunkte, die es dem Richter erlauben, den Erwerbsausfall durch Schätzung zu ermitteln (Erw. 2).
 
Sachverhalt
A.- X. ist als freierwerbender Anwalt in St. Gallen tätig. Am 29. Dezember 1967 erlitt er als Mitfahrer eines Personenwagens, der von einem Lastwagen gerammt wurde, insbesondere eine Hirnerschütterung; er war deswegen nach den Feststellungen des Arztes während 15 1/2 Arbeitstagen ganz und während weitern 15 Tagen zur Hälfte arbeitsunfähig. X. verlangte von der Versicherungsgesellschaft "Helvetia-Unfall", welche für die Haftpflicht des Lastwagenhalters aufzukommen hatte, Fr. 13'800.-- für Verdienstausfall.
Die "Helvetia-Unfall" anerkannte einen Betrag von Fr. 5'000.--; eine weitergehende Schuldpflicht bestritt sie, weil die Ansprüche des Verletzten übersetzt seien. X. klagte daraufhin gegen die Versicherungsgesellschaft auf Bezahlung von Fr. 8'800.-- nebst Zins. Falls die Forderung nicht voll geschützt werden sollte, beanspruchte er eine Genugtuungvon Fr. 1'000.--.
B.- Das Bezirksgericht Zürich und auf Appellation hin am 19. November 1970 auch das Obergericht des Kantons Zürich wiesen die Klage ab.
Das Obergericht hält dem Kläger entgegen, dass er seine Schadenersatzforderung nicht auf Behauptungen über einen tatsächlichen Verdienstausfall gestützt, sondern sich mit einer abstrakten Berechnung, die hier unzulässig sei, begnügt habe. Er hätte darlegen müssen, dass er infolge seiner vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit ganz bestimmte Mindereinnahmen hatte; diesen Beweis habe er nicht angetreten, obwohl es ihm möglich und zumutbar gewesen wäre, entgangene Mandate durch seine Kanzlei notieren zu lassen. Eine konkrete Schadensberechnung erweise sich mangels näherer Substanzierung als unmöglich.
C.- Der Kläger beantragt dem Bundesgericht auf dem Wege der Berufung, dieses Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm Fr. 8'800.--, eventuell einen Betrag nach richterlichem Ermessen nebst 5% Zins seit 1. Februar 1968 zu bezahlen. Er macht geltend, das angefochtene Urteil beruhe auf einer falschen Auslegung von Art. 42 OR. Eine Genugtuung beansprucht er nicht mehr.
Die Beklagte hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Abs. 2 ist im Verhältnis zu Abs. 1 eine Ausnahmebestimmung, die anwendbar ist, wenn ein sicherer Beweis für die Höhe oder das Vorhandensein eines Schadens nicht erbracht werden kann (BGE 81 II 55 Erw. 5). Sie enthebt den Geschädigten nicht der Pflicht, dem Richter die Tatsachen, die als Anhaltspunkte für die Entstehung und die Höhe des geltend gemachten Schadens in Betracht kommen, anzugeben und dafür Beweise anzubieten. Das gilt umsomehr, als die Behauptungs- und Substanzierungspflicht sich nicht aus Art. 8 ZGB ergibt, sondern dem kantonalen Recht angehört, dieses folglich darüber zu bestimmen hat, wieweit die Parteien die ihre Ansprüche begründenden Tatsachen vorzubringen haben und wieweit der Richter nicht vorgebrachte Tatsachen von sich aus berücksichtigen darf (BGE 78 II 98, BGE 87 II 141, BGE 89 II 121, BGE 95 II 451). Eine genaue Substanzierung des Schadens darf in Fällen, für die Art. 42 Abs. 2 OR gilt, jedoch auch nach dem kantonalen Recht nicht verlangt werden, da dadurch der Zweck der bundesrecchtlichen Bestimmung vereitelt würde (BGE 77 II 187/8). Wenn die Nachteile nicht im einzelnen und ziffermässig erfasst werden können, die Akten aber genügend Anhaltspunkte für eine Schädigung enthalten, hat der Richter den Schaden vielmehr nach den in Art. 42 Abs. 2 OR aufgestellten Grundsätzen durch Schätzung zu ermitteln (BGE 74 II 81, BGE 81 II 55 Erw. 5, BGE 93 II 458).
2. Im vorliegenden Fall liess sich feststellen, dass der Kläger wegen der Verletzungen, die er beim Verkehrsunfall erlitt, während 15 1/2 Tagen überhaupt nicht und während weitern 15 Tagen bloss zur Hälfte arbeiten konnte, insgesamt also 23 Arbeitstage verloren hat. Dieser Ausfall entspricht, wenn Ferien sowie Sonn- und Feiertage mitberücksichtigt werden, der Arbeitszeit eines Monats. Dem angefochtenen Urteil ist ferner zu entnehmen, dass der Kläger, der seit ungefähr 15 Jahren als Anwalt tätig ist, zur Zeit des Unfalls vollbeschäftigt und sein juristischer Mitarbeiter selber so beansprucht war, dass er ihn während der unfallbedingten Abwesenheit nicht vertreten konnte.
Ein sicherer Beweis für die Höhe des Schadens, der dem Kläger aus dem Verlust von 23 Arbeitstagen erwachsen ist, liess sich dagegen nicht erbringen. Entgegen der Annahme der Vorinstanz lässt sich insbesondere nicht sagen, es wäre dem Kläger möglich und zuzumuten gewesen, entgangene Mandate während seiner Abwesenheit durch die Kanzlei aufschreiben zu lassen, um den tatsächlichen Einkommensausfall berechnen und belegen zu können. Solche Aufzeichnungen taugen zum vorneherein nicht als Beweis, ganz abgesehen davon, dass von einem Verunfallten nicht verlangt werden kann, seine Angestellten vom Krankenlager aus zur Beweissicherung zu verhalten, um Einwänden des Haftpflichtigen begegnen zu können. Das Obergericht verkennt, dass Kunden, die einen Anwalt aufsuchen wollen, dessen Angestellte nicht über ihre Anliegen aufzuklären pflegen; jedenfalls ist nicht zu ersehen, wieso sie es gerade dann tun sollten, wenn der Anwalt wegen eines Unfalles ausserstande ist, sich ihrer Sache anzunehmen. Wer sich telephonisch anmelden will oder sonst erfährt, dass der Anwalt arbeitsunfähig ist, wird seine Praxis ohnehin nicht aufsuchen. Ob ein Sachverhalt, für den der Anwalt sich einzusetzen hat, einen Prozess erfordert oder durch Vergleich erledigt werden kann, dem Beauftragten viel oder wenig Arbeit verursachen wird und welcher Streitwert der Sache zugrunde liegt, lässt sich zudem nicht im voraus beurteilen, folglich auch die Entschädigung, die der Anwalt nach Erledigung des Falles für seine Bemühungen und Geschäftsunkosten verlangen darf, nicht verlässlich festsetzen. Zu bedenken ist ferner, dass der Anwalt Mandate ablehnen und sein Kunde einen erteilten Auftrag jederzeit widerrufen kann.
Dem Kläger während seiner vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit entgangene Aufträge sind somit keine brauchbare Grundlage für die Berechnung seines Erwerbsausfalles. Sicher nachweisen können hätte er einzig Sitzungsgelder aus Verwaltungsratsmandaten, die er bereits früher übernommen, während seiner Arbeitsunfähigkeit aber nicht ausüben konnte. Im übrigen lässt sich sein Schaden aber nur durch Schätzung nach den Grundsätzen des Art. 42 Abs. 2 OR ermitteln. Auszugehen ist dabei von der Tatsache, dass er die Arbeitszeit eines Monats nicht ausnutzen konnte. Dass der Kläger die dadurch entstandenen Rückstände durch vermehrten Einsatz, insbesondere durch Überstunden hätte aufholen können und sollen, wie die Vorinstanz anzunehmen scheint, geht zu weit und kann von einem Freierwerbenden nicht verlangt werden. Das wird auch Unselbständigerwerbenden nicht zugemutet, die übrigens für Überstunden oder Leistungen ausserhalb der ordentlichen Arbeitszeit in der Regel besonders und zudem nach erhöhten Ansätzen entschädigt werden.
Der Kläger hat zum Beweise seines Erwerbsausfalles eine Bescheinigung der Steuerbehörde, wonach er im Jahre 1968 einen Umsatz von über 191'000.-- erzielte, eingereicht und ein betriebstechnisches Gutachten über die Kosten- und Ertragsstruktur der Anwaltspraxen im Kanton Bern beigebracht, das für das Jahr 1967 eine Honorarsumme von Fr. 120'000.-- bzw. bei 1600 fakturierbaren Arbeitsstunden ein Stundenhonorar von Fr. 75.- annimmt. Den Akten ist ferner zu entnehmen, dass der Kläger zahlreiche Verwaltungsratsmandate ausübt, im Jahre 1967 Fr. 50'000.-- Einkommen versteuert und im Verfahren unter Vorbehalt des Berufsgeheimnisses eine Buchexpertise beantragt hat, die aber nicht durchgeführt worden ist. Die in den Akten enthaltenen Belege bieten indes genügend Anhaltspunkte, um den Schaden des Klägers durch Schätzung zu ermitteln. Das gilt insbesondere vom Gutachten, das auf breiten Erhebungen beruht und sich auf den ganzen Kanton Bern bezieht, folglich einem gesamtschweizerischen Durchschnitt nahe kommen dürfte. Der Kläger hat denn auch schon in der Klage vor allem auf dieses Gutachten abgestellt, was angesichts der bestehenden Beweisschwierigkeiten verständlich ist. Das Bundesgericht hält in Würdigung aller Umstände dafür, dass dem Kläger durch den Unfall ein Erwerbsausfall von rund 10'000 Franken entstanden ist; allenfalls entgangene Einnahmen aus Verwaltungsratsmandaten sind dabei, weil der Kläger sie hätte nachweisen können, nicht berücksichtigt worden. Die Beklagte schuldet dem Kläger somit noch einen Betrag von Fr. 5'000.--, den sie ab 1. Februar 1968, als sie erstmals zur Zahlung aufgefordert worden ist, mit 5% zu verzinsen hat.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird teilweise gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 19. November 1970 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger Fr. 5'000.-- nebst 5% Zins seit 1. Februar 1968 zu bezahlen.