BGE 121 I 240
 
33. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27. Oktober 1995 i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft II für den Kanton Zürich und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Siegelung beschlagnahmter Papiere. § 101 des zürcherischen Gesetzes vom 4. Mai 1919 betreffend den Strafprozess (Strafprozessordnung).
 
Sachverhalt
Die Bezirksanwaltschaft II für den Kanton Zürich führt gegen Rechtsanwalt X. eine Strafuntersuchung wegen des Verdachts auf Betrug. Am 11. Juli 1995 wurde in seiner Anwaltskanzlei eine Hausdurchsuchung durchgeführt, wobei umfangreiche Unterlagen sichergestellt wurden. X. verlangte, die Unterlagen seien zu siegeln. Die Bezirksanwaltschaft II für den Kanton Zürich wies das Gesuch mit Verfügung vom 18. Juli 1995 ab. Ein von X. eingereichter Rekurs wurde von der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich am 16. August 1995 abgewiesen. Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 19. September 1995 stellt X. den Antrag, der Rekursentscheid der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich vom 16. August 1995 sei aufzuheben. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt den Rekursentscheid der Staatsanwaltschaft auf.
 
Aus den Erwägungen:
§ 99. Papiere, welche sich auf das Verbrechen oder Vergehen beziehen, und Bücher oder Abschriften von Bucheinträgen, welche streitige Rechnungsverhältnisse betreffen, sind zu den Akten zu erheben.
§ 100. Eine Durchsuchung der im Besitz des Angeschuldigten befindlichen Papiere ist nur gestattet, wenn zu vermuten ist, dass Schriften sich darunter befinden, welche nach der Vorschrift des § 99 zu den Akten zu erheben sind.
Im Besitz eines Dritten befindliche Papiere dürfen nur dann durchsucht werden, wenn auch nach Einvernahme des Besitzers noch die Vermutung besteht, dass sie für den Zweck der Untersuchung von Bedeutung sind.
§ 101. Widersetzt sich der Inhaber der Papiere der Durchsuchung, so soll die Untersuchungsbehörde sie versiegelt aufbewahren und den Entscheid des Bezirksgerichts oder der Anklagekammer darüber einholen, ob die Untersuchung stattfinden darf.
Der Inhaber der Papiere ist berechtigt, sein Siegel ebenfalls beizudrücken; macht er von diesem Recht Gebrauch, so ist ihm Gelegenheit zu geben, der Entsiegelung beizuwohnen.
b) Das Bundesgericht erkannte im nichtveröffentlichten, aber sowohl der Staatsanwaltschaft als auch dem Beschwerdeführer bekannten Urteil vom 4. April 1995 i.S. X. AG und Y. AG E. 4, mit dem Ausdruck "Inhaber" in § 101 StPO sei sowohl der Eigentümer als auch der (selbständige oder unselbständige bzw. mittelbare oder unmittelbare) Besitzer der Papiere gemeint. Die Staatsanwaltschaft wendet sich nicht gegen diese Begriffsbestimmung; sie hält aber dafür, das in § 101 StPO geregelte Versiegelungs- und Entsiegelungsverfahren sei ausschliesslich auf den Fall zugeschnitten, dass sich die Papiere im Besitze eines Dritten befinden. Bei einer Beschlagnahme beim Angeschuldigten selbst kenne das zürcherische Recht keine Versiegelung und demgemäss auch keine Entsiegelung. Der Beschwerdeführer, der selbst im Verfahren Angeschuldigter sei, habe daher keinen Anspruch auf Siegelung der bei ihm beschlagnahmten Unterlagen. Zur Begründung beruft sich die Staatsanwaltschaft auf die in ZR 78 Nr. 57 publizierten Urteile des Obergerichts des Kantons Zürich und des Bundesgerichts.
c) Der Wortlaut von § 101 StPO lässt für sich allein in keiner Weise den Schluss zu, der Begriff "Inhaber" beziehe sich nur insoweit auf den Besitzer der beschlagnahmten Papiere, als dieser nicht selbst Angeschuldigter sei. § 101 StPO regelt die Siegelung der Papiere, welche ein Hindernis für deren Durchsuchung bildet. Die Durchsuchung ist Gegenstand des § 100 StPO, welcher systematisch § 101 StPO unmittelbar vorangeht. § 100 Abs. 1 StPO betrifft die Durchsuchung der Papiere, die sich im Besitz des Angeschuldigten befinden, während sich § 100 Abs. 2 StPO auf die Durchsuchung der Papiere im Besitz eines Dritten bezieht. Da § 101 StPO keinen Unterschied macht, ob die Papiere beim Angeschuldigten oder bei einem Dritten beschlagnahmt worden sind, lässt sich aus dem systematischen Zusammenhang schliessen, dass die Papiere in beiden Fällen versiegelt werden können. Aus der Systematik des Gesetzes lässt sich somit nicht ableiten, der Angeschuldigte selbst habe keinen Anspruch auf Siegelung der bei ihm beschlagnahmten Papiere.
d) Die Staatsanwaltschaft legt § 101 StPO somit gegen seinen Wortlaut aus. Die Auslegung einer Gesetzesbestimmung gegen ihren Wortlaut ist aber nur dann willkürlich, wenn das Ergebnis offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft, oder wenn das Ergebnis der Auslegung an einem inneren Widerspruch leidet (vgl. BGE 118 Ia 130 E. 2, BGE 117 Ia 139 E. c, BGE 109 Ia 29 E. 5f, mit Hinweisen). Eine Auslegung gegen den Wortlaut der Bestimmung ist somit vor allem dann willkürlich, wenn sie sich auf keinen sachlichen Grund stützen kann.
e) Die Staatsanwaltschaft stützte ihre Auslegung des § 101 StPO auf die Rechtsprechung des Obergerichts und des Bundesgerichts. Im allgemeinen genügt die Berufung auf Urteile eines kantonalen Obergerichts und des Bundesgerichts, um auch die vom Wortlaut abweichende Auslegung einer Bestimmung als sachlich begründet und damit als nicht willkürlich erscheinen zu lassen. Vorausgesetzt wird dabei allerdings, dass sich die in den früheren Urteilen entwickelten individuell-konkreten Normen per analogiam auf den vorliegenden Fall übertragen lassen.
f) aa) Im Fall, welchen das Obergericht des Kantons Zürich am 19. Oktober 1978 entschied (Urteil in ZR 78 Nr. 57 publiziert), wurden in einem Rechtshilfeverfahren die Papiere bei einer Bank in Zürich, deren Mitarbeiter nicht angeschuldigt waren, beschlagnahmt; die Angeschuldigten, welche in Deutschland wohnten, verlangten, als Partei im Entsiegelungsverfahren zugelassen zu werden. Das Obergericht führte aus, soweit durch behördliche Anordnungen zunächst unmittelbar allein die Rechte oder Interessen Dritter berührt würden, seien nur diese legitimiert, gegen die konkrete Anordnung Rechtsmittel zu ergreifen. Im Siegelungs- bzw. Entsiegelungsverfahren gehe es allein um die Wahrung der geschützten Persönlichkeitsrechte des Inhabers der Papiere. Im Urteil des Obergerichts findet sich aber kein Hinweis darauf, der Angeschuldigte habe auch dann keinen Anspruch auf Siegelung der beschlagnahmten Papiere, wenn er selbst deren Inhaber ist und sie bei ihm selbst beschlagnahmt worden sind.
bb) Im vorliegenden Fall ist ein im entscheidenden Punkt vom Fall in ZR 78 Nr. 57 abweichender Sachverhalt zu beurteilen: Während dort die Angeschuldigten verlangten, als Parteien bei der Entsiegelung von Papieren zugelassen zu werden, deren Inhaber eine Drittperson (die Bank) war, verlangt hier der Angeschuldigte die Siegelung von Papieren, deren Inhaber er selbst ist. Die im Urteil des Obergerichts vom 19. Oktober 1978 aufgestellten individuell-konkreten Normen lassen sich deshalb nicht auf den heute zu beurteilenden Fall übertragen. Somit bleibt es dabei, dass gemäss § 101 StPO auch dem Angeschuldigten ein Anspruch auf die Siegelung beschlagnahmter Papiere zusteht, sofern der Angeschuldigte selbst deren Inhaber ist. Die Auslegung der Staatsanwaltschaft, wonach der Angeschuldigte in keinem Fall einen Anspruch auf Siegelung beschlagnahmter Unterlagen hat, selbst dann nicht, wenn er selbst deren Inhaber ist, widerspricht dem Wortlaut von § 101 StPO und der dazugehörigen Rechtsprechung des Obergerichts.
cc) Der Staatsanwaltschaft ist allerdings zugute zu halten, dass das Bundesgericht in seinem Urteil vom 12. Februar 1979 (ebenfalls in ZR 78 Nr. 57 publiziert) die Erwägungen des Obergerichts nicht nur bestätigte, sondern über das angefochtene Urteil hinaus den Satz aufstellte, bei einer Beschlagnahmung beim Angeschuldigten selbst kenne das "zürcherische Gericht" keine Siegelung. Das Siegelungs- und Entsiegelungsverfahren nach § 101 StPO sei ausschliesslich auf den Fall zugeschnitten, dass sich Papiere im Besitze eines Dritten befänden (E. 3a). Das Bundesgericht gab für seine Auffassung keine Begründung, und - wie sich ergeben hat - lässt sich im kantonalen Gesetz und im Urteil des Obergerichts auch gar keine Stütze dafür finden. Trotzdem hat das Bundesgericht seine Erwägung in den nichtveröffentlichten Urteilen vom 5. März 1991 i.S. X. AG, S. AG, T. und T. E. 4 und vom 4. April 1995 i.S. X. AG und Y. AG E. 3c wiederholt. Heute ist daran nicht mehr festzuhalten.
dd) Die Auslegung, welche die Staatsanwaltschaft der Bestimmung von § 101 StPO geben will, entspricht somit zwar der früheren bundesgerichtlichen Praxis, doch erweist sie sich aufgrund des Gesetzestexts und des Urteils des Obergerichts vom 19. Oktober 1978 als willkürlich. Unter diesen Umständen müssen die weiteren Rügen des Beschwerdeführers, welche die persönliche Freiheit und den Schutz der Geheimsphäre betreffen, nicht mehr geprüft werden. Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Rekursentscheid der Staatsanwaltschaft wird aufgehoben.