BGE 122 I 49 - Jamal Miri II
 
9. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 27. Februar 1996
i.S. Jamal Miri gegen Richteramt I/II von Bern
(staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 BV; Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im Ausschaffungshaft-Verfahren.
Analogie zur Verbeiständung im Strafverfahren und im Haftprüfungsverfahren bei Untersuchungshaft sowie bei Auslieferungshaft (E. 2c). Einem in Ausschaffungshaft genommenen bedürftigen Ausländer darf der unentgeltliche Rechtsbeistand zumindest im Haftverlängerungsverfahren nicht verweigert werden (E. 2c u. d).
 
Sachverhalt
 
A.
Jamal Miri ist abgewiesener Asylbewerber aus dem Libanon; im Asylverfahren wurde er rechtskräftig aus der Schweiz weggewiesen. Die Fremdenpolizei des Kantons Bern nahm ihn am 9. März 1995 in Ausschaffungshaft. Der Gerichtspräsident II von Bern lehnte am 3. Mai 1995 ein Haftentlassungsgesuch von Jamal Miri ab; die gegen diesen Entscheid erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies das Bundesgericht am 20. Juni 1995 ab (Verfahren 2A.222/1995).
Am 7. Juni 1995 hiess der Gerichtspräsident II von Bern einen Antrag der Fremdenpolizei auf Verlängerung der Ausschaffungshaft um sechs Monate gut. In Ziff. 2 des Entscheiddispositivs wurde das Gesuch von Jamal Miri um Beiordnung des ihn im Haftverlängerungsverfahren vertretenden Fürsprechers als amtlicher (unentgeltlicher) Anwalt abgewiesen.
Am 30. Juni 1995 erhob Jamal Miri gegen den Haftverlängerungsentscheid vom 7. Juni 1995 in der Sache selber Verwaltungsgerichtsbeschwerde (2A.273/1995), welche am 12. Juli 1995 gutgeheissen wurde (BGE 121 II 110), und betreffend Verweigerung des amtlichen Anwalts (Ziff. 2 des Dispositivs) staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut und hebt Ziff. 2 des angefochtenen Entscheids auf.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
Der Gerichtspräsident hat seinen Entscheid auf Art. 111 des bernischen Gesetzes vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege (VRPG) gestützt. Danach kann einer Partei ein Anwalt beigeordnet werden, wenn sie bedürftig ist, das Verfahren nicht von vornherein aussichtslos ist (Abs. 1) und die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse es rechtfertigen (Abs. 2). Der Beschwerdeführer geht davon aus, dass diese Regelung sich im wesentlichen an den Grundsätzen orientiert, die das Bundesgericht aus Art. 4 BV ableitet. Er rügt denn auch nicht, dass das kantonale Recht willkürlich angewendet worden sei, sondern er macht geltend, die sich aus der Rechtsprechung zu Art. 4 BV ergebenden Grundsätze seien missachtet worden. Wie es sich damit verhält, prüft das Bundesgericht frei (BGE 117 Ia 277 E. 5b S. 281 mit Hinweis).
b) Im angefochtenen Entscheid wird weder die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers verneint noch die Frage der Aussichtslosigkeit gestellt. Die Verweigerung des unentgeltlichen Anwalts wird ausschliesslich damit begründet, dass der Beschwerdeführer in seiner schriftlichen Vernehmlassung vom 6. Juni 1995 keine heiklen Rechtsfragen aufwerfe und keinen neuen Sachverhalt vorbringe, sowie dass sich die von Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht Betroffenen nicht gegen strafrechtliche Vorwürfe zu verteidigen hätten und deshalb die Schwelle für die Einsetzung eines amtlichen Anwalts höher anzusetzen sei als in einem Strafverfahren.
bb) Gestützt auf Art. 4 BV hat die bedürftige Partei einen allgemeinen grundrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen (BGE 120 Ia 43 E. 2a S. 44/45 mit Hinweisen). Falls das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtspositionen des Betroffenen eingreift, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich geboten. Im Strafprozess trifft dies dann zu, wenn dem Angeschuldigten (konkret, nicht abstrakt nach dem gesetzlichen Strafrahmen) eine schwerwiegende freiheitsentziehende Massnahme oder eine Strafe droht, deren Dauer die Gewährung des bedingten Strafvollzuges ausschliesst (BGE 116 Ia 295 E. 6a S. 304, 115 Ia 103 E. 4 S. 105, je mit Hinweisen). Droht zwar eine erhebliche, nicht aber eine besonders schwere Freiheitsbeschränkung, müssen zur relativen Schwere des Eingriffs besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Betroffene - auf sich allein gestellt - nicht gewachsen wäre. Bei offensichtlichen Bagatelldelikten, bei denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt, verneint das Bundesgericht einen unmittelbaren verfassungsmässigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung (BGE 120 Ia 43 E. 2a S. 45 mit Hinweisen).
Als besondere Schwierigkeiten fallen nicht nur Umstände wie Kompliziertheit der Rechtsfragen, Unübersichtlichkeit des Sachverhalts und dergleichen in Betracht, sondern insbesondere auch in der Person des vom Freiheitsentzug Bedrohten liegende Gründe, wie etwa dessen Fähigkeiten, sich im Verfahren zurecht zu finden (vgl. BGE 120 Ia 43 E. 3a S. 46 ff., 117 Ia 277 E. 5b S. 281 ff., 115 Ia 103 S. 106).
Es stellt sich die Frage, ab welcher Dauer drohenden konkreten Freiheitsentzugs in jedem Fall, also auch ohne besondere Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Natur, ein unentgeltlicher Rechtsanwalt beigegeben werden muss. Die Praxis scheint der Grenze von 18 Monaten Bedeutung beizumessen (BGE 115 Ia 103 E. 4 S. 105). Dies hängt damit zusammen, dass erst ab dieser Strafdauer der bedingte Strafvollzug ausgeschlossen und zwingend mit einer tatsächlich zu vollziehenden Freiheitsstrafe zu rechnen ist. Droht konkret von vornherein ein tatsächlicher Freiheitsentzug, muss die Grenze jedenfalls wesentlich tiefer liegen. Es genügt, dass mehr als "einige" Wochen oder Monate Haft zu erwarten sind (BGE 120 Ia 43 E. 2b S. 46).
cc) Die Ausschaffungshaft kann vorerst für drei Monate angeordnet werden (Art. 13b Abs. 2 erster Teilsatz des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, ANAG; SR 142.20, Fassung vom 18. März 1994). Stehen dem Vollzug der Weg- oder Ausweisung besondere Hindernisse entgegen, so kann die Haft mit Zustimmung der kantonalen richterlichen Behörde um höchstens sechs Monate verlängert werden (Art. 13b Abs. 2 zweiter Teilsatz ANAG). Schon im richterlichen Verfahren zur Genehmigung der neu angeordneten Ausschaffungshaft ist häufig mit einem mehrmonatigen Freiheitsentzug zu rechnen. Bereits zu diesem Zeitpunkt wird, je nach zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Papierbeschaffung und der Ausreiseorganisation, im Auge zu behalten sein, dass eine Fortsetzung der Haft über drei Monate hinaus bis insgesamt neun Monate möglich ist; die Weichen für eine derart lange Haft werden teils zum Zeitpunkt der erstmaligen Haftprüfung gestellt.
Weitere Besonderheiten sind zu berücksichtigen: Wohl hat sich der Ausländer nicht gegen strafrechtliche Vorwürfe zu verteidigen. Er befindet sich aber, was für die Frage, ob ein Rechtsbeistand notwendig sei, erheblich ist, zum Zeitpunkt der Haftprüfung immer bereits in Haft, anders als dies bei Angeschuldigten im Strafverfahren häufig der Fall ist. Gerade der mit Zwangsmassnahmen konfrontierte Ausländer, der kein Anwesenheitsrecht in der Schweiz erhalten konnte, stammt sodann meistens aus einem fremden Kultur- und Rechtskreis. Das Bundesgericht misst diesem Aspekt im Zusammenhang mit der Auslieferungshaft Bedeutung bei (BGE 112 Ib 342 E. 2a S. 345). Die "soziale Kompetenz von (in Ausschaffungshaft genommenen) Ausländern in unserem Rechts- und Kulturkreis" ist jedenfalls erheblich eingeschränkt (ZÜND, a.a.O., S. 857).
Zumindest im Haftverlängerungsverfahren nach drei Monaten darf einem bedürftigen Häftling der unentgeltliche Rechtsbeistand grundsätzlich nicht verweigert werden. Unter welchen Umständen eine solche Verbeiständung verfassungsrechtlich allenfalls schon vorher geboten sein kann, braucht vorliegend nicht geprüft zu werden.
d) Im vorliegenden Fall hatte der Haftrichter zu prüfen, ob sich eine Verlängerung der bereits drei Monate dauernden Ausschaffungshaft um sechs Monate rechtfertige. Es ging damit um einen Eingriff in die Rechtsstellung des Beschwerdeführers von erheblicher Tragweite. Die Erwägungen des ersten den Beschwerdeführer betreffenden bundesgerichtlichen Urteils vom 20. Juni 1995 (Verfahren 2P.222/1995) zeigen sodann, dass die Beurteilung des Haftgrundes von Art. 13b Abs. 1 lit. c ANAG, insbesondere die Gewichtung der diesbezüglichen Sachumstände, die im Rahmen des Haftverlängerungsverfahrens aufgrund der neu bekanntgewordenen Sachumstände ohnehin neu vorzunehmen gewesen wäre, keineswegs einfach war (E. 4). Dem Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung hätte daher entsprochen werden müssen.