BGE 64 II 233 - Ärztlicher Kunstfehler
 
Urteil der II. Zivilabteilung
vom 25. Februar 1938
i.S. Allg. Versicherungsaktiengesellschaft gegen W.
In der Berufshaftpflichtversicherung eines prakt. Arztes sind die Folgen von Kunstfehlern, die bei Ausführung der kriminellen Abtreibung passieren, nicht eingeschlossen (Art. 2 ZGB, 20 OR; 28, 33, 100 VVG).
 
Sachverhalt
 
A.
Der Arzt Dr. med. B. in B. wurde durch Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 28. Februar 1936 der fortgesetzten Gehilfenschaft zur Fruchtabtreibung in Idealkonkurrenz mit fortgesetzter Nachlässigkeit und Unachtsamkeit bei Ausübung des Arztberufes schuldig befunden und dafür zu einem Jahr und 6 Monate Arbeitshaus verurteilt. Zum geahndeten Tatbestand gehörte auch der Fall der Frau W., an der Dr. B. nach seinem Geständnis für Fr. 35. den Eingriff mit einer Sonde vorgenommen hatte, ohne diese vorher zu sterilisieren, was eine allgemeine Sepsis zur Folge hatte, an der die Frau starb. Eine vom Ehemann und den zwei Kindern gegen Dr. B. zuerst adhäsionsweise, dann im Zivilweg erhobene Entschädigungsforderung von zusammen Fr. 33,371. wurde mit Vergleich vom  5. Oktober 1936 erledigt, in welchem Dr. B. sich zur Zahlung von Fr. 15,000. verpflichtete. Zur Deckung dieser Forderung trat er den Klägern seine Ansprüche gegen die "Allgemeine Versicherungs-Aktiengesellschaft" in Bern ab, bei der er sich laut Police vom 8. Oktober 1930 in seiner Eigenschaft als praktischer Arzt gegen die gesetzliche Haftpflicht auf Grund des OR bis zum Gesamtbetrage von Fr. 150,000.bezw. Fr. 50,000. für jede einzelne beschädigte Person versichert hatte. Als sich die Versicherungsgesellschaft weigerte, die vom Arzte anerkannten Ansprüche zu erfüllen, erhoben die Zessionare auf Grund der Abtretung und unterstützt durch Dr. B. als Nebenintervenient Klage gegen jene auf Zahlung der Fr. 15,000..
 
B.
Das Bezirksgericht St. Gallen wies die Klage ab. Das Kantonsgericht dagegen schützte sie in einem auf die Hälfte reduzierten Betrage. Es ging von der Erwägung aus, dass der Schaden, nämlich der Tod der Frau W., nicht deshalb eingetreten sei, weil der Arzt an ihr eine Abtreibungshandlung vorgenommen, sondern vielmehr weil er bei Vornahme dieses, an sich gewiss unerlaubten, ärztlichen Eingriffs eine nicht sterilisierte Sonde verwendet habe; in dieser groben Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht liege der Grund für die zivilrechtliche Haftung des Arztes. Dazu komme die weitere Nachlässigkeit in der Nachbehandlung, indem Dr. B. nach Eintritt der Infektion absichtlich eine falsche Diagnose gestellt und die Patientin wegen Blinddarmreizung behandelt habe. Infolge dieses schuldhaften Verhaltens habe sich die allgemeine Sepsis entwickelt, an der Frau W. dann gestorben sei.
 
C.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung der Beklagten mit dem Antrag auf Abweisung der Klage.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
 
Erwägung 2
2. Eine andere Frage ist es aber, ob die Haftung der Beklagten nicht aus gesetzlichen  Gründen zu verneinen ist. In dieser Hinsicht ist die Behauptung der Beklagten zu prüfen, dass Gegenstand des Vertrags nur die Versicherung gegen die wirtschaftlichen Folgen eines Kunstfehlers  aus einer an sich erlaubten ärztlichen Tätigkeit sei, zu welcher die Abtreibung (abortus criminalis) nicht gehöre. Es kann dahingestellt bleiben, ob überhaupt jede schadenstiftende Handlung, die bei Ausführung eines Delikts begangen wird, grundsätzlich unversicherbar sei. Es ist hier lediglich vom konkreten Falle auszugehen, in welchem es sich nach den Feststellungen der Vorinstanz und den Strafakten um einen kriminellen Abortus handelte, der im Auftrag der Frau W. von Dr. B. gegen ein Honorar von Fr. 35. ausgeführt worden ist, und zwar nicht als ein isolierter Einzelfall, sondern, wie aus den Strafakten hervorgeht, im Rahmen einer eigentlichen Abtreibungspraxis. Die Unversicherbarkeit der dabei verwirklichten Gefahr ergibt sich aus zwei Gesichtspunkten.
a) Die Versicherung deckte laut Police die gesetzliche Haftpflicht des Versicherten "in seiner Eigenschaft als praktischer Arzt". Darunter ist die normale, erlaubte Ausübung der ärztlichen Praxis verstanden. Wenn zwar die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft an sich eine chirurgische, also ärztliche Handlung ist, so gehört doch keinesfalls der kriminelle Abort zu den Obliegenheiten des Arztberufes. Es kann als sicher angenommen werden, dass die Beklagte, wie jede seriöse Versicherungsgesellschaft, wenn ihr ein Arzt beim Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung die ausdrückliche Einbeziehung der Haftung aus kriminellem Abort beantragt hätte, entweder dessen ausdrücklichen Ausschluss verlangt oder den Abschluss der Versicherung überhaupt abgelehnt hätte. Muss aber für den hypothetischen Fall einer bewussten Stellung und Regelung dieser Frage durch die  Parteien mit grösster Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass sie im Sinne der Nichtversicherung erledigt worden wäre, so kann nach Treu und Glauben der Beklagten nicht zugemutet werden, dieses Risiko als stillschweigend eingeschlossen gelten zu lassen. Zu einer gegenteiligen Interpretation zwingt auch Art. 33 VVG nicht; denn zu den Merkmalen der hier versicherten Gefahr gehört eben auch, dass sie im Zusammenhang mit der Ausübung der legalen Arztpraxis stehe, welches Merkmal dem Risiko eines Kunstfehlers bei der kriminellen Abtreibung durch den Arzt fehlt.
b) Müsste aber das hier streitige Risiko nicht schon auf Grund der Auslegung des Parteiwillens nach Art. 2 ZGB als ausgeschlossen gelten, so würde dies aus Art. 20 OR folgen, der gemäss Art. 100 VVG auf den Versicherungsvertrag Anwendung findet. Das durch den Versicherungsvertrag direkt geschützte Interesse, die ökonomische Schadloshaltung des Arztes, ist zwar an sich ein erlaubtes. Das Besondere des vorliegenden Falles liegt jedoch darin, dass die Gefahr bei vorsätzlicher Begehung einer kriminellen Handlung herbeigeführt worden ist. Die Versicherung gegen dieses Risiko wäre nach Art. 20 OR nichtig, weil sie den Arzt vor den Folgen der Berufsfehler auch dann zu schützen bestimmt ist, wenn diese im Zusammenhang mit dem Missbrauch dieses Berufes zur Begehung eines Verbrechens passieren. Eine Gefahr aber, die nicht ausdrücklich in die Versicherung eingeschlossen werden könnte, weil an und für sich von gesetzeswegen nicht versicherungsfähig, kann auch nicht in einer generell gefassten Klausel stillschweigend eingeschlossen sein.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
In Gutheissung der Hauptberufung und Abweisung der Anschlussberufung wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.