BGE 86 II 51
 
8. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 23. Februar 1960 i.S. Brack gegen Schweizerische Unfallversicherungsge- sellschaft in Winterthur.
 
Regeste
Art. 37 Abs. 2, 38, 39, 42 MFG, Beweislast.
 
Sachverhalt
Brack war im Begriffe, mit seinem Motorwagen zwei andere zu überholen. Er merkte zu spät, dass Fillinger, der das vorderste Fahrzeug führte, nach links auf einen neben der Strasse liegenden Rasenplatz fahren wollte. Beim Versuch, hinter dem abschwenkenden Wagen hindurch nach rechts auszuweichen, stürzte das Fahrzeug Bracks über eine Böschung hinunter und wurde zerstört.
Brack und seine mit ihm fahrende Ehefrau erlitten Verletzungen. Brack klagte gegen die Schweizerische Unfallversicherungsgesellschaft in Winterthur, die den Fillinger gegen die Folgen der Haftpflicht versichert hatte, auf Ersatz seines Sach- und Körperschadens und auf Leistung einer Genugtuungssumme. Die Beklagte bestritt die Schadenersatzpflicht zur Hälfte und die Genugtuungspflicht ganz. Ausserdem erklärte sie, für Schadenersatz, den sie Frau Brack geleistet hatte, zur Hälfte auf den Kläger zurückgreifen zu wollen und ihre Forderung mit der anerkannten Schuld zu verrechnen.
 
Aus den Erwägungen:
b) Kraft der in Art. 39 Satz 1 MFG enthaltenen Verweisung richtet sich die Ersatzpflicht für körperlichen Schaden, den Halter von Motorfahrzeugen einander zufügen, nach Art. 37 MFG. Das bedeutet, dass sowohl den Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge als auch den von den Haltern schuldhaft gesetzten anderen Ursachen des Schadens Rechnung zu tragen ist (BGE 68 II 118ff., BGE 84 II 307 ff.). Ein Schaden, der auf ungefähr gleich grossen Betriebsgefahren beruht und von den beteiligten Haltern verschuldet wurde, ohne dass noch andere zu beachtende Umstände vorlägen, muss daher von den Haltern in dem Verhältnis getragen werden, in dem das Verschulden des einen zum Verschulden des anderen steht (BGE 78 II 461ff., BGE 82 II 538 f.). Diese Regel ist bei beidseitigem Verschulden auf den Körperschaden des Klägers anwendbar, da die Betriebsgefahren beider Fahrzeuge ungefähr gleich gross waren und keine anderen Umstände bestanden, die für seine Verteilung Gewicht haben könnten. Die Parteien beanstanden denn auch die erwähnteRechtsprechung nicht.
c) Eine Genugtuungssumme kann dem Kläger gemäss Art. 42 MFG nur zugesprochen werden, wenn Fillinger den Unfall verschuldet hat. Der Richter hat dabei die "besonderen Umstände" zu würdigen. Als solcher Umstand gilt das Mitverschulden des Verletzten; es kann die Abweisung der Genugtuungsforderung selbst gegenüber einem schuldigen Halter rechtfertigen (BGE 79 II 399).
d) Von der Frage, ob und in welchem Verhältnis Fillinger einerseits und der Kläger anderseits den Unfall verschuldet haben, hängt auch der Rückgriff ab, den die Beklagte gegenüber dem Kläger wegen des an Frau Brack geleisteten Schadenersatzes ausüben will. Denn Art. 38 MFG bestimmt, dass die beteiligten Halter den Schaden, den mehrere Motorfahrzeuge einem Dritten verursachen, solidarisch zu ersetzen (Abs. 1) und unter sich im Verhältnis der Grösse ihres Verschuldens zu tragen haben (Abs. 2).
a) Soweit der Kläger Ersatz von Sachschaden verlangt, ist er kraft der Verweisung des Art. 39 Satz 2 MFG den allgemeinen Regeln über die Beweislast unterworfen, die im Forderungsstreit aus unerlaubter Handlung gelten, nämlich dem Art. 8 ZGB, wonach derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen hat, der aus ihr Rechte ableitet. Darnach hatte der Schadenersatz fordernde Kläger zu beweisen, dass Fillinger ein Verschulden treffe und wie schwer es sei. Der Beweis dafür, dass der Kläger seiner Warnpflicht nachgekommen sei, war daher unter diesem Gesichtspunkt vom Kläger selber zu erbringen.
b) Soweit die Ersatzforderung für Körperschaden in Frage steht, richtet sich die Beweislast nach Art. 37 MFG, denn die Verweisung des Art. 39 Satz 1 MFG gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts, die von den Parteien nicht angefochten wird, auch in dieser Hinsicht (BGE 76 II 229ff.).
Das bedeutet nicht, dass der belangte Halter ausser der eigenen Schuldlosigkeit auch das Verschulden des Geschädigten zu beweisen habe. Diese in Art. 37 Abs. 2 MFG aufgestellte Regel ist auf den Fall zugeschnitten, dass der Geschädigte nicht Halter ist. Hat er den Schaden als Halter eines Motorfahrzeuges mitverursacht, so würde sie dazu führen, dass die Unsicherheit über sein eigenes Verhalten sogar bei nachgewiesener Schuldlosigkeit des andern sich ausschliesslich zum Nachteil des belangten Halters auswirken würde, obschon auch der Geschädigte durch sein Fahrzeug eine Betriebsgefahr gesetzt hat. Das widerspräche dem von der Rechtsprechung anerkannten Grundsatz, dass beim Fehlen eines Verschuldens des einen und des anderen Halters der Schaden im Verhältnis der Grösse der Betriebsgefahren der beiden Fahrzeuge von beiden Haltern zu tragen ist. Was für den Fall gilt, dass die Schuldlosigkeit beider feststeht, muss auch zutreffen, wenn über sie Unsicherheit herrscht; das Fehlen genügender Beweise darf nicht ausschliesslich zum Nachteil des Belangten und zum Vorteil des Geschädigten ausschlagen. Kraft der Verweisung des Art. 39 Satz 1 MFG muss sich nicht nur der Belangte, sondern auch der Geschädigte als Halter eines Motorfahrzeuges behandeln lassen. Als solcher hat er wegen der von ihm selbst gesetzten Betriebsgefahr für das schädigende Ereignis auch dann einzustehen, wenn ihn selbst kein Verschulden trifft, und er trägt die Beweislast, wenn er auf Grund von Art. 37 Abs. 2 oder 3 MFG den Folgen seiner Kausalhaftung ganz oder teilweise entgehen will. Die Tatsache, dass nur er allein körperlich geschädigt wurde, erlaubt ihm nicht, ausschliesslich im andern den Schädiger zu sehen und sich selber nur als Opfer auszugeben.
Es ist freilich nicht möglich, die Beweislast für eine und dieselbe Tatsache sowohl dem einen als auch dem anderen Halter aufzubürden. Jeder hat daher seine eigene Schuldlosigkeit, nicht auch das Verschulden des andern zu beweisen. InBGE 76 II 230ff. wurde denn auch nur vom Exkulpationsbeweis gesprochen, den der belangte Halter zu erbringen habe. Der Beweis des Verschuldens des Geschädigten, den der Belangte gemäss Art. 37 Abs. 2 und 3 MFG dem fordernden Nichthalter erbringen muss, entfällt gegenüber einem Halter, weil dieser seine eigene Schuldlosigkeit zu beweisen hat.
Die Last des Beweises, dass der Kläger vor dem Überholen der beiden Fahrzeuge seine Warnpflicht erfüllt habe, trifft daher ihn selbst.
c) Das Verschulden als Voraussetzung der Genugtuungspflicht aus Art. 42 MFG ist gemäss Art. 8 ZGB von dem zu beweisen, der aus ihm Rechte ableitet (BGE 64 II 319,BGE 71 II 39). Der Beweis, dass der Kläger vor dem Überholen gewarnt habe, trifft daher auch im Streit um die Genugtuung diesen selber.
d) Wenn der von einem Dritten belangte Halter gemäss Art. 38 Abs. 2 MFG auf den Halter des mitbeteiligten Fahrzeuges zurückgreift, beruft er sich darauf, dass dieser in seiner Eigenschaft als Motorfahrzeughalter für den Schaden einzustehen habe. Wie jeder Beteiligte gegenüber dem Dritten kausal haftet, hat er den Schaden auch im Innenverhältnis ohne Verschulden zu tragen oder tragen zu helfen. Das ergibt sich denn auch aus Art. 38 Abs. 2, wonach mangels Nachweises eines Verschuldens die beteiligten Halter den Schaden zu gleichen Teilen zu tragen haben. Die Beweislast hinsichtlich des Verschuldens ist daher die gleiche wie bei der Auseinandersetzung über einen Körperschaden, den ein Halter dem andern zugefügt hat. Jeder Halter hat nur seine eigene Schuldlosigkeit, nicht auch das Verschulden des anderen zu beweisen. Der Beweis, dass der Kläger seine Warnpflicht erfüllt habe, war daher auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 38 Abs. 2 MFG von ihm selber zu erbringen. Die Beklagte brauchte nicht zu beweisen, dass der Kläger das behauptete Hornsignal nicht gegeben habe.