BVerfGE 16, 1 - Nichtzulassungsbeschwerde
Der Rechtsweg ist nicht erschöpft, wenn eine Nichtzulassungsbeschwerde statthaft und nicht offenbar aussichtslos ist.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 26. März 1963 durch den gemäß § 91 a Abs. 1 BVerfGG gebildeten Ausschuß
-- 1 BvR 451/62 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau Gertrud Z ..., Bremen,..., gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 19. Januar 1962 -- I A 438/61 -- und das Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 3. Juli 1962 -- I A 438/61, a BA 15/62.
 
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde vom 14. August 1962 wird gemäß § 91 a Absatz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht verworfen.
 
Gründe:
I.
Nach § 3 Abs. 2 des Gesetzes über die Arbeitnehmerkammern im Lande Bremen vom 3. Juli 1956 (Gesetzblatt der Freien Hansestadt Bremen S. 79) gehören alle im Lande Bremen tätigen Angestellten einer Angestelltenkammer an, die Körperschaft des öffentlichen Rechts ist. Die Beschwerdeführerin, die diese Zwangsmitgliedschaft für verfassungswidrig hält, erklärte ihren Austritt aus der Kammer. Hierwegen kam es zu einem Verwaltungsstreitverfahren, das mit der Feststellung endete, daß die Beschwerdeführerin weiterhin Mitglied der Angestelltenkammer sei (Urteile des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 19. Januar 1962 -- I A 438/61 -- und des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 3. Juli 1962 -- a BA 15/62). Das Oberverwaltungsgericht hatte die Revision nicht zugelassen. Die Beschwerdeführerin hat es unterlassen, hierwegen Beschwerde einzulegen.
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Klägerin des Verwaltungsstreitverfahrens gegen die erwähnten Urteile. Sie rügt Verletzungen der Art. 1 Abs. 3, 9 Abs. 3 und 19 Abs. 4 GG.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig.
1. Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kann die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmung dahin interpretiert, daß der Rechtsweg "so lange nicht erschöpft ist, als der Beschwerdeführer die Möglichkeit hat, im Verfahren vor den Gerichten des zuständigen Gerichtszweiges die Beseitigung des Hoheitsaktes zu erreichen, dessen Grundrechtswidrigkeit er geltend macht" (BVerfGE 8, 222). Das Gebot der vorgängigen Erschöpfung des Rechtswegs zwingt demnach den Rechtsuchenden -- soll seine Verfassungsbeschwerde nicht schon an diesem Zulässigkeitserfordernis scheitern --, von den bezeichneten Möglichkeiten des ordentlichen Verfahrens auch Gebrauch zu machen, gleichviel ob eine weitere Instanz kraft Gesetzes gegeben ist oder ob die Zulässigkeit des Rechtsmittels vom Beschwerdeführer in einem besonderen Verfahren mit ungewissem Ausgang erst erstritten werden muß. Auch die Erhebung der Beschwerde wegen Nichtzulassung eines Rechtsmittels ist eine Möglichkeit, im Verfahren vor dem Gericht des zuständigen Gerichtszweiges die Beseitigung der behaupteten Grundrechtsverletzung zu erreichen.
2. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings das Gebot der vorgängigen Erschöpfung des Rechtswegs unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit eingeschränkt, so in ständiger Rechtsprechung bei Verweigerung des Armenrechts und für den Fall einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerfGE 9, 7 f.; 10, 308 f.). Keine Unzumutbarkeit besteht dagegen, wenn die Zulässigkeit eines Rechtsmittels unterschiedlich beurteilt werden kann. Zwar läuft der Beschwerdeführer in diesem Falle Gefahr, daß das Rechtsmittel als unzulässig verworfen wird. Nachträglich erschiene dann der Rechtsweg als mit der Entscheidung der unteren Instanz erschöpft und in aller Regel die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde als verstrichen, ohne daß eine Wiedereinsetzung gegen die Versäumung dieser Frist möglich wäre (BVerfGE 4, 309). Jene Ungewißheit darf jedoch nicht zu Lasten des Beschwerdeführers gehen. Die Zurückweisung des Rechtsmittels als unzulässig setzt deshalb in solchen Fällen die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG neu in Lauf, sofern die Unzulässigkeit des Rechtsmittels nicht offensichtlich gewesen ist (BVerfGE 5, 17).
Wenn die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision nach § 132 Abs. 3 VwGO in Betracht kommt, ist dem Beschwerdeführer zuzumuten, daß er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, falls die Aussicht, dadurch die Eröffnung einer weiteren Instanz zu erreichen, nicht offenbar unbegründet ist. Im vorliegenden Falle kam eine grundsätzliche Bedeutung der Sache als Grund der Nichtzulassungsbeschwerde in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar zu dem verfassungsrechtlichen Problem der Zulässigkeit öffentlichrechtlicher Zwangsverbände bereits wiederholt Ausführungen gemacht (BVerfGE 10, 89; 10, 354; Beschluß vom 19. Dezember 1962 -- 1 BvR 541/571). Doch sind damit und mit der sonstigen Judikatur noch nicht alle Fragen geklärt; deshalb fehlte der Rechtssache der Beschwerdeführerin nicht offensichtlich die grundsätzliche Bedeutung. Daß die Beschwerdeführerin selbst dem von ihr eingeleiteten Verwaltungsstreitverfahren grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat, zeigt ihr Vortrag im Verfassungsbeschwerdeverfahren.