BGE 39 I 48 - Rechtsdomizil St. Gallen
 
6. Urteil
vom 13. März 1913 in Sachen Vollenweider gegen Kantonsgericht St. Gallen.
 
Sachverhalt:
Das Bundesgericht hat auf Grund folgender Aktenlage:
 
A.
Nach Art. 1 des Reglements für die Anwälte und Rechtsagenten im Kanton St. Gallen vom 14. März/21. Mai 1901 kann den Beruf eines Anwalts im Kanton jeder stimmberechtigte Schweizerbürger ausüben, welcher a) einen guten Leumund und b) ein st. gallisches Anwaltspatent besitzt; diesem letzteren sind Anwaltspatente anderer Kantone gemäß Art. 5 Üb.-Best. zur BV gleichgestellt. Wer den Anwaltsberuf ausüben will, hat sich, gemäß Art. 2, unter Vorlage seiner Ausweise an den Präsidenten des Kantonsgerichts zu wenden, worauf dieses letztere bei einem Bewerber mit auswärtigem Patent darüber entscheidet, ob ihm die Ausübung des Berufes zu bewilligen sei. Ferner bestimmt Art. 8 des Reglements:
    "Außerkantonale Anwälte haben beim Empfang des Patentes bezw. der Bewilligung ..... durch Anzeige an das Kantonsgericht Rechtsdomizil im Kanton St. Gallen zu verzeigen."
 
B.
Mit Zuschrift an das st. gallische Kantonsgericht vom 6. Januar 1913 ersuchte der Rekurrent Dr. Vollenweider, Rechtsanwalt in Zürich, unter Hinweis auf sein zürcherisches Anwaltspatent und ein nachträglich noch beigebrachtes Leumundszeugnis um die "formelle Bewilligung" zur Ausübung der Advokatur im Kanton St. Gallen. Hierauf verlangte die Kantonsgerichtskanzlei von ihm gemäß Art. 8 des Anwaltsreglements umgehend noch die Verzeigung eines st. gallischen Rechtsdomizils und hielt gegenüber seiner Bestreitung der Pflicht, dieser Auflage nachzukommen, mit Schreiben vom 8. Januar 1913 daran fest, daß ihm die gewünschte Bewilligung nicht erteilt werden könne, bevor er ein Rechtsdomizil verzeigt haben werde.
 
C.
Gegen diesen Bescheid, der laut Bestätigung des Kantonsgerichts in dessen Namen erfolgt ist, hat Dr. Vollenweider am 9. Januar 1913 -- gleichzeitig mit der vorsorglichen Angabe einer st. gallischen Domiziladresse bei der Kantonsgerichtskanzlei, unter ausdrücklicher Wahrung seines Rechtsstandpunktes -- den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen und beantragt, das Kantonsgericht St. Gallen sei in Aufhebung seiner angefochtenen Schlußnahme anzuweisen, ihm die Domizilverzeigung im Kanton zu erlassen bezw. wieder zu erlassen und ihm die verlangte Bewilligung zur Berufsausübung zu erteilen. Er beruft sich auf Verletzung des Art. 5 Üb.-Best. z. BV; denn nach dessen Garantie der Freizügigkeit der wissenschaftlichen Berufsarten könne der Inhaber eines kantonalen Anwaltspatentes von einem beliebig erwählten Ort der Schweiz aus in deren ganzem Gebiete praktizieren und dürfe nicht gezwungen werden, auch noch in einem andern als dem Wohnsitzkantone faktischen oder auch nur rechtlichen Wohnsitz zu nehmen; der Patentinhaber brauche, richtig betrachtet, zum Zwecke der Berufsausübung in einem auswärtigen Kantone nicht einmal zunächst bei der dortigen Aufsichtsbehörde um Bewilligung einzukommen und die hiefür jeweils vorgesehene Gebühr zu entrichten, sondern könnte auf Grund seines Patentes ohne weiteres vor den Gerichten auftreten; die vorherige Anmeldung bei der Aufsichtsbehörde habe nur den Zweck, den Ausweis des Patentbesitzes ein für allemal zu leisten.
 
D.
Das Kantonsgericht des Kantons St. Gallen hat unter Mitteilung, daß dem Rekurrenten nach erfolgter Domizilverzeigung die Anwaltsbewilligung gegen Nachnahme der Ausfertigungstaxe von 10 Fr. erteilt worden sei, auf Abweisung des Rekurses angetragen. Es führt wesentlich aus, das in Art. 5 Üb.-Best. z. BV garantierte Prinzip wäre allerdings verletzt, wenn ein Kanton die Bewilligung der Anwaltstätigkeit für außerkantonale Patentinhaber an Bedingungen knüpfte, die in ihrer Wirkung die Berufsausübung im Kanton faktisch ausschließen oder doch wesentlich erschweren würden. Als eine solche Bedingung müßte entschieden die Forderung wirklicher Domizilnahme im bewilligenden Kanton bezeichnet werden. Ein Domizil im allgemeinen zivil- und staatsrechtlichen Sinn habe aber Art. 8 des st. gallischen Anwaltsreglements nicht im Auge, wie unmißverständlich schon der Ausdruck "Rechtsdomizil" erkennen lasse. Tatsächlich werde danach nichts anderes verlangt, als die Angabe einer Adresse im Kanton St. Gallen, und zwar brauche diese nicht einmal auf eine bestimmte Person zu lauten, sondern es genüge schon z.B. "Postfach Nr. .....", oder "B.....straße, Nr......". Die Forderung der Rechtsdomizilnahme stelle sich ihrem Zwecke nach als reine Ordnungsvorschrift dar. Sie sei geschaffen worden, einmal, damit eine sichere Adresse des betreffenden Anwalts für die Zustellung von Zitationen etc. gegeben sei, und ferner im Hinblick auf allfällig aus der Anwaltstätigkeit sich ergebende Anstände und Streitigkeiten, speziell mit Rücksicht auf das besondere st. gallische Verfahren in Deservitensachen (Art. 248-252 ZPO). An die Stelle eines prorogierten Forums für jede einzelne Streitsache trete auf diese Weise die generelle Anerkennung des st. gallischen Gerichtsstandes. Darin aber, daß der in seiner Berufsausübung dem kantonalen gleichgestellte außerkantonale Anwalt sich auch der gleichen Belangbarkeit zu unterziehen habe, liege doch wohl weder eine Verletzung der Freizügigkeit, noch sonst etwas Verfassungswidriges. Überdies sei zu beachten, daß der Art. 5 Üb.-Best. zur BV nur die Gleichberechtigung verschiedener kantonaler Patente garantieren wolle und insofern durch Art. 8 des st. gallischen Anwaltsreglements nicht verletzt werden könne, indem dessen Vorschrift nicht etwa nur die außerkantonal patentierten Anwälte mit st. gallischer Bewilligung, sondern ebenso auch die außerhalb des Kantons wohnenden Anwälte mit st. gallischem Patent betreffe, d.h. eben nicht auf das Patent, sondern auf den Wohnort abstelle. Daß endlich die Verpflichtung außerkantonaler Patentinhaber zur Anmeldung bei der kantonalen Aufsichtsbehörde, um die Bewilligung zur Berufsausübung im Kanton zu erlangen, und zur Entrichtung einer mäßigen Kanzleigebühr für die Ausfertigung der Bewilligungsurkunde nicht gegen Art. 5 Üb.-Best. zur BV verstoße, habe das Bundesgericht bereits durch Urteil i. S. Morel gegen Innerrhoden vom 30. September 1897 festgestellt;
 
Erwägungen:
in Erwägung:
Der Vorschrift von Art. 2 des st. gallischen Anwaltsreglements, wonach die Inhaber von Anwaltspatenten anderer Kantone zum Zwecke der Berufsausübung im Kanton St. Gallen eine Bewilligung des Kantonsgerichts einzuholen haben, hat sich der Rekurrent freiwillig unterzogen und auch die ihm für die Bewilligungserteilung abverlangte Taxe anstandslos bezahlt. Die Frage der bundesrechtlichen Zulässigkeit dieser beiden Auflagen ist deshalb hier nicht weiter zu erörtern. Immerhin mag gegenüber der sie in Abrede stellenden Bemerkung des Rekurrenten auf die im gegenteiligen Sinne ergangenen Urteile des Bundesgerichts vom 1. April 1897 i. S. Bühler (AS 23 I Nr. 69 Erw. 2 in fine S. 480 [= BGE 23 I 478 (480)]) und vom 30. September 1897 i. S. Morel, das die kantonsgerichtliche Vernehmlassung anruft, verwiesen sein. Dagegen ficht der Rekurrent mit seinem Begehren die ihm ferner gestellte Bedingung der Verzeigung eines "Rechtsdomizils" im Kanton St. Gallen, gemäß Art. 8 des Anwaltsreglements, als mit Art. 5 Üb.-Best. z. BV nicht vereinbar an. Diese Beschwerde erweist sich als begründet. Die den Rechtsanwälten als Vertretern einer wissenschaftlichen Berufsart durch Art. 5 Üb.-Best. z. BV eingeräumte Befugnis, auf Grund eines kantonalen Befähigungsausweises "ihren Beruf in der ganzen Eidgenossenschaft auszuüben", macht in der Tat die Ausübung der Advokatur in der Schweiz von den Kantonsgrenzen in dem Sinne unabhängig, daß es den Kantonen nicht gestattet ist, die Zulassung der sachlich verfassungsgemäß legitimierten Anwälte an eine dauernde örtliche Beziehung zum speziellen Kantonsgebiete zu knüpfen und demnach den außerhalb des Kantonsgebietes niedergelassenen Anwälten die Herstellung einer solchen Beziehung zur besonderen Bedingung zu machen. Der Zweck jener Verfassungsbestimmung erschöpft sich nicht, wie das Kantonsgericht anzunehmen scheint, darin, die Träger der verschiedenen kantonalen Befähigungsausweise, die im gleichen Kantonsgebiete niedergelassen sind, für die Berufsausübung im betreffenden Kanton einander rechtlich gleichzustellen; die Bestimmung zielt vielmehr mit ihrer vorbehaltlosen Gewährleistung der Berufsausübung "in der ganzen Eidgenossenschaft" ab auf die rechtliche Gleichstellung, nach Maßgabe der jeweiligen kantonalen Berufsvorschriften, aller im gesamten schweizerischen Staatsgebiete niedergelassenen Inhaber kantonaler Anwaltspatente. Gegen diesen Sinn und Zweck der bundesverfassungsmäßigen Freizügigkeit aber verstößt die Vorschrift der Verzeigung eines besonderen kantonalen "Rechtsdomizils" für die außerhalb des Kantons wohnhaften Anwälte, wie es Art. 8 des st. gallischen Anwalts-Reglements vorsieht. Das "Rechtsdomizil" begründet auch als bloßer "Adreßort" im Sinne der Erläuterung des Kantonsgerichts eine nicht unerhebliche und deshalb rechtlich bedeutsame Erschwerung der Berufstätigkeit des auswärtigen Anwalts. Denn es ist ohne weiteres klar, daß eine Adresse für gerichtliche Zustellungen -- sei es auch nur ein Postfach oder ein privater Briefkasten -- die Bedienung durch eine am Adreßorte selbst sich aufhaltende oder doch regelmäßig daselbst verkehrende Person erheischt, deren dauernde Dienstleistungen normalerweise nur gegen Bezahlung zu erlangen sein werden. Und außer dieser unmittelbaren pekuniären Belastung kann ein solches "Rechtsdomizil" dem Anwalte, zufolge des mit der Übermittelung gerichtlicher Zustellungen an sein wirkliches Geschäftsdomizil über die auswärtige Domiziladresse notwendig verbundenen Zeitverlustes und der dadurch bedingten Verzögerung der Erledigung beruflicher Angelegenheiten, unter Umständen auch noch anderweitige, möglicherweise sehr gewichtige ökonomische Nachteile bringen. Überdies kann anderseits ein rechtmäßig begründetes Interesse des Kantons am Bestande der streitigen Institution nicht anerkannt werden. Wieso ein innerkantonales "Rechtsdomizil" erforderlich sein sollte, damit eine "sichere" Adresse des außer dem Kanton niedergelassenen Anwalts für die Zustellung von Zitationen etc. gegeben sei, ist schlechterdings unverständlich. Da die gerichtlichen Zustellungen nach st. gallischem Prozeßrecht (Art. 80 und 118-120 des Gesetzes betr. die Zivilrechtspflege vom 31. Mai 1900) in der Regel durch eingeschriebene Postsendungen erfolgen, steht die Möglichkeit ihrer gleichmäßigen Durchführung in der ganzen Schweiz zum vornherein außer Frage. Und was den Gerichtsstand des Anwaltes für das besondere st. gallische Verfahren in Deservitensachen (Art. 248 des Zivilrechtspflegegesetzes) betrifft, dessen Anerkennung durch das "Rechtsdomizil" im Kanton erreicht werden soll, dürfen nach der bundesgerichtlichen Auslegung des Art. 59 BV allerdings Anstände wegen der Höhe des Anwaltshonorars vor das Prozeßgericht als solches gewiesen werden und ist demnach jener Gerichtsstand auch für die auswärtigen Anwälte ohne weiteres maßgebend. Dagegen besteht für anderweitige Streitigkeiten aus dem Vertragsverhältnis zwischen Anwalt und Partei die Garantie des Wohnsitzrichters im Sinne jener Verfassungsbestimmung. Zum Verzicht auf diesen Gerichtsstand durch Anerkennung des fraglichen Art. 248, soweit dieser, im Widerspruch mit Art. 59 BV (nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts vom 7. Juni 1911 i. S. Turina-Meyer gegen Curti, Erw. 1, wo die aus AS 26 I Nr. 33 Erw. 1 S. 180 [= BGE 26 I 178 (180)] ersichtliche Praxis speziell gegenüber der hier in Rede stehenden st. gallischen Prozeßrechtsbestimmung zur Geltung gebracht worden ist), das Prozeßgericht ganz allgemein für die Beurteilung streitiger Forderungen der Anwälte aus ihrer beruflichen Tätigkeit für zuständig erklärt, kann aber der auswärtige Anwalt ebensowenig gezwungen werden, als der im Kanton selbst niedergelassene, so daß die gleiche Belangbarkeit der beiden, wie das Kantonsgericht sie postuliert, in dieser Hinsicht auch ohne das streitige "Rechtsdomizil" gesichert ist.
Aus diesen Erwägungen folgt, daß der Rekurrent berechtigt ist, seine unter Rechtsverwahrung erfüllte Verzeigung eines st. gallischen "Rechtsdomizils" zu widerrufen, ohne daß das Kantonsgericht ihm deswegen, entgegen der im Bescheide der Kantonsgerichtskanzlei an ihn vom 8. Januar 1913 liegenden Verfügung, die seither erteilte Bewilligung zur Ausübung der Advokatur im Kanton St. Gallen wieder entziehen dürfte. In diesem Sinne ist die streitige Verfügung des Kantonsgerichts aufzuheben;
 
Dispositiv
erkannt:
Der Rekurs wird gutgeheißen und damit die Verfügung des st. gallischen Kantonsgerichts vom 8. Januar 1913 aufgehoben.