BVerfGE 67, 213 - Anachronistischer Zug
Zur Tragweite der Gewährleistung der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) für die strafrechtliche Beurteilung eines politischen Straßentheaters.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 17. Juli 1984
-- 1 BvR 816/82 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn L... - Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, Kaiser-Wilhelm-Straße 53, Hamburg 36 - gegen a) den Beschluß des Bayerischen Obersten Landgerichts vom 30. April 1982 - 5 St 91/82 -, b) das Urteil des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 30. Oktober 1981 - Ls 20 Js 12 777/80 -.
Entscheidungsformel:
Das Urteil des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 30. Oktober 1981 -- Ls 20 Js 12 777/80 -- und der Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 30. April 1982 -- 5 St 91/82 -- verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes und werden, soweit sie ihn betreffen, aufgehoben. Das Verfahren wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Kempten zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
 
Gründe:
 
A.
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Frage, ob eine Verurteilung wegen Beleidigung im Rahmen eines politischen Straßentheaters vor der Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG Bestand hat.
I.
1. Der Dichter Bertolt Brecht schuf 1947 in Anlehnung an das 1819/20 entstandene Gedicht von Percy Bysshe Shelley "The Masque of Anarchy. Written on the Occasion of the Massacre in Manchester", welches eine Reaktion Shelley's auf die blutige Niederwerfung des Arbeiteraufstandes von Peterloo darstellte, das Gedicht "Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy". Darin beschreibt er einen Zug durch das in Trümmern liegende Deutschland, der sich hinter zwei alten Tafeln mit den Inschriften "Freiheit" und "Democracy" bewegt. Teilnehmer des Zuges sind neben anderen: ein Pater, der unter einem Kreuz schreitet, dessen Haken überklebt sind; Herren der Rüstungsindustrie; Lehrer, die für das Recht eintreten, die deutsche Jugend zur Schlächtertugend zu erziehen; Mediziner, die Kommunisten für ihre Versuche fordern; Planer der Vergasungslager; in hohen Ämtern sitzende "entnazte" Nazis; Pressefreiheit fordernde "Stürmer"-Redakteure; ein alle von der "Hitlerei" freisprechender Richter; "all die Guten, die geschwind nun es nicht gewesen sind".
In der "Hauptstadt der Bewegung" schließen sich sechs "Parteigenossen" dem Zug an: Unterdrückung, Aussatz, Betrug, Dummheit, Mord und Raub, welche ebenfalls Freiheit und Democracy verlangen, und die Bertolt Brecht mit folgenden Versen schildert:
    Knochenhand am Peitschenknauf Fährt die Unterdrückung auf. In'nem Panzerkarr'n fährt sie Dem Geschenk der Industrie. Groß begrüßt, in rostigem Tank Fährt der Aussatz. Er scheint krank. Schämig zupft er sich im Winde Hoch zum Kinn die braune Binde. Hinter ihm fährt der Betrug Schwenkend einen großen Krug Freibier. Müßt nur, draus zu saufen Eure Kinder ihm verkaufen. Alt wie das Gebirge, doch Unternehmend immer noch Fährt die Dummheit mit im Zug Läßt kein Auge vom Betrug. Hängend überm Wagenbord Mit dem Arm, fährt vor der Mord. Wohlig räkelt sich das Vieh Singt: Sweet dream of Liberty. Zittrig noch vom gestrigen Schock Fährt der Raub dann auf im Rock Eines Junkers Feldmarschall Auf dem Schoß einen Erdball. Aber alle die sechs Großen Eingeseßenen, Gnadelosen Alle nun verlangen sie Freiheit und Democracy.
2. Dieses Gedicht Brechts diente im Bundestagswahlkampf 1980 politischen Gegnern des damaligen Kanzlerkandidaten der CDU/CSU, des Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, als Anknüpfungspunkt für ein politisches Straßentheater. Nach dem ihm zugrunde liegenden Regiebuch mit dem Titel "Ein Zug zur Rettung des Vaterlandes oder Freiheit und Democracy" sollte einem aus Fahrzeugen und Fußgängern bestehenden Zug das Gedicht Brechts als Vorbild dienen, wobei der Zug auch ohne das Gedicht "Beschreibung heutiger Wirklichkeit" sein sollte. Bei der Fahrt durch die Bundesrepublik in der Zeit vom 15. September bis zum 4. Oktober 1980 sollten -- wie es auch geschehen ist -- in Ortschaften und Städten Szenen gespielt und auch das Gedicht gesprochen werden.
Der Zug sollte mit einem Fahrzeug, das eine große Glocke mit der Aufschrift "Freiheit und Democracy" trug, beginnen. Ihm sollten unter anderem ein Kübelwagen mit einem "General", ein Militärlaster mit einer Rakete und einer Militärkapelle, drei schwarze Limousinen (mit Kennzeichen SIE-MENS, FLI-CK, THYS-SEN), ein Wagen mit "Mitgliedern des Volksgerichtshofs" und ein Wagen mit schwarz uniformierten Angehörigen eines privaten Sicherheitsdienstes folgen.
Anknüpfend an die Wahlkampfparole der CDU/CSU "Freiheit statt Sozialismus" waren für den Zug Transparente mit Aufschriften wie "Freiheit statt Butter", "Für den Sieg im Dritten Weltkrieg", "Freiheit statt Kommunismus", "Für Deutschland in den Grenzen von 1937", "Freiheit statt Politik", "Für das Recht auf eine Bild-Zeitung", "Freiheit statt Enteignung", "Freiheit für uns", "Freisler statt Spandau" vorgesehen. Das Ende des Zuges bildete der sogenannte Plagenwagen, zu dem es im Regiebuch wörtlich heißt:
    "Nachdem der Zug sich solche Mühe gab, für Franz Josef Strauß die Werbetrommel zu rühren, tritt dieser nun selbst in Erscheinung: in einem großen offenen Wagen sitzt mit seiner Maske jemand neben dem Chauffeur bzw. steht, die eine Hand auf der Windschutzscheibe, mit der anderen winkend oder ein Schild mit 'Freiheit und Democracy' o. ä. (das er auf jeden Fall dabei haben muß) schwenkend. Kurzum: Strauß markiert den Sieger, der er sein will, der Beste, den man sich denken kann usw. Aber, wie es das Gedicht will, sitzen, allerdings zunächst kaum auffallend, im Wagen auch die sechs Plagen in Gestalt der 'sechs Parteigenossen' aus dem 'braunen Haus': die Unterdrückung in der Maske von Heydrich, der Aussatz in der von Hitler, der Betrug in der von Goebbels, die Dummheit wohl in der von Ley, der Mord in der von Himmler und der Raub in der von Göring. Diese Besetzung des Wagens drückt allerdings kein ungetrübtes Verhältnis aus. Im Gegenteil: Was dann zu den folgenden Versen von Brecht zu sehen sein wird, ist eine Darstellung der scharfen Auseinandersetzung, die Strauß unablässig betreibt. (So im Fernseh-,Disput' mit Golo Mann über Hitler: 'Sie halten ihn für intelligenter, als ich ihn gehalten habe', und: 'Kleiner Spießbürger ... bornierter Nationalist ... zwischen Wahnsinn und Verbrechen hin- und hergetriebener Pathologe.)"
Bei Nennung der Stichworte (Unterdrückung, Betrug usw.) sollten sich die entsprechenden Puppen (Plagen) erheben und von dem Darsteller des Bayerischen Ministerpräsidenten wieder -- zunächst erfolgreich -- auf ihren Platz zurückgedrückt werden, bis kurz vor Schluß des Gedichts alle sechs Figuren aufstehen, den Blick auf diesen verstellen und nur das von ihm hochgehaltene Schild mit der Aufschrift "Freiheit und Democracy" sichtbar bleiben lassen sollten. Das Regiebuch bemerkt hierzu:
    "Der Charakter des Kampfs wie auch sein anzunehmender Ausgang (eine Politik, die die 'Vorteile' des Hitlerfaschismus haben will, ohne seine Nachteile aufzuweisen, ist nicht möglich, sondern würde nur in eine noch größere Katastrophe führen) mag dadurch besonders deutlich werden, daß dieser Kampf stattfindet zwischen einem Menschen mit Strauß-Maske einerseits und sich mechanisch, maschinenmäßig bewegenden Figuren andererseits, also Figuren, von denen zu erwarten ist, daß sie immer wieder aufstehen werden, auch wenn sich ein Strauß noch so sehr anstrengt zu beweisen, daß er 'der Bessere' ist."
3. Dem Beschwerdeführer war in diesem "Anachronistischen Zug" die Aufgabe zugewiesen, als Beifahrer in dem letzten Wagen den damaligen Kanzlerkandidaten darzustellen und zu diesem Zweck eine weiße Maske mit dessen Gesichtszügen zu tragen. Am Vormittag des 15. September 1980 fuhr der Zug zu dem ihm vom Landratsamt zugewiesenen Platz in Sonthofen, wo er den Regieanweisungen folgend Aufstellung nahm und auf die Einhaltung von ordnungsbehördlichen Auflagen besichtigt wurde. Das Verdeck des letzten Wagens wurde abgenommen, so daß die sechs Puppen sichtbar wurden. Der Beschwerdeführer saß oder stand auf dem Beifahrersitz und trug dabei die Maske. Auf Aufforderung von Pressevertretern und Polizeibeamten stellte er sich mehrmals mit dem Gesicht zu den Puppen und hielt ein Schild mit der Aufschrift "Hitler muß einmal tot sein" hoch. Auch wurde eine Hydraulik im Wagen betätigt, worauf sich die Puppen aufstellten und wieder setzten. Das Gedicht Brechts wurde indessen nicht gesprochen.
Am 25. September 1980 erreichte der Zug Kassel. Während er sich vor Beginn der Rezitation des Gedichts formierte, wurde das Verdeck des letzten Wagens wieder abgenommen, so daß die Puppen für die umstehende Menschenmenge sichtbar wurden. Der Beschwerdeführer stand neben dem Fahrer im Wagen und trug wiederum die weiße Maske.
II.
Diesen Sachverhalt würdigte das Amtsgericht als Beleidigung des Bayerischen Ministerpräsidenten, der Strafantrag gestellt und sich dem gegen den Beschwerdeführer eingeleiteten Strafverfahren als Nebenkläger angeschlossen hatte, in zwei sachlich zusammentreffenden Fällen und verurteilte den Beschwerdeführer sowie die mitangeklagte Veranstalterin des Zuges zu Geldstrafen.
Die Verurteilung stützte es auf folgende Erwägungen:
Der Beschwerdeführer habe zwar erklärt, der Nebenkläger sei ihm -- allerdings nicht auf politischer Ebene -- persönlich vollkommen egal und er habe sich nach besten Kräften bemüht, die Regieanweisungen einzuhalten, beim Spiel habe er mit den Puppen gekämpft und niemals Verbrüderung mit ihnen zum Ausdruck gebracht.
Diese Einlassung entlaste den Beschwerdeführer jedoch nicht. Das Gericht habe sich zunächst in den Stand eines unvoreingenommenen, besonnenen Straßenpassanten versetzt, der jeweils vor Beginn der eigentlichen Aufführung des Gedichts den Wagen mit den Puppen und den Beschwerdeführer mit der weißen Maske sehe. Einem solchen Betrachter vermittle sich engste Zusammengehörigkeit des Nebenklägers mit den Führern des Dritten Reiches dadurch, daß er sie zusammen "in einem Boot" sitzen sehe. Die weitere Assoziation, der Nebenkläger sei aufgrund dieses einträchtigen Zusammensitzens den NS-Größen gleichzusetzen und habe sich deren politische Ziele zu eigen gemacht, werde auch nicht dadurch unterbrochen, daß der Beschwerdeführer ein Schild mit der Aufschrift "Hitler muß einmal tot sein" in der Hand gehalten oder auf dem Beifahrersitz stehend und über den Puppen erhöht posiert habe. Das könne auch dahin verstanden werden, daß mit der Diskussion über Hitler und das Dritte Reich einmal Schluß sein müsse, oder daß sich der Nebenkläger zwar den Exponenten des Dritten Reiches überlegen fühle, sich aber nicht deutlich von ihnen distanziere, sondern in der heutigen Zeit eher die Galionsfigur für deren Gedankengut spiele. Ohne Bedeutung für eine Nichtidentifizierung des Nebenklägers mit den NS-Größen sei der Umstand, daß dieser während der Rezitation der letzten Strophe des Gedichts die Puppen bekämpfe und immer wieder hinunterdrücke, denn in beiden Fällen sei es zu dieser Aufführung noch nicht gekommen. Der Beschwerdeführer könne sich auch nicht darauf berufen, der gesamte "Anachronistische Zug" stelle als szenische Darstellung des Brecht'schen Gedichts eine Kunstform dar, die unter den Kunstvorbehalt des Art. 5 Abs. 3 GG falle. Das könne allenfalls für die Aufführung selbst, möglicherweise noch für das Fahren des Zuges über Land gelten, keineswegs aber für die hierfür notwendigen Vorbereitungen wie das Aufstellen des Zuges. Der Wagen mit dem Beschwerdeführer habe noch keinerlei direkten Bezug zur Aufführung selbst gehabt; er sei nicht in Aktion gewesen und habe auch nicht unmittelbar davor gestanden. Das Gedicht sei noch nicht deklamiert und die es versinnbildlichenden Handlungen und Gesten seien noch nicht vorgenommen worden. Daher erübrigten sich Ausführungen zur Frage des Kunstvorbehalts, zumal Art. 5 Abs. 3 GG Beleidigungen nicht schützen wolle.
Die Revision des Beschwerdeführers und der mitangeklagten Veranstalterin, mit welcher insbesondere eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gerügt wurde, verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht als offensichtlich unbegründet.
III.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus den Art. 5 Abs. 3 Satz 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 GG. Er bezieht sich auf die in Abschrift überreichte Verfassungsbeschwerde der mitverurteilten Veranstalterin. In dieser wird ausgeführt, der "Anachronistische Zug" habe das Gedicht Brechts darstellen und optisch wiedergeben sollen. Seinem Inhalt entsprechend sei die Aufführung durch die aktualisierte Wiedergabe gegenwärtiger Erscheinungen des Rechtsradikalismus inszeniert worden. Das der Veranstaltung zugrunde liegende Gedicht sei zweifelsfrei Kunst. Ebensowenig dürfte es zweifelhaft sein, daß seine Inszenierung und Umsetzung mit den üblichen Mitteln des Theaters auf einer Bühne als Kunst anzusehen seien. Allein die Verlegung des Spielortes auf die Straße könne den einmal angenommenen Kunstcharakter nicht beseitigen. Das angegriffene Urteil trage nicht der Tatsache Rechnung, daß die Kunstfreiheit schrankenlos gewährleistet sei. Es öffne vielmehr Tür und Tor für die beliebige Bestrafung infolge eigenwilliger Interpretation eines Kunstwerks durch die Gerichte, die sich nicht an kunstgerechte "Auslegungsmodi" hielten. Bereits die Ermittlung des Aussagekerns stelle eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG dar. Es sei fehlerhaft, den Beurteilungsstandpunkt eines unvoreingenommenen, besonnenen Straßenpassanten einzunehmen. Das Gericht hätte berücksichtigen müssen, daß es sich um ein Vorhaben im Wahlkampf gehandelt habe, das den politisch informierten Bürger jener Tage voraussetze, daß es ein künstlerisches Anliegen sei, an das auch der Durchschnittsbürger die Elle anlege, mit der üblicherweise Kunstwerke gemessen würden, und daß schließlich der Betrachter maßgeblich sei, der den gesamten etwa einen Kilometer langen Konvoi gesehen habe. Vom zutreffenden Standpunkt aus wäre erkannt worden, daß das Verhältnis des Bayerischen Ministerpräsidenten zu den Nazi-Figuren durchaus differenziert dargestellt worden sei.
Ein weiterer Verstoß liege darin, daß von mehreren denkbaren Interpretationen nur die strafrechtlich belastende als zutreffend angesehen worden sei. Die von der Veranstalterin gewünschte Interpretation stelle keine Beleidigung dar. Die Kunstfreiheit sei schrankenlos gewährleistet und ende erst dort, wo die Menschenwürde oder ein vergleichbar hohes Persönlichkeitsgut unter mißbräuchlicher Berufung auf sie verletzt werde. Das Urteil zerschneide den Gesamtzusammenhang, um so dem Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG aus dem Weg zu gehen. Moderne Theateraufführungen bezögen oftmals auch die Vorbereitungshandlungen in die Spielhandlung mit ein und machten sie zum Gegenstand der künstlerischen Darbietung.
2. Der Bayerische Staatsminister der Justiz, dem neben dem Nebenkläger des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist, hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, weil sie nicht rechtzeitig substantiiert begründet worden sei. Die bloße Bezugnahme auf eine in Abschrift überreichte andere Verfassungsbeschwerde reiche nicht aus.
In jedem Falle sei sie jedoch unbegründet, weil der Beschwerdeführer nicht in Ausübung der Kunstfreiheit gehandelt habe. Selbst wenn sein Verhalten noch in den Schutzbereich der Kunstfreiheit falle, wäre es einer Bestrafung wegen Beleidigung nicht entzogen. Darstellungen, die einen demokratischen Politiker mit Erscheinungsformen oder Repräsentanten des Nationalsozialismus in Beziehung brächten und die so ausgelegt werden können, als distanziere sich dieser nicht hinreichend von ihnen, seien besonders schwerwiegende Angriffe auf das Persönlichkeitsrecht, die von der Freiheit der Kunst nicht mehr gedeckt seien.
 
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Obwohl die Beschwerdeschrift selbst sich darin erschöpft, die angegriffenen Entscheidungen und einige als verletzt bezeichnete Grundrechtsartikel zu nennen, genügt die Verfassungsbeschwerde den Anforderungen des § 92 BVerfGG. Es ist zwar grundsätzlich nicht zulässig, zur Begründung einer eigenen Verfassungsbeschwerde auf diejenige eines anderen Beschwerdeführers zu verweisen (BVerfGE 8, 141 [143]). Dies kann aber nur gelten, wenn das in Bezug genommene Schreiben der Beschwerdeschrift nicht beigefügt ist, so daß ohne dessen Kenntnis der Verfassungsbeschwerde nicht entnommen werden kann, worin die Grundrechtsverletzungen gesehen werden. Im vorliegenden Falle bildete die Beschwerdeschrift der mitangeklagten und mitverurteilten Veranstalterin eine -- beigefügte -- Anlage der Verfassungsbeschwerde, auf welche die Beschwerdeschrift Bezug nimmt.
 
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen strafrechtliche Entscheidungen, welche hinsichtlich der Tatsachenfeststellung sowie der Auslegung und Anwendung des Strafrechts vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht nachzuprüfen sind. Es hat jedoch sicherzustellen, daß die ordentlichen Gerichte die grundrechtlichen Normen und Maßstäbe beachten. Dabei hängen die Grenzen seiner Eingriffsmöglichkeit namentlich von der Intensität der geltend gemachten Grundrechtsbeeinträchtigung ab: Die Schwelle eines Verstoßes gegen objektives Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist erreicht, wenn die Entscheidung der Strafgerichte Fehler bei der Tatsachenfeststellung oder Auslegung erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 66, 116 [131] -- Springer/Wallraff -; vgl. auch im Zusammenhang mit der Kunstfreiheitsgarantie schon BVerfGE 30, 173 [188, 196 f.]). Je nachhaltiger ferner eine Verurteilung im Ergebnis die Grundrechtssphäre des Verurteilten trifft, desto strengere Anforderungen sind an die Begründung dieses Eingriffs zu stellen und desto weiter reichen die Nachprüfungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 42, 143 [148 f.] -- DGB -).
Eine strafrechtliche Verurteilung ist als Sanktion kriminellen Unrechts schon für sich allein betrachtet von größerer Intensität als eine zivilrechtliche Verurteilung zu Unterlassung, Widerruf oder Schadensersatz (BVerfGE 43, 130 [136] -- politisches Flugblatt -). Bei der strafrechtlichen Sanktion einer Handlung, für welche die Garantie der Kunstfreiheit in Frage steht, kommt die Gefahr hinzu, daß die negativen Auswirkungen für die Ausübung dieser wegen ihrer besonderen Bedeutung ohne Gesetzesvorbehalt gewährleisteten Freiheit über den konkreten Fall hinausgehen. Bei dieser Sachlage kann das Bundesverfassungsgericht seine Überprüfung nicht auf die Frage beschränken, ob die angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Ebensowenig können einzelne Auslegungsfehler außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 42, 163 [169]; 43, 130 [136 f.]; 54, 129 [136]; 66, 116 [131]).
II.
Die Veranstaltung des "Anachronistischen Zuges" fällt in den Schutzbereich des Grundrechts der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), an dem die angegriffenen Entscheidungen im dargelegten Umfang zu messen sind.
1. Diese Freiheitsverbürgung enthält nach Wortlaut und Sinn zunächst eine objektive, das Verhältnis des Lebensbereichs "Kunst" zum Staat regelnde Grundsatznorm. Zugleich gewährleistet die Bestimmung jedermann, der in diesem Bereich tätig ist, ein individuelles Freiheitsrecht. Sie betrifft in gleicher Weise den "Werkbereich" des künstlerischen Schaffens als auch den "Wirkbereich" der Darbietung und Verbreitung eines Kunstwerks, in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird (BVerfGE 30, 173 [188 f.]). In das Grundgesetz ist die Gewährleistung unter dem Eindruck der leidvollen Erfahrungen aufgenommen worden, die Künstler während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft haben hinnehmen müssen. Dies ist auch für die Auslegung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG von Bedeutung: Weder darf die Kunstfreiheitsgarantie durch wertende Einengung des Kunstbegriffs noch durch erweiternde Auslegung oder Analogie aufgrund der Schrankenregelung anderer Verfassungsbestimmungen eingeschränkt werden (BVerfGE a.a.O. [191]).
2. Der Lebensbereich "Kunst" ist durch die vom Wesen der Kunst geprägten, ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen. Wie weit danach die Kunstfreiheitsgarantie der Verfassung reicht und was sie im einzelnen bedeutet, läßt sich nicht durch einen für alle Äußerungsformen künstlerischer Betätigung und für alle Kunstgattungen gleichermaßen gültigen allgemeinen Begriff umschreiben (vgl. BVerfGE a.a.O. [183 f.]).
a) Den bisherigen Versuchen der Kunsttheorie (einschließlich der Reflexionen ausübender Künstler über ihr Tun), sich über ihren Gegenstand klar zu werden, läßt sich keine zureichende Bestimmung entnehmen, so daß sich nicht an einen gefestigten Begriff der Kunst im außerrechtlichen Bereich anknüpfen läßt. Daß in der Kunsttheorie jeglicher Konsens über objektive Maßstäbe fehlt, hängt allerdings auch mit einem besonderen Merkmal des Kunstlebens zusammen: die "Avantgarde" zielt gerade darauf ab, die Grenzen der Kunst zu erweitern. Dies und ein weitverbreitetes Mißtrauen von Künstlern und Kunsttheoretikern gegen starre Formen und strenge Konventionen sind Eigenheiten des Lebensbereichs Kunst, welche zu respektieren sind und bereits darauf hindeuten, daß nur ein weiter Kunstbegriff zu angemessenen Lösungen führen kann.
b) Die Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren, entbindet indessen nicht von der verfassungsrechtlichen Pflicht, die Freiheit des Lebensbereichs Kunst zu schützen, also bei der konkreten Rechtsanwendung zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorliegen.
Soweit Literatur und Rechtsprechung für die praktische Handhabung von Gesetzen, welche "Kunst" als Tatbestandsmerkmal enthalten, Formeln und Abgrenzungskriterien entwickelt haben, ist dies für die Auslegung der Verfassungsgarantie nicht ausreichend, da die einfachrechtliche Auslegung an den verschiedenen Zwecken der gesetzlichen Regelungen orientiert ist.
Weitergehende Versuche einer verfassungsrechtlichen Begriffsbestimmung treffen, soweit ersichtlich, nur Teilaspekte; sie können jeweils nur für einzelne Sparten künstlerischer Betätigung Geltung beanspruchen (vgl. aus der umfangreichen Literatur z. B. Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, Diss. Heidelberg 1963; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, 1966; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967; von Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz [Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG] und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen [§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB], Diss. Köln 1969; Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, 1969; Vogt, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, Diss. Zürich 1975; jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Immerhin enthalten diese Bemühungen tragfähige Gesichtspunkte, die in ihrer Gesamtheit im konkreten Einzelfall eine Entscheidung ermöglichen, ob ein Sachverhalt in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fällt.
3. a) Das Bundesverfassungsgericht hat als wesentlich für die künstlerische Betätigung "die freie schöpferische Gestaltung" betont, "in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden". Alle künstlerische Tätigkeit sei ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen seien. Beim künstlerischen Schaffen wirkten Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es sei primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (BVerfGE 30, 173 [189]). Ähnliche Versuche materialer, wertbezogener Umschreibungen in der Literatur betonen ebenfalls die Merkmale des Schöpferischen, des Ausdruckes persönlichen Erlebnisses, der Formgebung sowie der kommunikativen Sinnvermittlung (vgl. Scholz in Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 5 Abs. 3, Rdnr. 24, 29; Scheuner, Die Bundesrepublik als Kulturstaat, in Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1977-1978, S. 113 [126]; Würtenberger, Vom strafrechtlichen Kunstbegriff, in Festschrift für Eduard Dreher, 1977, S. 79 [89]; Geiger, Zur Diskussion über die Freiheit der Kunst, in Festschrift für Gerhard Leibholz, 1966, S. 187 [191]).
Den so umschriebenen Anforderungen genügt das Erscheinungsbild des "Anachronistischen Zuges". Schöpferische Elemente sind nicht nur in dem Gedicht Brechts, sondern auch in der Art seiner bildhaften Umsetzung zu sehen. Das Gedicht und seine Darbietung können als hinreichend "geformt" angesehen werden. Allgemeine und persönliche historische Erfahrungen sollen -- bezogen auf die aktuelle politische Situation -- ausgedrückt und zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden.
b) Sieht man das Wesentliche eines Kunstwerkes darin, daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind, legt man also einen eher formalen Kunstbegriff zugrunde, der nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft (vgl. Müller, a.a.O., insbes. S. 41 f.; Knies, a.a.O., S. 219), so kann dem "Anachronistischen Zug" die Kunstwerkeigenschaft ebenfalls nicht abgesprochen werden. Das seiner Aufführung zugrunde liegende Gedicht ist ebenso eine der klassischen Formen künstlerischer Äußerung wie die Darbietung in Form des Theaters, die von Schauspielern (mit Masken und Requisiten) aufgrund einer konkreten Regie in Szene gesetzt wurde. Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß eine spezielle Form des "Straßentheaters" dargeboten wurde; fest installierten Bühnen gebührt kein Vorrang gegenüber Wanderbühnen, einer Theaterform mit langer Tradition.
c) Auch wenn man das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin sieht, daß es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt (vgl. von Noorden, a.a.O., S. 82 ff.), ist dieses Merkmal beim "Anachronistischen Zug" erfüllt. Schon die beschriebene, besondere Form des Straßentheaters führt dazu, daß Distanz zum Zuschauer hervorgerufen wird, er sich beim Betrachten klar darüber ist, daß ihm eben "Theater" vorgespielt wird. Das an sich schon vielfältig interpretationsfähige Gedicht wird durch seine Aktualisierung und die Anspielung auf zeitgenössische Personen und Ereignisse in seiner Zielrichtung zwar eindeutiger, bleibt in seiner Aussage aber nach wie vor vieldeutig, zumal diese Aussage nicht unmittelbar, sondern wiederum mittelbar aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist (beispielsweise plakative Texte, Puppen, verkleidete Personen, Personengruppen).
d) Fällt damit die Veranstaltung des "Anachronistischen Zuges" in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, kann daran auch die vordergründige und eindeutige politische Absicht der Veranstalter nichts ändern. Verbindliche Regeln und Wertungen für die künstlerische Tätigkeit lassen sich auch dort nicht aufstellen, wo sich der Künstler mit aktuellem Geschehen auseinandersetzt; der Bereich der "engagierten Kunst" ist von der Freiheitsgarantie nicht ausgenommen (BVerfGE 30, 173 [190 f.]).
III.
1. Die Kunst in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit ist durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet; weder die "Schrankentrias" des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG noch die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG gelten unmittelbar oder analog (BVerfGE 30, 173 [191 f.]). Hingegen kann auch die Kunstfreiheit Grenzen unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung finden, die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen. Dies gilt namentlich für das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht. Allerdings zieht die Kunstfreiheit ihrerseits dem Persönlichkeitsrecht Grenzen. Um diese im konkreten Fall zu bestimmen, genügt es mithin im gerichtlichen Verfahren nicht, ohne Berücksichtigung der Kunstfreiheit eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts -- hier in der Form einer Beleidigung -- festzustellen: Es bedarf der Klärung, ob diese Beeinträchtigung derart schwerwiegend ist, daß die Freiheit der Kunst zurückzutreten hat; eine geringfügige Beeinträchtigung oder die bloße Möglichkeit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung reichen hierzu angesichts der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit nicht aus. Läßt sich freilich eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts zweifelsfrei feststellen, so kann sie auch nicht durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt werden.
2. Die hieraus sich ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen hat das Amtsgericht verkannt:
a) Künstlerische Äußerungen sind interpretationsfähig und interpretationsbedürftig; ein unverzichtbares Element dieser Interpretation ist die Gesamtschau des Werks. Es verbietet sich daher, einzelne Teile eines Kunstwerks aus dessen Zusammenhang zu lösen und gesondert darauf zu untersuchen, ob sie als Straftat zu würdigen sind. Mithin ist es verfassungsrechtlich zu beanstanden, wenn das Amtsgericht darauf abstellt, die inkriminierten Vorgänge hätten außerhalb der eigentlichen Aufführung stattgefunden, und daraus den Schluß zieht, daß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht anzuwenden sei. Dabei wird schon die rein praktische Notwendigkeit verkannt, sichtbar Vorbereitungen zu treffen (Aufstellung des Zugs) oder Umgruppierungen vorzunehmen (Vorgang in Kassel). Hier ist zudem zu berücksichtigen, daß beim modernen Theater die sichtbare Vorbereitung durchaus zum künstlerischen Gesamtkonzept gehören kann.
Zwar kann die symbolhafte Darstellung durch Puppen und Transparente auch außerhalb der Aufführung einen Erklärungswert haben. Das wurde aber von den Veranstaltern gerade vermieden, indem der Zug bei Überlandfahrten verhängt wurde. An dieser Beurteilung ändert sich auch nichts dadurch, daß der Zug in Sonthofen nicht sofort seine Darstellung beginnen konnte. Das hatten weder der Beschwerdeführer noch die Veranstalter zu vertreten, sondern es beruhte auf ordnungsbehördlichen Anordnungen. Auch ist ihnen das Fotografieren zur "Beweissicherung" durch die Polizei nicht anzulasten. Aufnahmen durch Journalisten bewegen sich im Bereich der werbenden Selbstdarstellung und sind Probenfotos, wie sie am festinstallierten Theater üblich sind, vergleichbar.
Desgleichen ist es, wie sich aus Vorstehendem ergibt, verfassungsrechtlich verfehlt, bei der Feststellung einer Beleidigung nicht von der -- durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geforderten -- Gesamtbetrachtung, sondern nur von dem Plagenwagen auszugehen.
b) Weiterhin hat das Amtsgericht verkannt, daß sich bei einer so gebotenen Gesamtbetrachtung mehrere Interpretationsmöglichkeiten ergeben hätten.
Es bedarf hier keiner endgültigen Entscheidung, von welchem Maßstab auszugehen ist, wenn künstlerische Aussagen strafrechtlich gewürdigt werden, zumal dies generell und für alle Kunstformen kaum möglich ist. Ein in künstlerischen Erscheinungsformen völlig Unbewanderter kann sicher keine Maßstäbe setzen, wenn es um Verständnis von Kunst geht; andererseits kann aber auch nicht auf den umfassend künstlerisch Gebildeten abgehoben werden, jedenfalls dann nicht, wenn sich -- wie hier -- die Äußerung auf offener Straße an ein beliebig zusammengesetztes Publikum richtet. Hier genügt es, zu fragen, wie ein Passant, der bereit war, den gesamten Zug und die Aufführung des Gedichts mit zu berücksichtigen, die Darstellung des "Plagenwagens" auffassen konnte.
Auch dann wäre das Verständnis möglich, der Nebenkläger sitze mit den Nazigrößen im selben Wagen, sei ihnen gleichzusetzen und vertrete deren politische Ziele. Bei besonderer Berücksichtigung des Inhalts des Gedichts könnte ebenso der Eindruck entstehen, es solle zwar ein Kampf gegen diese Nazigrößen aufgeführt werden, der jedoch so scheinheilig und lügenhaft sei, wie die im Brecht'schen Gedicht dargestellte Distanzierung von der Nazivergangenheit.
Ein anderer Beobachter könnte zu dem Schluß gelangen, der Nebenkläger bekämpfe, wenn auch erfolglos, Verkörperungen des Nationalsozialismus. Ähnlich würde ein Zuschauer, der mittelbar oder unmittelbar die Absichten des Regiebuchs in den Vordergrund seiner Überlegungen stellen würde, einen solchen Kampf sehen, allerdings mit der zusätzlichen Überlegung, der Nebenkläger als einflußreicher, rechtsstehend dargestellter Politiker habe diese Abgrenzung besonders nötig, und die alten nationalsozialistischen Ideen würden sich wieder durchsetzen.
Es geht jedenfalls nicht an, von diesen Interpretationsmöglichkeiten, welche die Sachverhaltsschilderung des amtsgerichtlichen Urteils nahelegt (weitere Möglichkeiten erscheinen dabei keineswegs ausgeschlossen), sich mit Hilfe der Figur des "besonnenen Passanten" allein für die strafrechtlich relevante zu entscheiden und nur auf einen flüchtigen, naiven Beobachter abzustellen, der den "Kampf" mit den Puppen ignoriert. Auch darin liegt ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.
3. Auf diesen Fehlern beruhen die angegriffenen Entscheidungen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Gerichte bei Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen anders entschieden hätten. Die Entscheidungen waren daher aufzuheben; die Sache war an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das Gericht die oben zum Verhältnis von Kunstfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht dargelegten Grundsätze zu beachten haben.
Herzog Hesse Katzenstein Niemeyer Heußner Niedermaier Henschel