BVerfGE 50, 50 - Laatzen
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 27. November 1978 gemäß § 93a Abs. 3 BVerfGG
-- 2 BvR 165/75 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Stadt Laatzen, gesetzlich vertreten durch den Stadtdirektor, Marktplatz 4, Laatzen, gegen Art. I § 1 und 2 des Gesetzes über die kommunale Neugliederung im Raum Hannover vom 11. Februar 1974 - GVBl. S. 57 -, soweit darin die Eingliederung von Gebietsteilen der ehemaligen Stadt Laatzen und der ehemaligen Gemeinde Rethen (Leine) in die Landeshauptstadt Hannover angeordnet wird.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine hinreichene Aussicht auf Erfolg hat.
 
Gründe:
1. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet die Gemeinden nur institutionell, aber nicht individuell. Das Grundgesetz steht Eingriffen in die gemeindliche Gebietshoheit, auch soweit sie gegen den Willen der betroffenen Gemeinde erfolgen, nicht von vornherein entgegen. Auflösungen von Gemeinden, Gemeindezusammenschlüsse, Eingemeindungen und sonstige Gebietsänderungen beeinträchtigen den verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich des Selbstverwaltungsrechts grundsätzlich nicht (vgl. Maunz in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 28 Rdnr 45; Niedersächsischer Staatsgerichtshof, DVBl. 1974, 520; Granderath, DÖV 1973, 332 [334]).
Indessen gehört zum verfassungsrechtlich garantierten Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung, so wie diese sich geschichtlich entwickelt hat (vgl. BVerfGE 11, 266 [274]; 26, 228 [238]; 38, 258 [278 f.], daß Bestandsänderungen und Gebietsänderungen von Gemeinden nur aus Gründen des öffentlichen Wohls und nach vorheriger Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften zulässig sind [vgl. auch §§ 17, 18 der Niedersächsischen Gemeindeordnung]. Diese Begrenzung der Befugnisse des staatlichen Gesetzgebers gegenüber den Gemeinden folgt auch aus dem Rechtsstaatsprinzip. Die Bindung an das Gemeinwohl ist im übrigen selbstverständliche Voraussetzung jeder verfassungsrechtlich gebundenen Gesetzgebung.
Macht eine Gemeinde mit der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG (§ 91 BVerfGG) geltend, daß ein in ihre Gebietshoheit eingreifendes Gesetz das Recht auf Selbstverwaltung gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verletze, so kommt es darauf an, einerseits dem Gesetzgeber die ihm zukommende politische Entscheidungsbefugnis und Gestaltungsfreiheit ungeschmälert zu belassen und andererseits den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie zu wahren, der sich bei Eingriffen in Bestand und Gebiet von Gemeinden vornehmlich in der Bindung des Gesetzgebers an Gründe des öffentlichen Wohls niederschlägt. Das Verfassungsgericht hat insbesondere nachzuprüfen, ob der Gesetzgeber den für seine Maßnahmen erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und dem Gesetz zugrunde gelegt hat, ob er alle Gemeinwohlgründe sowie die Vorteile und Nachteile der gesetzlichen Regelung umfassend und in nachvollziehbarer Weise abgewogen hat und ob der gesetzgeberische Eingriff geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist und die Gebote der Sachgerechtigkeit und Systemgerechtigkeit beachtet. Soweit indessen über die Zielvorstellungen, Sachabwägungen, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers zu befinden ist, darf sich das Verfassungsgericht nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen, sondern hat seine Nachprüfung darauf zu beschränken, ob die Einschätzungen und Entscheidungen des Gesetzgebers offensichtlich fehlerhaft oder eindeutig widerlegbar sind oder der verfassungsrechtlichen Wertordnung widersprechen. Für die Kontrolle von Neugliederungsgesetzen durch das Bundesverfassungsgericht gelten die gleichen Grundsätze wie sie von den Landesverfassungsgerichten in ständiger Rechtsprechung entwickelt worden sind (vgl. Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, DVBl. 1969, 799 ff.; Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen, OVGE 26, 286 ff.; 28, 291 ff.; Staatsgerichtshof Baden-Württemberg, NJW 1975, 1205 ff.; Niedersächsischer Staatsgerichtshof, DVBl. 1974, 520).
2. Die Beschwerdeführerin, die sich dagegen wendet, daß bestimmte früher zu Laatzen und Rethen gehörende Gebiete in die Landeshauptstadt Hannover eingegliedert worden sind, ist gemäß Art I § 10 des Gesetzes über die kommunale Neugliederung im Raum Hannover zugleich mit dieser Gebietsumgliederung aus dem Zusammenschluß der (ehemaligen) Stadt Laatzen mit der Gemeinde Rethen und drei weiteren Gemeinden entstanden. Sie kann mit der Verfassungsbeschwerde nur eine Verletzung ihres eigenen Rechts auf Selbstverwaltung geltend machen.
Der Gemeindezusammenschluß selbst wird mit der Verfassungsbeschwerde nicht angegriffen. Die Beschwerdeführerin könnte mithin in dem verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich ihres Selbstverwaltungsrechts nur dadurch verletzt sein, daß bei der Gemeindezusammenlegung und Neubildung einer Stadt Laatzen nicht auch das zum ehemaligen Laatzen- gehörende Gelände der Hannover Messe und der zu den früheren Gemeinden Laatzen und Rethen gehörende Anteil am Kronsberg in ihr neues Gemeindegebiet einbezogen worden ist. Eine Beeinträchtigung der Beschwerdeführerin in ihrem Selbstverwaltungsrecht kommt bei dieser Sachlage nur in Betracht, wenn greifbare Anhaltspunkte dafür erkennbar werden, daß die neugebildete Stadt ohne die genannten Gebiete die ihr obliegenden Selbstverwaltungsaufgaben nicht effektiv erfüllen kann und deshalb auf die Dauer nicht lebensfähig ist. Nur im Rahmen dieser Prüfung ist erheblich, ob die Ausgliederung von Gebietsteilen aus der Gesamtgebietsmasse mehrerer zur Zusammenlegung anstehender Gemeinden in eine dritte Gemeinde durch Gründe des öffentlichen Wohls gerechtfertigt ist.
3. Die Entscheidung des Gesetzgebers, der Verwaltungsreform und Gebietsreform im Raum Hannover ein bestimmtes dreistufiges Modell zugrundezulegen und auf Eingemeindungen in die Kernstadt Hannover möglichst zu verzichten, fällt in den verfassungsgerichtlich nicht zu überprüfenden Bereich gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit. Die dem Neugliederungsgesetz zugrundeliegenden Wertungen, Abwägungen und Prognosen sind weder offensichtlich fehlerhaft noch eindeutig widerlegbar noch widersprechen sie der verfassungsrechtlichen Wertordnung.
Soweit gemäß Art I § 1 des Neugliederungsgesetzes ausnahmsweise doch Eingemeindungen und Gebietseingliederungen in die Landeshauptstadt Hannover angeordnet werden, stehen der Grundsatz der Systemgerechtigkeit und das Willkürverbot solchen Abweichungen von der Grundkonzeption nicht von vornherein entgegen. Erforderlich ist nur, daß die Ausnahmen ihrerseits auf sachgerechten Erwägungen beruhen. Ist dies - wie hier - im Ergebnis der Fall, so ergeben sich verfassungsrechtliche Bedenken auch nicht daraus, daß die Ausnahmen das Ergebnis politischer Kompromisse zum Zwecke der parlamentarischen Mehrheitsbildung gewesen sind (vgl. auch Staatsgerichtshof Baden-Württemberg, NJW 1975, 1205 [1213]; Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen, OVGE 28, 307 [308 f.]).
Der Eingliederung des Kronsberges nach Hannover liegen keine ersichtlich unrichtigen Sachverhaltsannahmen zugrunde. Zwar steht eine Besiedlung dieses Gebietes zur Zeit nicht unmittelbar bevor. Der Niedersächsische Ministerpräsident hat aber unwidersprochen vorgetragen, daß die Absicht, dort nach einheitlichem Plan eine größere Wohnsiedlung zu errichten, nicht endgültig aufgegeben ist und jederzeit wieder aufgenommen werden kann. Der Gesetzgeber ist mithin nicht von falschen tatsächlichen Voraussetzungen ausgegangen. Die Erwägung, daß ein einheitliches Siedlungsgebiet jedenfalls langfristig einem einzigen Planungsträger zugewiesen werden sollte und daß hierfür nur Hannover in Betracht komme, zu dem der größere Teil des Kronsberges ohnehin gehört, ist nicht offensichtlich fehlerhaft. Ob eine Zuweisung des südlichen Kronsberges an die neugebildete Stadt Laatzen ebenso zweckmäßig gewesen wäre, ist vom Verfassungsgericht nicht zu prüfen.
Auch hinsichtlich der Eingliederung des Messegeländes nach Hannover ist der Gesetzgeber nicht von unrichtigen Sachverhaltsannahmen ausgegangen. Trotz der Zuständigkeit des Verbandes Großraum Hannover für die Regionalplanung und den öffentlichen Nahverkehr gemäß dem Gesetz über den Verband Großraum Hannover idF des Art II des Gesetzes über die kommunale Neugliederung im Raum Hannover und der Zuständigkeit des Bundes und des Landes für wesentliche Bereiche der Straßenplanung bleibt noch Raum für eine in die Zuständigkeit der Stadt Hannover als Gemeinde fallende Planung in bezug auf das Messegelände, in Sonderheit durch die Aufstellung von Bauleitplänen (vgl. §§ 2, 10 BBauG). Durch die Eingliederung des Messegeländes kann also der planerische Einfluß der Stadt Hannover auf das Messegelände verstärkt werden. Daß eine solche Verstärkung des planerischen Einflusses Hannover auf die Messe notwendig sei und zu einer Verbesserung der bestehenden Verhältnisse führen könne, ist Gegenstand von Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers. Offensichtlich fehlerhaft und eindeutig widerlegbar sind die vom Gesetzgeber hierzu angestellten Erwägungen jedenfalls nicht. Auch hier kommt es nicht darauf an, ob die weitere Entwicklung der Messe ebensogut auch von der neuen Stadt Laatzen aus hätte geplant werden können.
Aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin haben sich keine greifbaren Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die vom Gesetzgeber zur Begründung der Eingliederungen angeführten, am Gemeinwohl ausgerichteten Gründe nur vorgeschoben sein könnten. Bei beiden Eingliederungsmaßnahmen hat der Gesetzgeber ersichtlich auch das Für und Wider hinreichend abgewogen.
Die angegriffenen Maßnahmen sind auch geeignet, dem Reformziel des Neugliederungsgesetzes zu dienen. Die einheitliche Zuordnung eines größeren künftigen Siedlungsgebietes und des Geländes einer überregionalen Einrichtung wie der Messe in den Kompetenzbereich der Stadt Hannover als des Oberzentrums für den Raum Hannover läßt gegenüber dem bisherigen Zustand eine Verbesserung der Verwaltung, Planung und Entwicklung erwarten. Die insoweit angestellte Prognose des Gesetzgebers erscheint jedenfalls nicht offensichtlich falsch.
Um die vom Gesetzgeber für erforderlich erachteten Verbesserungen in den Planungszuständigkeiten zu erreichen, ist die Eingliederung der beiden Gebiete nach Hannover erforderlich. Es ist nicht ersichtlich, durch welche für die Beschwerdeführerin weniger einschneidende Maßnahme das genannte Ziel ebensogut hätte erreicht werden können.
Eine Gegenüberstellung der mit der Eingliederung des Kronsberges und des Messegeländes nach Hannover verbundenen Vorteile mit den für die Beschwerdeführerin dadurch bewirkten Nachteilen ergibt keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, daß die gesetzgeberischen Maßnahmen als unverhältnismäßig oder gemeinwohlschädlich bezeichnet werden müßten. Auf der Schadensseite kommt hier eine durch bestimmten Gebietszuschnitt bewirkte Beeinträchtigung der zukünftigen kommunalen Verwaltungskraft und Leistungskraft der Beschwerdeführerin in Betracht. Die Beschwerdeführerin fordert insoweit Schutz ihres Vertrauens auf die Erhaltung eines ungeschmälerten Gebietsbestandes auch im Rahmen der Zusammenlegung mit anderen Gemeinden, weil sie ihre Entwicklung gerade darauf ausgerichtet habe, daß die nach Hannover eingegliederten Gebiete ihrer Gebietshoheit auch künftig unterstellt blieben. Ein so weitgehender Vertrauensschutz ist indessen nicht Inhalt des durch Art. 28 Abs. 2 GG garantierten Selbstverwaltungsrechts. Sprechen vernünftige, nicht offensichtlich fehlerhafte Erwägungen des öffentlichen Wohls dafür, Teile des Gebietes einer Gemeinde einer anderen Gemeinde zuzuordnen, weil dadurch eine nicht nur geringfügige Verbesserung in der Erfüllung öffentlicher Aufgaben erreicht werden kann, so muß die betroffene Gemeinde dies grundsätzlich hinnehmen, auch wenn sie deshalb bestimmte in Gang befindliche Entwicklungsmaßnahmen abbrechen muß und zu größeren Umstellungen gezwungen wird. Dies gilt erst recht, wenn gleichzeitig mit der Gebietsausgliederung durch Zusammenschluß der betroffenen Gemeinde mit anderen Gemeinden eine neue Gemeinde entsteht und deshalb ohnehin ein kommunaler Neuanfang auf einem veränderten und vergrößerten Gebiet erforderlich wird. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit findet hier ihre aus der Garantie des Selbstverwaltungsrecht in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abzuleitende Grenze nicht schon da, wo besondere Vorteile für die Zukunft aufgehoben werden, sondern erst dort, wo die neu gebildete Gemeinde infolge der Abtrennung bestimmter Gebiete trotz gleichzeitiger Gebietsvergrößerung an anderer Stelle in Zukunft nicht mehr in der Lage ist, als Selbstverwaltungskörperschaft zu bestehen und ihre Verwaltungsaufgaben, Daseinsvorsorgeaufgaben und Entwicklungsaufgaben angemessen zu erfüllen. Die Beschwerdeführerin hat zwar wiederholt behauptet, daß ein solcher Zustand bei ihr eintreten werde bzw schon eingetreten sei. Ihr Vorbringen ist insoweit aber nicht hinreichend substantiiert. Es fehlt eine Darlegung, welche konkreten Aufgaben oder Entwicklungsprojekte auf dem verbliebenen bzw neu hinzugewonnenen Gemeindegebiet nicht mehr wahrgenommen werden können und inwiefern die Situation der Beschwerdeführerin und ihrer Bürger wegen der Gebietsausgliederung schlechter als die der anderen neu gegliederten Gemeinden im Raum Hannover geworden ist. Die seit Inkrafttreten des Gesetzes eingetretene Entwicklung und insbesondere die vom Niedersächsischen Ministerpräsidenten unwidersprochen vorgetragenen Angaben über die Finanzkraft und das Steueraufkommen der Beschwerdeführerin sprechen sogar deutlich dagegen, daß die Beschwerdeführerin ohne die nach Hannover eingegliederten Gebiete nicht lebensfähig und als Gebietskörperschaft funktionsuntüchtig sein könnte.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Wand, Dr. Rottmann, Träger