BGE 86 II 287
 
45. Urteil der II. Zivilabteilung vom 13. Mai 1960 i.S. Gemeinderat Littau und Vonwyl gegen Städtische Vormundschaftsdirektion Luzern und Regierungsrat des Kantons Luzern.
 
Regeste
Wechsel des Wohnsitzes eines Bevormundeten.
Dies ist keine Zuständigkeitsnorm, sondern eine Regel des materiellen Vormundschaftsrechts.
Ihre Anwendung unterliegt nicht der Berufung nach Art. 44 lit. c OG.
Wann ist Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 68, wann staatsrechtliche Klage nach Art. 83 lit. e OG zulässig?
 
Sachverhalt
A.- St. war seinerzeit in Kriens entmündigt worden; doch wurde die Vormundschaft später infolge Wegzuges der Familie nach Littau dort geführt. Während St. 1956/57 durch Strafurteil in eine Trinkerheilanstalt eingewiesen war, suchte und fand seine Ehefrau eine Wohnung in Luzern, wohin sich die Familie nach der bedingten Entlassung St's begab.
B.- Fast ein Jahr später ersuchte die Vormundschaftsbehörde Littau diejenige von Luzern um Übernahme der Vormundschaft. Gegen die Ablehnung führte sie beim Amtsgehilfen für das Amt Luzern mit Erfolg Beschwerde. Doch hiess der Regierungsrat des Kantons Luzern am 7. April 1960 eine Beschwerde der Vormundschaftsdirektion der Stadt Luzern gegen den erstinstanzlichen Entscheid gut "mit der Feststellung, dass die Vormundschaftsbehörde der Stadt Luzern zur Übernahme der Vormundschaft über St. nicht verpflichtet ist".
C.- Gegen den Entscheid des Regierungsrates richtet sich die vorliegende auf Art. 68 Abs. 1 lit b OG gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Vormundschaftsbehörde Littau und des Vormundes. Die Anträge gehen dahin, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und die Vormundschaftsbehörde von Luzern sei anzuweisen, die Vormundschaft über St. zu übernehmen. Vor der Begründung dieses Antrages wird in der Beschwerde unter "Legitimation" ausgeführt:
"Die Frage der Übertragung einer Vormundschaft von einer Vormundschaftsbehörde zur andern ist in Art. 377 ZGB geregelt. Diese Gesetzesbestimmung enthält eine örtliche Zuständigkeitsvorschrift in dem Sinne, dass sie die Frage, welche Vormundschaftsbehörde eine Vormundschaft zu führen habe, regelt. Streitigkeiten darüber sind solche in Zivilsachen und unterliegen daher der Nichtigkeitsbeschwerde gemäss Art. 68 lit b OG (BGE 72 II 334; BGE 83 II 185). Zur Ergreifung dieses Rechtsmittels ist sowohl die am kantonalen Verfahren beteiligte Behörde legitimiert, wie der Vormund als solcher (BGE 83 II 186 E. 2)".
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer enthält Art. 377 ZGB keine Vorschrift über die örtliche Zuständigkeit, weder nach seinem Wortlaut noch nach der ihm zukommenden Auslegung. Der Randitel lautet "Wechsel des Wohnsitzes", und die Gesetzesnorm selbst sieht vor, dass es zum Wechsel des Wohnsitzes eines Bevormundeten der Zustimmung der Vormundschaftsbehörde bedarf (Abs. 1), dass, wenn ein solcher Wechsel erfolgt ist, die Vormundschaft auf die Behörde des neuen Wohnsitzes übergeht (Abs 2), und dass sie am neuen Wohnsitze zu veröffentlichen ist (Abs. 3). Angesichts der für den Wohnsitz bevormundeter Personen grundlegenden Norm des Art. 25 Abs. 1 ZGB bedürfen die beiden ersten Absätze des Art. 377 der Klarstellung. Abs. 1 hat nicht den Wohnsitz im Rechtssinne, sondern den tatsächlichen Wohnort des Mündels im Auge. Hat die Vormundschaftsbehörde der Verlegung dieses Wohnortes (und zwar aus zureichenden Gründen, im Interesse des Mündels) zugestimmt, so soll nach Abs. 2 die Vormundschaft auf die Behörde des neuen Wohnortes übergehen, d.h. ihr von der Behörde des alten Wohnortes angetragen und von ihr übernommen werden. Erst durch diesen übereinstimmenden Beschluss wird der Übergang der Vormundschaft bewirkt, und erst dadurch tritt auch der Wechsel des rechtlichen Wohnsitzes ein, der, solange die Vormundschaft als solche dauert, ein abgeleiteter Wohnsitz im Sinne von Art. 25 Abs. 1 ZGB bleibt. Nach ständiger Rechtsprechung hat und behält der Bevormundete seinen Wohnsitz, gleichgültig wo er tatsächlich wohnt, am Sitz derjenigen Vormundschaftsbehörde, welche die Vormundschaft (derzeit noch) führt, mögen auch die Voraussetzungen einer Übertragung vorliegen, und mag auch ein dahingehender Antrag an die Behörde des neuen Wohnortes bereits gestellt sein (BGE 34 I 297 BGE 39 I 608, BGE 59 I 211). Auch wenn man Art. 377 auf solche Weise mit Art. 25 ZGB verbindet, stellt er sich nicht als Zuständigkeitsnorm dar, sondern bleibt eine materiellrechtliche Vorschrift über Möglichkeit, Voraussetzungen und Art der Bewirkung einer Wohnsitzverlegung des Mündels, die eben durch Übertragung der Vormundschaft auf die Behörde des neuen tatsächlichen Wohnortes zustande kommt (vgl. auch K. SPECKER, Die Übertragung der Vormundschaft zur Weiterführung, S. 17 ff., und G. SPITZER, Die Übertragung und Übernahme vormundschaftlicher Massnahmen, in der Zeitschrift für Vormundschaftswesen 1960 S. 1 ff.).
Demgemäss betrifft ein Streit darüber, ob die Vormundschaft über eine bestimmte Person am bisherigen Ort weiterzuführen oder, mit der Folge der Wohnsitzverlegung, auf die Behörde eines andern Kreises zu übertragen (und somit von dieser Behörde zu übernehmen) sei, keine Frage der in einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen örtlichen Zuständigkeit. Gewiss ist die Wohnsitzverlegung, wenn einmal auf die beschriebene Weise zustande gekommen, massgebend für die künftige örtliche Zuständigkeit zu vormundschaftlichen Massnahmen in bezug auf den betreffenden Mündel, ebenso wie übrigens auch für die künftige örtliche Zuständigkeit anderer Behörden bei Angelegenheiten dieses Mündels, soweit die Zuständigkeit eben an dessen Wohnsitz gebunden ist. Die Wohnsitzverlegung selbst aber, kraft Übertragung der Vormundschaft auf die Behörde eines andern Kreises, ist eine im Rahmen der über eine bestimmte Person bestehenden Vormundschaft zu treffende Massnahme, die den Interessen des Mündels hinsichtlich der Gestaltung seiner Wohnsitzverhältnisse Rechnung tragen soll. Ob die Voraussetzungen dazu gegeben seien, ist eine Frage des materiellen Vormundschaftsrechts, eben des Art. 377 ZGB.
Ein derartiger Streit über die Vormundschaftsübertragung und Wohnsitzverlegung, wodurch der Bestand der Vormundschaft über die betreffende Person nicht berührt wird, kann weder mit Berufung noch mit Nichtigkeitsbeschwerde vor das Bundesgericht gebracht werden. Die Berufung ist ausgeschlossen, weil Art. 44 lit. c OG diese vormundschaftliche Massnahme nicht einbezieht. Ebenso war in solchen Fällen die zivilrechtliche Beschwerde nach Art. 86 Ziff. 3 aoG unzulässig (BGE 54 II 399). Und die Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 68 OG kommt nicht in Frage gegenüber einem auf Art. 377 ZGB, also auf Bundesrecht, beruhenden Entscheid einer, wie nicht bestritten ist, hiefür zuständigen Behörde, wie hier des luzernischen Regierungsrates. Unter solchen Umständen kann von einer Rechtsverletzung im Sinne des Art. 68 Abs. 1 lit. a oder b OG nicht die Rede sein. Die vorliegende Beschwerde rügt denn auch nichts derartiges, sondern wendet sich bloss gegen den regierungsrätlichen Sachentscheid, der, wie dargetan, keine Zuständigkeitsfrage betrifft.
Endlich kommt nicht in Frage, diese Beschwerde als staatsrechtliche Klage gemäss Art. 83 lit e OG an Hand zu nehmen. Eine solche Klage ist laut dieser Vorschrift nur im interkantonalen Verhältnis zulässig (wie schon vordem, vgl. Art. 180 Ziff. 4 aoG). Ausserdem wäre die Vormundschaftsbehörde von Littau auch gegenüber der Behörde eines andern Kantons nicht zu solchem Vorgehen befugt, nachdem ihr Übertragungsbeschluss von der ihr vorgesetzten kantonalen Aufsichtsbehörde aufgehoben worden ist (BGE 85 I 111 ff.). Der Vormund wäre zur staatsrechtlichen Klage von vornherein nicht legitimiert.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Nichtigkeitsbeschwerde wird nicht eingetreten.