BVerfGE 91, 335 - Punitive Damages
Die Gewährung von Rechtshilfe durch Zustellung einer Klage, mit der Ansprüche auf Strafschadensersatz nach US-amerikanischem Recht (punitive damages) geltend gemacht werden, verletzt nicht die allgemeine Handlungsfreiheit in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 7. Dezember 1994
-- 1 BvR 1279/94 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der L... GmBH, - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Gerold Bezzenberger und Partner, Rankestraße 21, Berlin - gegen den Beschluß des Kammergerichts vom 5. Juli 1994 - 1 VA 4/94 -
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
 
Gründe:
 
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob im Wege der Rechtshilfe eine Klage zugestellt werden darf, mit der eine juristische Person deutschen Rechts vor einem Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika unter anderem auf Strafschadensersatz (punitive or exemplary damages) in Anspruch genommen werden soll.
I.
1. Die Beschwerdeführerin, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in Berlin, hat in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Tochtergesellschaft amerikanischen Rechts, die einen Vertriebsvertrag für pharmazeutische Produkte mit der Traditional Medicinals, Inc., geschlossen hatte. Diese erhob bei einem Gericht in Pittsburgh (Pennsylvania) Klage sowohl gegen die amerikanische Tochtergesellschaft der Beschwerdeführerin als auch gegen diese selbst wegen Streitigkeiten aus dem Vertriebsverhältnis. Die Klage richtet sich nicht nur auf Schadensersatz für materielle Schäden in Höhe von mindestens zwei Millionen US-Dollar, sondern auch auf die Festsetzung von punitive and exemplary damages.
Die Klage ist der Tochtergesellschaft zugestellt worden. Eine Zustellung an die Beschwerdeführerin in den Vereinigten Staaten scheiterte. Die amerikanischen Prozeßbevollmächtigten der Traditional Medicinals, Inc., übersandten daraufhin ihre Klageschrift der Senatsverwaltung für Justiz in Berlin mit dem Ersuchen, die Zustellung an die Beschwerdeführerin nach den Vorschriften des Haager Übereinkommens vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen zu bewirken.
Die Senatsverwaltung für Justiz bewilligte die erbetene Rechtshilfe und leitete die Klageschrift dem Amtsgericht Wedding zur weiteren Veranlassung zu.
2. Die Beschwerdeführerin beantragte gemäß § 23 EGGVG beim Kammergericht, die Verfügung der Senatsverwaltung für Justiz aufzuheben. Das Kammergericht lehnte diesen Antrag durch den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluß ab:
Das Haager Zustellungsübereinkommen (HZÜ) sei anwendbar. Eine Klage, mit der unter anderem punitive damages geltend gemacht würden, habe einen zivilrechtlichen Zahlungsanspruch zum Gegenstand. Ein Ablehnungsgrund nach Art. 13 Abs. 1 HZÜ liege nicht vor. Selbst wenn entsprechend der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein US-amerikanisches Urteil auf punitive damages regelmäßig nicht anerkannt und für vollstreckbar erklärt werden könne, folge daraus nicht, daß deutsche Behörden schon bei der Zustellung solcher Klagen nicht mitwirken dürften. Im Falle des Unterliegens könne zwar in das in den USA belegene Vermögen des deutschen Beklagten vollstreckt werden. Ein Zugriff auf dessen Vermögen in Deutschland könne jedoch zu einem späteren Zeitpunkt noch verhindert werden, wenn feststehe, ob, in welcher Höhe und aus welchem Rechtsgrund der Beklagte verurteilt worden sei. Wer im internationalen Geschäftsverkehr tätig werde, müsse das Risiko in Kauf nehmen, daß aufgrund einer fremden Rechtsordnung auf Vermögen zugegriffen werde, das in deren Geltungsbereich belegen sei. Eine umfassende und zeitaufwendige Prüfung der Rechtsausführungen in dem zuzustellenden Schriftstück widerspräche dem Sinn und Zweck des Haager Übereinkommens. Durch dieses habe das Verfahren gegenseitiger Rechtshilfe vereinfacht und beschleunigt werden sollen. Strafschadensersatz werde ferner in einer Klageschrift regelmäßig nicht der Höhe nach beziffert. Bloße Vermutungen über eine mögliche spätere Entscheidung des ausländischen Gerichts dürften aber nicht zu einer Ablehnung der Zustellung führen. Dies sei auch deutschen Rechtsvorstellungen fremd. Die Zustellung einer Klageschrift sei nicht von Ermittlungen über Hintergrund, Anlaß oder Berechtigung der Klage abhängig.
II.
1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
Die Ablehnungsgründe des Art. 13 Abs. 1 HZÜ stellten eine Sonderform des ordre public dar. Nicht zugestellt werden dürften solche Klagen, die gegen tragende Prinzipien des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes verstießen. Das Kammergericht habe sich nicht damit auseinandergesetzt, daß das Rechtsinstitut der punitive damages fundamental gegen das deutsche Rechtsstaatsdenken in der Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Bestrafungsmonopols des Staates verstoße. Die deutsche öffentliche Gewalt dürfe sich nicht fördernd an einem hoheitlichen Verfahren beteiligen, dessen erklärtes Ziel ein Urteil sei, das fundamental dem deutschen Rechtsstaatsprinzip widerspreche. Bereits die Gewährung von Rechtshilfe für die Klageerhebung belaste sie. Ohne Zustellung der Klageschrift könne das Verfahren in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht beginnen.
2. Das Bundesministerium der Justiz, das namens der Bundesregierung Stellung genommen hat, hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
Die beabsichtigte Zustellung halte sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Eine Klage, mit der Strafschadensersatz gefordert werde, habe einen zivilrechtlichen Zahlungsanspruch zum Gegenstand. Für die Frage der Erledigung der Zustellung komme es nicht auf die Höhe der eingeklagten Summe an. Hoheitsrechte oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland würden durch die Zustellung einer derartigen Klage nicht gefährdet. Unter Berufung auf den ordre public des ausführenden Staates dürfe die Zustellung nicht verweigert werden. Diese werde auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht.
Die generelle Ablehnung der Zustellung von Klagen auf punitive damages würde den mit den USA bestehenden Konsens über die Exklusivität des Haager Zustellungsübereinkommens bei Auslandszustellungen gefährden. Auf dieser Exklusivität habe die Bundesregierung immer wieder bestanden, nicht zuletzt wegen der in dem Übereinkommen enthaltenen Schutzvorschriften für den Zustellungsadressaten in Deutschland.
3. Die Justizminister der Bundesländer haben über die Praxis der Zentralen Behörden bei der Zustellung von Klagen berichtet, die Strafschadensersatz nach US-amerikanischem Recht zum Gegenstand hatten.
 
B.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet. Die Beschwerdeführerin wird durch den angegriffenen Beschluß, der die Bewilligung der Rechtshilfe (Zustellung der Klageschrift) durch die Senatsverwaltung für rechtmäßig hält, nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt.
I.
Dieses Grundrecht gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne (vgl. BVerfGE 80, 137 [152] m.w.N.). Geschützt ist jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt.
Die allgemeine Handlungsfreiheit ist allerdings nur in den Schranken des zweiten Halbsatzes von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet. Sie steht damit insbesondere unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen (Rechts-)Ordnung (vgl. BVerfGE 6, 32 [37 f.]; 74, 129 [152]; 80, 137 [153]). Stützt sich ein die Handlungsfreiheit einschränkender Akt der öffentlichen Gewalt auf eine Rechtsnorm, so kann mit der Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG zur Nachprüfung gestellt werden, ob diese Norm nicht nur formell, sondern auch materiell mit den Normen der Verfassung in Einklang steht, insbesondere mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar ist (vgl. BVerfGE 17, 306 [314]; 55, 159 [165]; 75, 108 [154 f.]; 80, 152 [153]).
II.
1. Ob die Zustellung in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG eingreift oder nur an den Anforderungen zu messen ist, die sich aus den Schutzpflichten des Staates ergeben, kann dahingestellt bleiben, weil hier den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen Eingriff genügt wird und aus der Schutzpflicht jedenfalls keine strengeren Maßstäbe folgen.
Die Zustellung ist ein staatlicher Hoheitsakt, mit dem ein ausländisches Gerichtsverfahren gefördert wird. Dem Zustellungsempfänger wird weder ein bestimmtes Handeln abverlangt noch ein bestimmtes Verhalten verboten. Er muß sich allerdings auf das ausländische Verfahren einlassen, wenn er keine Rechtsnachteile erleiden will, die er durch aktive Beteiligung am Verfahren möglicherweise abwenden kann. Außerdem wird er dem Risiko einer Verurteilung ausgesetzt, die zu einer Vollstreckung in sein im Ausland belegenes Vermögen führen kann, ohne daß die deutsche öffentliche Gewalt ihn davor zu schützen vermag.
2. Selbst wenn man darin einen Eingriff sieht, ist dieser aber mit Art. 2 Abs. 1 GG vereinbar.
a) Gesetzliche Grundlage für die Zustellung ist das Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 15. November 1965 (BGBl. 1977 II S. 1452) - Haager Zustellungsübereinkommen (HZÜ) -. Gegen dessen Verfassungsmäßigkeit bestehen keine Bedenken, soweit es hier entscheidungserheblich ist. Das Übereinkommen soll seiner Präambel zufolge sicherstellen, daß gerichtliche und außergerichtliche Schriftstücke, die im Ausland zuzustellen sind, ihren Empfängern rechtzeitig zur Kenntnis gelangen. Außerdem soll es die gegenseitige Rechtshilfe unter den Vertragsstaaten dadurch verbessern, daß die technische Abwicklung der Zustellung vereinfacht und beschleunigt wird. Damit dient das Übereinkommen wichtigen Belangen des Gemeinwohls, die geeignet sind, einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zu rechtfertigen.
Die gesetzliche Regelung verstößt auch nicht deshalb gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil die Zustellung - jedenfalls grundsätzlich - nicht schon wegen Unvereinbarkeit des Klagebegehrens mit dem innerstaatlichen ordre public verweigert werden darf, sondern nur dann, wenn der ersuchte Staat sie für geeignet hält, seine Hoheitsrechte oder seine Sicherheit zu gefährden (vgl. Art. 13 HZÜ). Diese Beschränkung der Überprüfungsbefugnis rechtfertigt sich aus dem Ziel des Übereinkommens. Würden die Grundsätze der innerstaatlichen Rechtsordnung bereits zum Maßstab für die Zustellung gemacht, so würde der internationale Rechtshilfeverkehr erheblich beeinträchtigt. Zum einen könnte die Prüfung der Klagen auf ihre Vereinbarkeit mit dem innerstaatlichen ordre public zu großen Verzögerungen bei der Zustellung führen. Zum anderen käme sie einer Erstreckung inländischer Rechtsvorstellungen auf das Ausland gleich und würde dem Ziel zuwiderlaufen, dem ausländischen Kläger die Führung eines Prozesses gegen einen inländischen Beklagten im Ausland zu ermöglichen. Eine solche Einschränkung des Rechtshilfeverkehrs ist grundsätzlich um so weniger geboten, als im Zeitpunkt der Zustellung der Ausgang des Verfahrens noch völlig offen ist.
Bei der Abwägung ist darüber hinaus zu berücksichtigen, daß das Haager Zustellungsübereinkommen die Rechtsstellung von Parteien mit Sitz oder Wohnsitz in Deutschland, die in einen Zivilrechtsstreit in einem der anderen Vertragsstaaten verwickelt werden, entscheidend verbessert, indem es sicherstellt, daß diese grundsätzlich im Ausland nicht mit einem Zivilverfahren überzogen werden können, von dem sie keine Kenntnis haben.
Mit seinem Abschluß war die Erwartung verbunden, die Vertragsstaaten würden nach ihrem nationalen Recht noch bestehende und durch das Übereinkommen nicht ausgeschlossene Möglichkeiten einer Inlandszustellung an Ausländer zurücknehmen, beispielsweise die Möglichkeit einer öffentlichen Zustellung, deren Zulässigkeit allein vom dem Umstand abhängt, daß die Partei, der zuzustellen ist, ihren Sitz oder Wohnsitz im Ausland hat (vgl. dazu die Denkschrift zum Übereinkommen, BTDrucks. 7/4892, S. 39 f. zu den Grundzügen und S. 42 zu Artikel 1). Soweit nach dem nationalen Recht eine Zustellung an Ausländer im Ausland erforderlich ist, stellt das Übereinkommen sicher, daß der ausländischen Partei die Klage in einer Weise zugestellt wird, die ihr rechtliches Gehör wahrt. Das Übereinkommen schließt nach dem Verständnis aller Vertragschließenden, jedenfalls dem der Bundesrepublik Deutschland und der USA, aus, daß neben den dort vorgesehenen Formen einer Auslandszustellung andere wirksam sind, namentlich die nach US-amerikanischem Recht an sich zulässige Übersendung einer Klageschrift durch eingeschriebenen Brief (vgl. die Nachweise bei Pfeil-Kammerer, Deutsch-amerikanischer Rechtshilfeverkehr in Zivilsachen, 1987, S. 53 f.). Die Bundesrepublik Deutschland konnte zuvor nicht verhindern, daß die US-amerikanischen Gerichte eine auf diese Weise bewirkte Zustellung an Parteien in Deutschland als wirksam behandelten, mit der Folge, daß gegen diese ein Urteil ergehen konnte.
Demgegenüber bietet die Zustellung nach dem Haager Zustellungsübereinkommen eine bessere Gewähr dafür, daß die deutsche Partei sich gegen die Klage wirksam verteidigen kann. Zuzustellen ist regelmäßig in einer der Formen, die das Recht des ersuchten Staates für die Zustellung der in seinem Hoheitsgebiet ausgestellten Schriftstücke an dort befindliche Personen vorschreibt (Art. 5 Abs. 1 Buchstabe a HZÜ); danach ist eine ausländische Klageschrift in der Bundesrepublik Deutschland nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die von Amts wegen zu bewirkenden Zustellungen zuzustellen (§ 208 ZPO). Ist das Schriftstück förmlich zuzustellen, so muß es in deutscher Sprache abgefaßt oder in diese übersetzt sein (Art. 5 Abs. 3 HZÜ i.V.m. § 3 des Ausführungsgesetzes vom 22. Dezember 1977, BGBl. I S. 3105).
Die Artikel 15 und 16 HZÜ sollen die Rechtsstellung der inländischen Partei in dem ausländischen Verfahren ebenfalls verbessern. Sie haben vor allem dann Bedeutung, wenn das ausländische Recht die Wirkungen der Zustellung (insbesondere das Inlaufsetzen einer Frist) nicht an den tatsächlichen Zugang des Schriftstücks (Ladung, Urteil), sondern an andere Umstände (insbesondere die Absendung, etwa an die Zentrale Behörde zwecks Zustellung) knüpft (vgl. Pfeil-Kammerer, a.a.O., S. 29 bis 32 und S. 147 bis 151 zur Rechtslage in den USA, wenn das Abkommen nicht gälte; ferner die Denkschrift zu dem Übereinkommen, BTDrucks., a.a.O., S. 40).
War zur Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens eine Ladung oder ein entsprechendes Schriftstück nach dem Übereinkommen zum Zweck der Zustellung in das Ausland zu übermitteln und hat sich der Beklagte nicht auf das Verfahren eingelassen, so hat nach Art. 15 Abs. 1 HZÜ der Richter das Verfahren auszusetzen, bis festgestellt ist, daß das Schriftstück in einer der Formen zugestellt worden ist, die das Recht des ersuchten Staates für die Zustellung der in seinem Hoheitsgebiet ausgestellten Schriftstücke an dort befindliche Personen vorschreibt, oder daß das Schriftstück entweder dem Beklagten selbst oder aber in seiner Wohnung nach einem anderen in dem Übereinkommen vorgesehenen Verfahren übergeben worden ist, und daß in jedem dieser Fälle das Schriftstück so rechtzeitig zugestellt oder übergeben worden ist, daß der Beklagte sich hätte verteidigen können. War zur Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens eine Ladung oder ein entsprechendes Schriftstück nach dem Übereinkommen zum Zwecke der Zustellung in das Ausland zu übermitteln und ist eine Entscheidung gegen den Beklagten ergangen, der sich nicht auf das Verfahren eingelassen hat, so kann ihm der Richter nach Art. 16 Abs. 1 HZÜ in bezug auf Rechtsmittelfristen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligen, vorausgesetzt, daß der Beklagte ohne sein Verschulden nicht so rechtzeitig Kenntnis von dem Schriftstück erlangt hat, daß er sich hätte verteidigen können, und nicht so rechtzeitig Kenntnis von der Entscheidung, daß er sie hätte anfechten können, und daß die Verteidigung des Beklagten nicht von vornherein aussichtslos erscheint.
Auch die in Art. 15 Abs. 2 HZÜ eröffnete Möglichkeit, den Rechtsstreit zu entscheiden, wenn ein Zeugnis über die Zustellung nicht eingegangen ist, besteht nicht ohne Einschränkungen. Dabei wird nämlich vorausgesetzt, daß das Schriftstück nach einem in dem Übereinkommen vorgesehenen Verfahren übermittelt worden ist, daß ferner seit der Absendung des Schriftstücks eine Frist verstrichen ist, die der Richter nach den Umständen des Falles als angemessen erachtet und die mindestens sechs Monate betragen muß, und daß schließlich trotz aller zumutbaren Schritte bei den zuständigen Behörden des ersuchten Staates ein Zeugnis nicht zu erlangen war.
b) Ob die Zustellung einer Klage selbst dann mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar wäre, wenn das mit der Klage angestrebte Ziel offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaats verstieße, wie sie auch in internationalen Menschenrechtsübereinkommen verankert sind, bedarf in diesem Zusammenhang keiner grundsätzlichen Klärung. Die Zustellung einer Klage, mit der - auch - Strafschadensersatz nach US-amerikanischem Recht (punitive or exemplary damages) geltend gemacht wird, ist jedenfalls nicht unzumutbar.
aa) Der Strafschadensersatz nach amerikanischem Recht ist allerdings dem deutschen zivilrechtlichen Sanktionensystem fremd. Er wird zugesprochen, wenn der Beklagte nicht nur einen allgemeinen Haftungstatbestand erfüllt, sondern darüber hinaus ein absichtliches, bösartiges oder rücksichtsloses Fehlverhalten gezeigt hat (vgl. die Darstellung des Strafschadensersatzes nach US-amerikanischem Recht in BGHZ 118, 312 [334 ff.]; ferner Stiefel/Stürner, Die Vollstreckbarkeit US-amerikanischer Schadensersatzurteile exzessiver Höhe, VersR 1987, S. 829 ff., insbes. S. 835 bis 843; Siehr, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Verurteilungen zu "punitive damages", RIW 1991, S. 705 ff.).
Mit der Zuerkennung von Strafschadensersatz werden verschiedene Zwecke verfolgt. Hauptzweck sind Bestrafung und Abschreckung (punishment and deterrence). Der Schuldner soll für sein rücksichtsloses Verhalten bestraft werden, auch damit Racheakte des Opfers vermieden werden. Er soll präventiv von künftigem sozialschädlichen Verhalten abgeschreckt werden, soweit die Pflicht, den tatsächlich entstandenen Schaden auszugleichen, eine Steuerung des Verhaltens noch nicht ausreichend gewährleistet. Der Geschädigte soll ferner für die auf seinem Einsatz beruhende Durchsetzung des Rechts - zur Stärkung der Rechtsordnung im allgemeinen - belohnt werden. Darüber hinaus soll das Opfer eine Ergänzung zu einer als unzureichend empfundenen Schadensbeseitigung erhalten. Dabei kann sich unter anderem eine fehlende soziale Absicherung des Geschädigten auswirken. Ferner wird in diesem Zusammenhang berücksichtigt, ob der Schädiger sich bei der Regulierung des Schadens weigerlich gezeigt hat und deshalb dem Geschädigten ein zusätzlicher Ausgleich zugesprochen werden soll (vgl. das Beispiel bei Böhmer, Spannungen im deutsch-amerikanischen Rechtsverkehr in Zivilsachen, NJW 1990, S. 3049, 3050). Schließlich kann bei der Zuerkennung der punitive damages in Betracht gezogen werden, daß das US-amerikanische Prozeßkostenrecht auch der obsiegenden Partei nur ausnahmsweise die Erstattung ihrer Kosten zubilligt. Mit Hilfe des Strafschadensersatzes können auch die Kosten des obsiegenden Geschädigten auf den Schädiger abgewälzt werden.
bb) Ob aus verfassungsrechtlicher Sicht der Auffassung des Bundesgerichtshofs zu folgen ist, daß es sich bei den punitive damages um eine Sanktion handelt, die unter das Strafmonopol des Staates fällt (vgl. BGHZ 118, 312 [344]), kann hier dahingestellt bleiben. Auch der Bundesgerichtshof erkennt an, daß der Strafschadensersatz teilweise Zielen dient, die mit der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland vereinbar sind. Unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaates werden jedenfalls nicht schon durch die Möglichkeit der Verhängung von Strafschadensersatz verletzt. Insbesondere kann in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben, daß mit punitive damages auch immaterielle Schäden ausgeglichen werden können, was auch dem deutschen Schadensersatzrecht nicht fremd ist, und daß ein Ausgleich der Verfahrenskosten ebenfalls nicht ohne weiteres gegen den deutschen ordre public verstößt (vgl. BGHZ 118, 312 [340]).
Zudem bewirkt die Zustellung allenfalls eine Gefährdung der finanziellen Interessen des Beklagten. Er wird zwar Prozeßpartei. Ob er aber tatsächlich auch zur Zahlung von Strafschadensersatz verurteilt wird, stellt sich erst bei Abschluß des Verfahrens mit dem Erlaß des Urteils heraus. Der deutsche Beklagte kann in diesem Verfahren auf eine Abweisung der Klage hinwirken. Die Einbeziehung in das ausländische Verfahren durch die Zustellung ist ihm um so mehr zuzumuten, als er den Zugriff des ausländischen Gläubigers auf sein inländisches Vermögen unter den Voraussetzungen des § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO verhindern kann (vgl. dazu BGHZ 118, 312 [338 ff.]).
Es kommt hinzu, daß auch bei einer Verweigerung der Zustellung eine Verbesserung der Rechtsstellung des deutschen Beklagten nicht gewährleistet wäre. Denn der inländische Beklagte wäre nicht davor geschützt, vom amerikanischen Kläger dennoch in den Prozeß hineingezogen zu werden. Wie schon erwähnt, kann das ausländische Verfahren nach Maßgabe des Art. 15 Abs. 2 HZÜ auch ohne Nachweis der Zustellung durchgeführt werden. Außerdem wird nach amerikanischem Recht die Auffassung vertreten, daß die Zustellung an eine US-amerikanische Tochtergesellschaft des deutschen Mutterunternehmens zugleich an dieses wirksam vorgenommen werden kann (Volkswagen AG v. Schlunk, US Supreme Court vom 15. Juni 1988, 108 S. Ct. 2104). Im übrigen schließt das Haager Zustellungsübereinkommen nicht die Möglichkeit aus, zunächst im Wege der Rechtshilfe eine Klage in Deutschland zuzustellen, mit der nur ausgleichender Schadensersatz (compensatory damages) geltend gemacht wird, und - wenn der deutsche Beklagte sich zur Verteidigung gegen diese Klage eines Anwaltes in den USA bedient - diesem eine Klageerweiterung auf Strafschadensersatz wirksam zuzustellen (vgl. OLG Frankfurt am Main, RIW 1991, S. 417, [418]; OLG Düsseldorf, NJW 1992, S. 3110, [3112]).
Schließlich ist zu bedenken, daß die Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland, inländischen Parteien im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten eine Form der Zustellung zu gewährleisten, die ihre Chancen zur wirksamen Beteiligung sicherstellt, empfindlich beeinträchtigt wären, wenn die Zustellung solcher Klagen abgelehnt würde.
Henschel, Seidl, Grimm, Söllner, Kühling, Seibert, Jaeger, Haas