BVerfGE 13, 230 - Ladenschlußgesetz I
1. Zur Frage des Betroffenseins durch ein Gesetz.
2. Zur Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG.
 
Urteil
des Ersten Senats vom 29. November 1961 auf die mündliche
Verhandlung vom 13. Juni 1961
- 1 BvR 758/57 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. der Bürovorsteherin Hildegard M..., 2. der Angestellten Margot W..., gegen § 3 des Gesetzes über den Ladenschluß vom 28. November 1956 (BGBl. I S. 875) i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Ladenschluß vom 14. November 1960 (BGBl. I S. 845).
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
 
Gründe:
1. Die Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen § 3 des Gesetzes über den Ladenschluß (LSchG) vom 28. November 1956 (BGBl. I S. 875) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Ladenschluß vom 17. Juli 1957 (BGBl. I S. 722) und des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Ladenschluß vom 14. November 1960 (BGBl. I S. 845). § 3 l. SchG lautet:
    "Allgemeine Ladenschlußzeiten
    Verkaufsstellen müssen, vorbehaltlich der Vorschriften der §§ 4 bis 16, zu folgenden Zeiten für den geschäftlichen Verkehr mit den Kunden geschlossen sein:
    1. an Sonn- und Feiertagen,
    2. montags bis freitags bis sieben Uhr und ab achtzehn Uhr dreißig Minuten,
    3. sonnabends bis sieben Uhr und ab vierzehn Uhr, am ersten Sonnabend im Monat oder, wenn dieser Tag auf einen Feiertag fällt, am zweiten Sonnabend im Monat sowie an den vier aufeinanderfolgenden Sonnabenden vor dem 24. Dezember ab achtzehn Uhr,
    4. am 24. Dezember, wenn dieser Tag auf einen Werktag fällt, ab vierzehn Uhr.
    Die beim Ladenschluß anwesenden Kunden dürfen noch bedient werden."
Die Beschwerdeführerinnen rügen in erster Linie eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG.
Frau M. ist Bürovorsteherin bei einem Rechtsanwalt und behauptet, daß sie angesichts ihrer leitenden Position ihre vereinbarte Arbeitszeit von 43 Wochenstunden ständig überschreiten müsse. Frau W. ist in einem Bundesministerium beschäftigt und hat bei einer Arbeitszeit von 45 Wochenstunden bisher zwei freie Samstage im Monat. Beide behaupten, die Regelung des Ladenschlußgesetzes lasse ihnen nicht genügend Zeit für ihre Einkäufe. Es fehle insbesondere die Möglichkeit, Waren in Ruhe zu vergleichen und auszuwählen. Das Ladenschlußgesetz hindere sie, außerhalb der gesetzlichen Ladenöffnungszeiten ihre Handlungsfreiheit durch Einkäufe zu betätigen, und verletze dadurch ihr Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Dieses Grundrecht gelte zwar nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung; zu dieser gehöre jedoch § 3 LSchG nicht. Der Ladenschluß falle als Rechtsmaterie unter die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Nr. 11 (Recht der Wirtschaft) und Nr. 12 GG (Arbeitsschutz). Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung dürfe der Bund nur dann tätig werden, wenn ein Bedürfnis zur bundesgesetzlichen Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG vorliege. Hieran fehle es beim Ladenschlußgesetz. Eine gesetzliche Regelung des Ladenschlusses sei überhaupt überflüssig, die Beschränkung ihrer Handlungsfreiheit sei unzumutbar und verletze den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das Ladenschlußgesetz verletze ferner den Gleichheitssatz, indem es den gesetzlichen Ladenschluß für den Einzelhandel anordne, während eine entsprechende gesetzliche Regelung für gleichgelagerte Fälle - etwa im Gaststätten- und Verkehrsgewerbe - nicht getroffen sei, obgleich die Angestellten dieser Wirtschaftszweige den gleichen Anspruch auf ein freies Wochenende hätten wie die Angestellten des Einzelhandels. Schließlich widerspreche das Ladenschlußgesetz der Grundentscheidung der Verfassung für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung sowie dem Sozialstaatsgebot.
Die Bundesregierung äußert Zweifel an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden und hält sie im übrigen für nicht begründet. Insbesondere habe dem Bund keineswegs die Kompetenz zum Erlaß des Ladenschlußgesetzes gefehlt. Die Entscheidung, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung bestehe, liege im Ermessen des Bundesgesetzgebers, dessen Entscheidung nur daraufhin überprüft werden könne, ob er die Grenzen seines Ermessens verkannt oder es mißbraucht habe. Beides sei nicht der Fall.
Auch den Landesregierungen ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Der Hessische Ministerpräsident hat ein Gutachten von Prof. Dr. Lerche über die Nachprüfbarkeit der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG im verfassungsgerichtlichen Verfahren vorgelegt und sich dessen Ergebnis angeschlossen.
Der Richter Dr. Heiland ist vor der Beschlußfassung verstorben.
Formell sind zwar Adressaten des Gesetzesbefehls nicht die Beschwerdeführerinnen selbst, sondern die Inhaber der Verkaufsstellen, denen die Schließung ihrer Läden zu bestimmten Zeiten auferlegt wird.
Die Einwirkung dieser Maßnahme auf die Handlungsfreiheit der Beschwerdeführerinnen geht aber über eine bloße Reflexwirkung hinaus. Die an den Ladeninhaber gerichtete Norm hindert zwangsläufig die Kundschaft am Einkauf, wirkt also wie ein unmittelbar an diese gerichteter Gesetzesbefehl.
a) Der Bund hat durch Erlaß des Ladenschlußgesetzes nicht gegen Art. 72 Abs. 2 GG verstoßen.
Die durch das Ladenschlußgesetz geregelte Materie gehört zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes; als Gewerberecht fällt sie unter Nr. 11, als Recht des Arbeitsschutzes unter Nr. 12 des Art. 74 GG. In diesem Bereich ist gemäß Art. 72 Abs. 2 GG der Bund zur Gesetzgebung nur befugt, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht. Die Entscheidung darüber, ob ein solches Bedürfnis vorliegt, weil eine der in Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 GG näher bestimmten Voraussetzungen gegeben ist, hat zunächst derjenige zu treffen, dem es obliegt zu handeln, also der Bundesgesetzgeber. Was insbesondere Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 GG anlangt, so ist der Bundesgesetzgeber nicht darauf beschränkt, einer bereits bestehenden Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse mit bundeseinheitlicher Gesetzgebung lediglich zu folgen. Es kann ihm nicht versagt sein, auf das ihm erwünscht erscheinende Maß an Einheitlichkeit im Sozialleben hinzustreben. Hierin liegt eine politische Vorentscheidung, die das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich zu respektieren hat, weil es die Aufgabe jedes Gesetzgebers ist, Lebensverhältnisse - insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaft - gestaltend zu ordnen. Der Bundesgesetzgeber hat sich dann aber gemäß Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG zu fragen, ob die von ihm angestrebte Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse sein eigenes Tätigwerden erfordert; nur dann darf er die Bedürfnisfrage bejahen. Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit und Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse sind zwar Rechtsbegriffe. Sie sind jedoch so unbestimmt, daß ihre Konkretisierung weitgehend darüber entscheidet, ob zu ihrer Erreichung ein Bundesgesetz erforderlich ist. Das Bundesverfassungsgericht ist deshalb auf die Prüfung beschränkt, ob der Bundesgesetzgeber die in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG verwendeten Begriffe im Prinzip zutreffend ausgelegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten hat.
Die Bundesregierung hat in der mündlichen Verhandlung ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung des Ladenschlusses vor allem mit der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, den die Landesgrenzen überschreitenden einheitlichen Wirtschaftsräumen und dem Zusammenhang des Ladenschlusses mit dem bundesrechtlich geregelten Schutz der Arbeitszeit (Arbeitszeitordnung und §§ 105 a ff. GewO) begründet. Sie hat weiter hervorgehoben, daß die Arbeitsminister der Länder eine bundesgesetzliche Regelung angeregt haben, woraus sich ergebe, daß den Ländern selbst eine im Sinne des Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 GG "wirksame" Regelung des Ladenschlusses nicht möglich war. Bei dieser Sachlage läßt sich nicht feststellen, daß der Bundesgesetzgeber seinen Ermessensbereich überschritten hat.
b) Die Beschwerdeführerinnen wenden ferner ein, daß die ins einzelne gehende Regelung des Ladenschlusses nicht nur das notwendige Maß der Beschränkung des Kunden weit überschreite, sondern überhaupt überflüssig sei, zumal andere Staaten sich mit wenigen Bestimmungen allgemeiner Art begnügten, soweit sie überhaupt eine gesetzliche Regelung getroffen hätten.
Der letzte Gesichtspunkt versagt schon deshalb, weil nicht nur schematisch die Ladenöffnungszeiten nebeneinander dargestellt, sondern auch die in den einzelnen Staaten sehr verschiedenen Einkaufsgewohnheiten der Bevölkerung, wie überhaupt die allgemeinen Lebensverhältnisse in den Vergleich einbezogen werden müßten.
Der Einwand, die Regelung durch Gesetz sei überflüssig, enthält den Vorwurf, daß der Gesetzgeber seine Befugnisse mißbraucht habe. Einen Mißbrauch könnte das Bundesverfassungsgericht nur dann feststellen, wenn sich für eine gesetzliche Regelung kein sachlicher Grund finden ließe. Dies ist aber nicht der Fall. Ladenschlußbestimmungen für den Werktag waren schon in der Gewerbeordnung seit 1900, der Demobilmachungsverordnung vom 18. März 1919 und in den Arbeitszeitordnungen vom 26. Juli 1934 (§§ 24, 25) und 30. April 1938 (§§ 22, 23) enthalten. Sie galten bis zum Erlaß des Ladenschlußgesetzes und beweisen, daß seit Jahrzehnten eine gesetzliche Ordnung der Ladenschlußzeiten für notwendig gehalten wurde. Das Ladenschlußgesetz soll die Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen für die Ladenangestellten sicherstellen, zumindest ihre Kontrolle wirksamer machen; darüber hinaus will es die zulässige Arbeitszeit auf die Tageszeiten der Werktage verteilen und - soweit es die Verkaufsstellen ohne Angestellte einbezieht - gleiche Chancen im Wettbewerb herbeiführen. Es mag sein, daß auch ohne gesetzliche Vorschriften über den werktäglichen Ladenschluß die Beachtung des Arbeitszeitschutzes der Angestellten durchzusetzen gewesen wäre. Es ist aber nicht zu verkennen, daß angesichts der zahlreichen einander widerstreitenden Interessen eine gesetzliche Regelung zum Ausgleich und zur sozialen Befriedung beizutragen vermag. Dies genügt, um den Vorwurf eines Mißbrauchs der Gesetzgebungsgewalt zu entkräften.
c) Das Gesetz beschränkt die Handlungsfreiheit der Beschwerdeführerinnen auch nicht in unzumutbarer oder übermäßig belastender Weise. Es ist zuzugeben, daß die Beschwerdeführerinnen, die neben ihrer Berufstätigkeit einen Haushalt zu führen haben, durch das Gesetz erheblich stärker betroffen sind als etwa Hausfrauen, die ihre Arbeit selbst einteilen können, oder Personen, die keinen Haushalt führen; denn die 64 1/2 Stunden der Woche, während deren nach dem Ladenschlußgesetz Verkaufsstellen offen sein dürfen, fallen weitgehend mit der Arbeitszeit der Beschwerdeführerinnen zusammen. Doch hat der Gesetzgeber auf die Lage der erwerbstätigen Frauen bei der Regelung der Ladenöffnungszeiten ausreichend Rücksicht genommen. Ein Vergleich mit § 22 der Arbeitszeitordnung vom 30. April 1938, der durch das Ladenschlußgesetz abgelöst wurde, zeigt, daß dieses im ganzen keine erhebliche weitere Beschränkung gebracht hat. Zwar sind die Ladenöffnungszeiten insgesamt um durchschnittlich 7 1/2 Stunden in der Woche verkürzt worden; dem steht aber eine weitgehende Verkürzung auch der Arbeitszeiten seit 1938 gegenüber. Ihre Belastung sehen die Beschwerdeführerinnen offenbar auch nicht in der Verkürzung der Ladenöffnungszeiten an sich, sondern darin, daß an drei (eventuell vier) Samstagen im Monat der Einkauf am Nachmittag unterbunden wird. Die Erschwerungen, die dadurch entstehen, können jedoch hingenommen werden, da im ganzen gesehen auch diese Regelung den berufstätigen Frauen noch ausreichend Zeit zum Einkauf läßt: Für den täglichen Bedarf reicht die Zeit zwischen Beendigung der Arbeitszeit und Ladenschluß an den ersten fünf Tagen der Woche und am Samstagvormittag, zum Einkauf von anderen Gegenständen kann, wenn sonst keine Zeit zur Verfügung steht, der erste Samstagnachmittag im Monat benutzt werden. Es kommt hinzu, daß bereits viele Betriebe und Behörden dazu übergegangen sind, zwei Samstage im Monat (wie bei der Beschwerdeführerin zu 2) oder den Samstag schlechthin arbeitsfrei zu halten. Eine gewisse Anpassung der Arbeitszeit an die Ladenöffnungszeiten ist auch bei den Angestellten eines Anwaltsbüros durchführbar. Im übrigen müssen gewisse Härten für einzelne in Kauf genommen werden, da ein Gesetz, das seiner Natur nach typisieren muß, nicht alle Einzelfälle berücksichtigen kann und fast immer mit anderen Interessen in Konflikt gerät; es genügt, wenn es eine für möglichst viele Tatbestände angemessene Regelung schafft.
d) Der Gesetzgeber war an seiner Regelung auch nicht dadurch gehindert, daß für andere Gewerbezweige, wie das Verkehrsgewerbe und das Gaststättengewerbe, eine dem Ladenschlußgesetz entsprechende Regelung fehlt. Diese Gewerbezweige unterscheiden sich, wie nicht näher dargelegt zu werden braucht, in so erheblichem Maße von dem Einzelhandel, daß der Gesetzgeber durch Art. 3 Abs. 1 GG nicht verpflichtet sein kann, entweder für sie eine dem Ladenschlußgesetz entsprechende Regelung zu treffen oder eine Regelung des Ladenschlusses zu unterlassen.