BVerfGE 72, 299 - Wackersdorf
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 7. Juni 1986 gemäß § 32 Abs. 6 BVerfGG
-- 1 BvR 647/86 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Bürgerforums gegen Atomkraftwerke Landshut und Umgebung e. V., gesetzlich vertreten durch den 1. Vorsitzenden Thomas von Taeuffenbach, Dammstraße 13, Landshut - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Thomas von Taeuffenbach, Dammstraße 13, Landshut - gegen a) den Beschluß des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs München vom 6. Juni 1986, b) den Beschluß des Bayer. Verwaltungsgerichts Regensburg vom 5. Juni 1986 _ RN 8 S 86 877 -, c) den Bescheid des Landratsamtes Schwandorf vom 28. Mai 1986 - 2. O/2.40 - 1340/1-24/1986 -, hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
Entscheidungsformel:
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
 
Gründe:
1. Die Beschwerdeführerin zeigte Mitte Mai 1986 dem Landratsamt Schwandorf an, sie beabsichtige eine Großdemonstration gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf durchzuführen. Mit Bescheid des Landratsamts vom 28. Mai 1986 wurde die am 7. Juni 1986 geplante Demonstration für die Veranstaltungsorte "Rotes Kreuz" und "Bandtrasse" verboten, die etwa 50 m ("Rotes Kreuz") und etwa 650 m ("Bandtrasse") vom Bauplatz entfernt liegen. Die sofortige Vollziehung des Bescheides wurde angeordnet. In den Gründen des Bescheides heißt es, daß die Demonstrationen an den vorgesehenen Standorten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu schwerwiegenden Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum Einzelner führen könnten.
Gegen diesen Bescheid wandte sich die Beschwerdeführerin an das Verwaltungsgericht mit dem Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Landratsamts Schwandorf in vollem Umfang wieder herzustellen, hilfsweise die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bezüglich des Versammlungsortes "Bandtrasse" wieder herzustellen.
Dieser Antrag wurde durch Beschluß vom 5. Juni 1986 zurückgewiesen. Er sei zulässig, jedoch nicht begründet. Unter Bezugnahme auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1985 (BVerfGE 69, 315 -- Brokdorf) wurde ausgeführt, daß nur überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen könnten, den Rechtsschutzanspruch einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Auch bei Zugrundelegung dieses Gebotes des effektiven Rechtsschutzes erweise sich das Versammlungsverbot für beide beantragte Versammlungsorte als berechtigt. Dieses wurde unter Hinweis auf die besonderen Gefährdungen im einzelnen ausgeführt. Gegenüber solchen Gefahren erschienen die von der Beschwerdeführerin gemachten Vorschläge zur Abminderung der Gefahr nicht hinreichend. Daher sei der angegriffene Beschluß des Landratsamtes und die Entscheidung, ihn wegen der erkennbaren Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung für vollziehbar zu erklären, rechtmäßig.
Gegen diesen Beschluß hat die Beschwerdeführerin Beschwerde eingelegt. Diese ist vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof im wesentlichen aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses vom 5. Juni 1986 zurückgewiesen worden.
Gegen diesen Beschluß und die vorangegangenen Entscheidungen wendet sich die Beschwerdeführerin mit der auf die Verletzung des Art. 8 GG gestützten Verfassungsbeschwerde. Die Verfassungsbeschwerde ist am 6. Juni 1986 um 21.00 Uhr beim Bundesverfassungsgericht eingegangen. Mit ihr ist der Antrag verbunden, im Wege der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid des Landratsamtes wieder herzustellen.
2. Nach § 32 Abs. 6 BVerfGG könnte die beantragte einstweilige Anordnung wegen ihrer offensichtlich besonderen Dringlichkeit erlassen werden, obschon nur drei Richter des Ersten Senats anwesend sind. Dabei kann es offenbleiben, ob die Beschwerdeführerin als eingetragener Verein in zulässiger Weise einen Antrag auf Erlaß der begehrten Entscheidung stellen könnte. Ihr Anliegen ist jedenfalls unbegründet.
Trotz der bisher nur kursorischen Begründung der Verfassungsbeschwerde ist davon auszugehen, daß diese weder unzulässig noch offensichtlich aussichtslos ist. Ob das beanstandete Demonstrationsverbot und seine sofortige Vollziehung mit der Verfassung in Einklang stehen, bedarf der näheren Prüfung im Hauptsacheverfahren.
Bei der Frage, ob eine einstweilige Anordnung zu erlassen ist, muß nach ständiger Rechtsprechung eine Abwägung der Folgen vorgenommen werden, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (BVerfGE 34, 211 [215]; 56, 244 [246]).
Eine verantwortliche Abwägung wäre dabei nur in voller Kenntnis der hierfür maßgeblichen Umstände und unter Anhörung der Beteiligten möglich. Da die angegriffenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts erst zwei Tage und die Beschwerdeentscheidung erst am Tage vor der beabsichtigten Demonstration ergangen sind, besteht hierzu keine Gelegenheit. Das Bundesverfassungsgericht hat angesichts des unmittelbar bevorstehenden Demonstrationsbeginnes auch nicht die Möglichkeit gehabt, die Akten, aufgrund derer die angegriffenen Entscheidungen ergangen sind, beizuziehen, ohne dadurch eine rechtzeitige Entscheidung unmöglich zu machen. Nach dem Lagebild, wie es sich im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus der Begründung des angegriffenen Bescheides und des Verwaltungsgerichts ergibt, muß im Falle der Durchführung der Demonstration in der Nähe des Bauplatzes mit unmittelbaren Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gerechnet werden. Unter solchen Umständen sieht sich das Bundesverfassungsgericht zu einer von den angegriffenen Entscheidungen abweichenden Beurteilung nicht in der Lage. Dies gilt vornehmlich, weil die angegriffenen Entscheidungen es wahrscheinlich machen, daß sie die verfassungsrechtlichen Grundsätze beachtet haben, welche das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 14. Mai 1985 (BVerfGE 69, 315 -- Brokdorf) entwickelt hat.
Herzog Katzenstein Heußner