BGHSt 41, 101 - Mauerschützen III
Zur Beurteilung vorsätzlicher Tötungshandlungen von Grenzsoldaten der DDR an der innerdeutschen Grenze (im Anschluß an die Entscheidungen BGHSt 39, 1; 39, 168; 39, 199; 39, 353; BGHSt 40, 48; 40, 113; 40, 218; 40, 241; 41, 10; BGH NStZ 1993, 488; siehe auch Senatsurteil vom 20. März 1995 - 5 StR 378/94).
GG Art. 103 Abs. 2
5. Strafsenat
 
Urteil
vom 20. März 1995 g.S.
- 5 StR 111/94 -
Landgericht Berlin
 
Aus den Gründen:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Die Revision des Angeklagten ist nicht begründet.
 
A.
Die Verurteilung bezieht sich auf den Tod des siebzehn Jahre alten H., der am Nachmittag des 5. Juni 1962 in der Spree erschossen worden ist, als er versuchte, den Westteil von Berlin schwimmend zu erreichen.
Der Angeklagte, der damals einundzwanzig Jahre alt war, gehörte als Gefreiter einer Grenzbrigade der DDR an, die seinerzeit dem Innenministerium unterstand. Er war zusammen mit seinem Postenführer an einem Flußabschnitt eingesetzt, der dem Bezirk Mitte von Berlin (sowjetischer Sektor) zugerechnet wurde, während etwas weiter flußabwärts das linke Ufer zum Bezirk Tiergarten (britischer Sektor) gehörte. Der täglich bei Dienstbeginn mitgeteilte "Kampfauftrag" besagte, daß Grenzverletzer, die nicht auf Anruf und Warnschuß reagierten, zu "vernichten" seien, die Flucht in den Westen also notfalls durch gezielte tödliche Schüsse verhindert werden müsse. Als die beiden Posten den flußabwärts schwimmenden H. entdeckt hatten, wies der Postenführer den Angeklagten an, auf den Schwimmer zu schießen, wenn dieser nicht auf Warnschüsse des Postenführers reagiere; die Flucht müsse auf jeden Fall verhindert, der Flüchtling notfalls erschossen werden. H. reagierte nicht auf den Anruf und Warnschuß des Postenführers. Sodann gab der Postenführer einen ersten gezielten Schuß auf den Schwimmer ab. Der Angeklagte schoß sodann aus einer Entfernung von 25 m zweimal mit seiner Kalaschnikow-Maschinenpistole. H. wurde von den Schüssen des Angeklagten nicht getroffen. Während der Angeklagte schoß, gab der Postenführer einen weiteren Zielschuß ab. Kurz darauf schoß der Postenführer zum dritten Mal gezielt. Dieser Schuß traf den Kopf des Schwimmers tödlich.
In einem Bericht des Stabschefs der Grenzabteilung an das Innenministerium wurden die Handlungen der beiden Grenzposten als "taktisch richtig und zweckmäßig" bezeichnet; der Angeklagte wurde drei Tage später mit einer Medaille für vorbildlichen Grenzdienst ausgezeichnet.
 
D.
Das Urteil hält der sachlich-rechtlichen Nachprüfung stand. Das Landgericht hat zutreffend einen gemeinschaftlichen vollendeten Totschlag, begangen mit dem bedingten Vorsatz der Tötung, angenommen (wird ausgeführt).
Die Annahme des Tatrichters, daß der Angeklagte rechtswidrig gehandelt hat, hält im Ergebnis der sachlich-rechtlichen Nachprüfung stand.
1. Allerdings kann dem Tatrichter nicht gefolgt werden, soweit er annimmt, die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse ergebe sich schon daraus, daß es in der DDR zur Tatzeit - vor dem Inkrafttreten des Grenzgesetzes von 1982 - keine gesetzliche Grundlage für den tödlich wirkenden Schußwaffengebrauch gegeben habe und daß der vom Angeklagten befolgte Befehl gegen die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 (GBl. S. 4), insbesondere gegen die dort unter Gesetzesvorbehalt verbriefte Ausreisefreiheit (Art. 10 Abs. 3), verstoßen habe. Eine solche Betrachtungsweise ist an dem rechtsstaatlichen Modell orientiert, nach dem in Grundrechte - maßgeblich wäre in erster Linie das in Art. 8 der Verfassung der DDR (1949) implizierte Recht auf Leben - nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur in den von der Verfassung aufgezählten Fällen eingegriffen werden darf. Wie der Senat in seinem Urteil BGHSt 40, 241 angedeutet hat, sind in der DDR möglicherweise die vom Tatrichter erwähnten Befehle des Innenministers als eine ausreichende formelle Rechtsgrundlage für den Schußwaffengebrauch angesehen worden. Dabei mag die Vorstellung eine Rolle gespielt haben, daß die von der Verfassung vorausgesetzte Existenz von Polizei und Grenzsicherungsaufgaben die Befugnis der dafür zuständigen Staatsorgane einschloß, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach Maßgabe innerdienstlicher Vorschriften Schußwaffen einzusetzen. Dafür spricht, daß schon während der Geltung der in ihrem Wortlaut vielfach an rechtsstaatliche Verfassungstexte angelehnten Verfassung von 1949 das Prinzip der Gewaltenteilung in den Hintergrund getreten und der Gesetzesbegriff allmählich aufgelöst worden ist (zum damaligen Streitstand siehe einerseits - noch im Sinne rechtsstaatlicher Tradition - Such in FS für Erwin Jacobi 1957 S. 22 ff. sowie Bönninger ebenda S. 333 ff., andererseits die massive Kritik an solchen Positionen in dem Protokollheft "Staats- und Rechtswissenschaftliche Konferenz in Babelsberg", 1958; aus der Zeit nach der Einführung der Verfassung von 1968/1974 vgl. ferner Riemann, Staat und Recht 1976, 1291; Joseph, Staat und Recht 1973, 1875; Bley/Dähn, Staat und Recht 1973, 1730 ff. und, im Rückblick, Friedrich Wolff in Lampe [Hrsg.], Die Verfolgung von Regierungs-Kriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 67, 71). Der Senat geht hiernach nicht davon aus, daß zur Tatzeit Ansatzpunkte für die Prüfung eines - auch durch Befehle begründeten - Rechtfertigungsgrundes fehlten.
2. Die am 19. März 1962 erlassene Durchführungsanweisung Nr. 2 des Innenministers der DDR zum Befehl Nr. 39/60 verpflichtete die Posten der Grenzbrigaden, an der Berliner Grenze die Schußwaffe "zur Festnahme von Personen" zu gebrauchen, die auch nach einem Warnschuß "offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der DDR zu verletzen", sofern "keine andere Möglichkeit zur Festnahme besteht". Die mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegebenen Schüsse des Angeklagten auf den schwimmenden Flüchtling entsprachen der Zielsetzung dieses Befehls. Die Erläuterung des Befehls durch den täglich wiederholten und ersichtlich dem Willen des Befehlsgebers entsprechenden (vgl. BGHSt 39, 168, 186 ff.) "Kampfauftrag" besagte, daß eine Flucht in jedem Falle, notfalls durch tödliche Schüsse, zu verhindern war. Im Hinblick auf das Ziel, Grenzübertritte zu verhindern, galt bei dieser Interpretation die Tötung (und anschließende Bergung) des Flüchtlings als eine Art der im Befehl des Ministers bezeichneten "Festnahme". Der Angeklagte hat demnach nicht die Grenzen des so zu verstehenden Befehls überschritten.
3. Hiernach käme der Befehl, obwohl er keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage im Recht der DDR hatte, als Rechtfertigungsgrund in Frage, wenn sein Inhalt, so wie er dem Angeklagten vermittelt worden ist, hingenommen werden könnte. Das ist indessen nicht der Fall.
a) Der Senat hat in seinen Entscheidungen BGHSt 39, 1 ff. und BGHSt 39, 168 ff. (vgl. auch das Senatsurteil BGHSt 40, 218) ausgeführt:
aa) Ein Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die DDR zu verlassen, Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gab, indem er die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge gestattete, ist wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam. Der Verstoß wiegt hier so schwer, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt; in einem solchen Fall muß das positive Recht der Gerechtigkeit weichen (sogenannte "Radbruch'sche Formel"). Diese Grundsätze werden durch Dokumente des internationalen Menschenrechtsschutzes konkretisiert. Dazu gehört für die Zeit nach dem 23. März 1976 (Zeitpunkt des Inkrafttretens) der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966. Für die Zeit davor ist, wie der Senat in seinem Urteil BGHSt 40, 241 näher dargelegt hat, auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 zu verweisen, die, ohne Vertragsrecht zu sein, die Bezugnahme der Charta der Vereinten Nationen auf die Menschenrechte konkretisiert.
bb) Würde ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund unter Mißachtung dieser Grundsätze ausdrücklich die (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche Tötung von Menschen gestatten, die nichts weiter wollen, als unbewaffnet und ohne Gefährdung anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, so müßte er bei der Rechtsanwendung unbeachtet bleiben. Der Bestrafung stände dann Art. 103 Abs. 2 GG nicht entgegen. Denn der Rechtfertigungsgrund hätte wegen der Offensichtlichkeit des in ihm verkörperten Unrechts niemals Wirksamkeit erlangt.
cc) Entsprechendes gilt für eine Staatspraxis, die eine nach den vorhandenen Rechtsvorschriften mögliche, die allgemein geltenden und anerkannten Menschenrechte respektierende Gesetzesauslegung außer acht läßt. Weil eine solche Staatspraxis in gleicher Weise offensichtliches schweres Unrecht darstellt, kann ihr kein Rechtfertigungsgrund entnommen werden. Der Senat hat in den genannten Urteilen ausgeführt, daß die im Recht der DDR zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden es ermöglicht haben, Rechtfertigungsgründe für den Schußwaffengebrauch so auszulegen, daß Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden. Das gilt im Ergebnis auch für den vorliegenden Fall, der sich vor dem Inkrafttreten des Grenzgesetzes der DDR (1982) unter der Geltung der DDR-Verfassung von 1949 ereignet hat. Der Text der Verfassung von 1949 band alle Maßnahmen der Staatsgewalt an die Grundsätze der Verfassung (Art. 4 Abs. 1), betonte den Schutz der persönlichen Freiheit (Art. 8), gewährte in den Grenzen eines Gesetzesvorbehalts die Auswanderungsfreiheit (Art. 10 Abs. 3) und besagte, daß alle Verfassungsbestimmungen unmittelbar geltendes Recht seien (Art. 144 Abs. 1).
Zur Tatzeit konnten mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung Befehle über den Schußwaffengebrauch ohne weiteres an solchen Grundsätzen und am Lebensrecht der Bürger orientiert werden.
b) Der Senat hält an den Grundsätzen seiner Rechtsprechung fest. Das führt dazu, daß der Schußwaffengebrauch, wie ihn der Angeklagte mit bedingtem Vorsatz vorgenommen hat, nicht gerechtfertigt war; denn eine Rechtfertigung des Schußwaffengebrauches kann nicht anerkannt werden, wenn sie auf der Erwägung beruht, daß die Verhinderung der Flucht von einem Teil Deutschlands in den anderen Vorrang vor der Erhaltung des Lebens des Flüchtlings hat.
c) Die Rechtsprechung des Senats im Hinblick auf die "Radbruch'sche Formel", zum internationalen Menschenrechtsschutz und zu der Möglichkeit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung des DDR-Rechts hat auch nach den Senatsentscheidungen BGHSt 40, 218 und 40, 241 zu kritischen Äußerungen im Schrifttum geführt (Amelung NStZ 1995, 29; Dannecker Jura 1994, 585; Laskowski JA 1994, 151; Luchterhandt in Karsten Schmidt [Hrsg.], Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung? Hamburger Ringvorlesung 1994 S. 165, 179 ff.; Pawlik GA 1994, 472 und Rechtstheorie 25, 1994, 101; Schlink NJ 1994, 433; vgl. ferner die Schrifttumshinweise in BGHSt 39, 168, 181, BGH NJW 1994, 2708, 2711 sowie Dreier ZG 1993, 300; Dreier in FS für Arthur Kaufmann, 1993, S. 57; Frommel in FS für Arthur Kaufmann, 1993, S. 81; Herrmann NStZ 1993, 487; Jakobs GA 1994, 1; Arthur Kaufmann NJW 1995, 81; Lampe ZStW 106, 1994, 683, 709; Ott NJ 1993, 337; Pawlik in Rechtsphilosophische Hefte II, 1993, S. 95; Rittstieg Demokratie und Recht 1993, 18; Roggemann, Systemwechsel und Strafrecht, 1993; Spendel Recht und Politik 1993, 61; Wullweber Kritische Justiz 1993, 49). Die Auseinandersetzung im Schrifttum gibt dem Senat Anlaß, seine Rechtsprechung wie folgt ergänzend zu erläutern:
aa) Zur Anwendung der "Radbruch'schen Formel" (dazu jetzt insbesondere Arthur Kaufmann a.a.O. sowie Alexy, Mauerschützen: Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit; Lecheler, Unrecht in Gesetzesform?; vgl. auch die erwähnten Aufsätze von Dreier und Frommel sowie - kritisch - Pawlik GA 1994, 472) hat der Senat in BGHSt 39, 1, 15 ff. hervorgehoben, daß die Schüsse an der Berliner Mauer und an anderen Stellen der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden können, auf den Radbruch seine Ausführungen bezogen hat. Daraus folgt jedoch nicht, daß eine Unverbindlichkeit extrem ungerechter Gesetze ausschießlich in Fällen des Völkermordes, der Friedens-, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen im Sinne des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945 sowie des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 in Betracht kommt. Der Anwendungsbereich der "Radbruch'schen Formel" ist auch nicht notwendig auf diejenigen Verbrechen (Völkermord, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen, schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen von 1949) beschränkt, die nach der Resolution 827 (1993) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dem Internationalen Strafgerichtshof im Hinblick auf Menschenrechtsverbrechen im früheren Jugoslawien zugewiesen worden sind (vgl. den Gesetzesentwurf der Bundesregierung BRDrucks. 991/94 mit dem Text der Resolution 827 sowie Oellers-Frahm ZaöRV 54, 1994, 416 ff.; Bassiouni, Crimes against Humanity in International Criminal Law S. 288 ff.).
Allerdings müssen Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund wegen seiner Ungerechtigkeit als unbeachtlich angesehen wird, wegen des hohen Wertes der Rechtssicherheit auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben (BGHSt 39, 1, 15); daran hält der Senat trotz der Einwände bei Dreher/Tröndle, StGB 47. Aufl. vor § 3 Rdn. 52a fest.
Einen extremen Ausnahmefall, der im Sinne der in Radbruchs Konzept enthaltenen "Unerträglichkeitsformel" (Arthur Kaufmann NJW 1995, 81, 82) zur Unverbindlichkeit eines Rechtfertigungsgrundes führt, hat der Senat bei den tödlichen Schüssen an der innerdeutschen Grenze aus einer Gesamtwertung des Grenzregimes hergeleitet. Diese Bewertung bezieht sich sowohl auf die Hintanstellung des Lebensrechts der Flüchtlinge als auch auf die besonderen Motive, die Menschen für die Überquerung der innerdeutschen Grenze hatten; in die Bewertung sind auch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze eingegangen, die durch "Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl" gekennzeichnet waren (BGHSt 39, 1, 20 unter Hinweis auf BVerfGE 36, 1, 35). Angesichts dieser besonderen Züge kann das Grenzregime der DDR nicht mit den üblichen Formen bewaffneter Grenzsicherung gleichgesetzt werden, zumal da diese typischerweise gegen Eindringlinge gerichtet sind. Der Senat hat nicht übersehen, daß die DDR die Flucht ihrer Bürger unter anderem deswegen unterband, weil sie von einem Anschwellen des Flüchtlingsstroms eine politische und wirtschaftliche Destablisierung der DDR und ihrer östlichen Nachbarn befürchtete. Er hat auch nicht unerwähnt gelassen (BGHSt 39, 1, 19), daß verschiedene Länder, zumal in der dritten Welt, aus Gründen der Entwicklung die Auswanderung gut ausgebildeter Bürger zu unterbinden suchen. Mit der "beispiellosen Perfektion" des Grenzregimes und dem in der Praxis rücksichtslos angewandten Schußwaffengebrauch bei prinzipieller Versagung der Ausreisebefugnis (BGHSt 39, 1, 21) ist die DDR indessen über solche Beschränkungen weit hinausgegangen. Es mag sein, daß einzelne Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktsystems ein ähnlich perfekt organisiertes Grenzregime eingerichtet hatten. Das hindert die Beurteilung des DDR-Grenzregimes, wie sie der Senat vorgenommen hat, nicht; überdies trennten die anderen Grenzen nicht in gleichem Maße Menschen, die auf vielfältige Weise, zumal durch Familienbeziehungen, miteinander verbunden waren.
Der Senat ist unter den gegebenen Umständen zu der Bewertung gekommen, daß die Verneinung von Menschenrechten durch den Schießbefehl in der Staatspraxis der DDR - gleichviel, ob er auf bloßen Anordnungen der Exekutive beruhte oder auf das Grenzgesetz 1982 zurückgeführt wurde - ein so schweres Unrecht darstellte, daß etwaige Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts unbeachtlich bleiben. Der Senat nimmt zur Kenntnis, daß der unbestreitbare Unterschied in der Schwere nationalsozialistischer Gewaltverbrechen einerseits und der Tötungen an der innerdeutschen Grenze andererseits von verschiedenen Autoren zum Anlaß genommen worden ist, die Anwendbarkeit der "Radbruch'schen Formel" auf die hier in Rede stehenden Sachverhalte zu verneinen. Gleichwohl bleibt der Senat bei seiner Rechtsprechung. Der Senat hat mit seiner Bewertung der Schüsse an der innerdeutschen Grenze materiell-rechtliche Grundlagen des Urteils des Internationalen Militärgerichtshofs vom 30. September/1. Oktober 1946, auf denen er aufbaut, für einen speziellen Fall weiterentwickelt (vgl. IMG Verhandlungsniederschriften, amtlicher Text in deutscher Sprache Bd. XXII S. 466, 524 ff., 533 ff., 565 f.; s. auch das Nürnberger Juristenurteil vom 3./4. Dezember 1947, deutscher Text, hrsg. von Zentral-Justizamt für die Britische Zone S. 34). Die nach 1946 eingetretene Betonung und Festschreibung von Menschenrechten, insbesondere in den beiden erwähnten Dokumenten der Vereinten Nationen, läßt es zu, das Tötungsverbot noch stärker zu betonen, also die Anforderungen an wirksame Rechtfertigungsgründe weiter heraufzusetzen.
bb) Der Senat hält auch nach Überprüfung kritischer Stellungnahmen im Schrifttum daran fest, daß bei der Bewertung des Grenzregimes auf Grundsätze des internationalen Menschenrechtsschutzes zurückgegriffen werden darf, ohne daß es darauf ankäme, ob die DDR den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 in innerstaatliches Recht transformiert hat (BGHSt 39, 1, 16 ff.). Die DDR hatte sich durch die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zur Respektierung der in dem Pakt bezeichneten Menschenrechte verpflichtet (BGHSt 39, 1, 16) und schon vorher stets verlautbart, sie betrachte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 als Richtschnur für die Gestaltung der Verhältnisse im eigenen Land (vgl. BGHSt 40, 241, 248 f.). Die Frage, ob der einzelne Grenzposten diesen Einfluß internationaler Menschenrechtsdokumente gekannt hat oder erkennen konnte, betrifft nicht die Rechtswidrigkeit seines Tuns, sondern die Schuld (vgl. dazu BGHSt 39, 1, 32 ff.).
cc) Kritiker haben das Verhältnis der vom Senat angewandten Grundsätze der "Radbruch'schen Formel" zu den Prinzipien der menschenrechtsfreundlichen Auslegung nach Grundsätzen des DDR-Rechts als unklar bezeichnet. Dazu ist zu bemerken: Der Senat hat auf die Möglichkeit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung mit Mitteln des Rechtes der DDR Bezug genommen, weil er das geschriebene Recht der DDR nicht außer Betracht lassen durfte und weil die Möglichkeit der menschenrechtsfreundlichen Auslegung dieses Rechts auch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten ist (BGHSt 39, 168; 40, 30, 42; vgl. auch nachstehend zu dd).
Der Schutz der Menschenrechte war - anders als im nationalsozialistischen Regime - offizielle Programmatik des Staates. Dies gilt auch für die DDR-Verfassung von 1949, deren Text im übrigen von dem rechtsstaatlichen Modell der Weimarer Reichsverfassung weniger weit entfernt war als die Verfassungstexte von 1968 und 1974. Der Senat hat nicht übersehen, daß tatsächlich weder die verschiedenen Verfassungen der DDR noch die sonstigen Gesetze in dem vom Senat bezeichneten Sinne menschenrechtsfreundlich ausgelegt worden sind. Mit dem Hinweis auf eine menschenrechtsfreundliche Auslegungsmöglichkeit hat der Senat nicht etwa ein Rechtssystem konstruiert, das mit dem Recht der DDR schlechthin nichts zu tun hatte. Der Senat nimmt insbesondere die eingehenden Hinweise von Luchterhandt (a.a.O.) auf die tatsächlichen Verhältnisse im Rechtswesen der DDR ernst. Das hindert ihn aber nicht an der Analyse, daß in dem geschriebenen Recht der DDR Möglichkeiten zu einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung angelegt waren. Daß sie überwiegend nicht wahrgenommen worden sind, eine menschenrechtsfreundliche Auslegung den Rechtsanwender vielmehr in größte Schwierigkeiten gebracht hätte, ändert daran nichts. Der Senat verweist im übrigen darauf, daß DDR-Wissenschaftler immerhin in den letzten Jahren der DDR Ansichten vertreten haben, die auf rechtsstaatliche Ansätze in Gesetzen der DDR einschließlich der Verfassung Bezug nahmen (vgl. u.a. U.-J. Heuer, Marxismus und Demokratie 1989 S. 460, 470 f. und Lekschas, Probleme künftiger Strafpolitik in der DDR, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR - Gesellschaftswissenschaften - 1989 S. 6 f., 11 ff.). Desgleichen ist auf die Einführung von Elementen gerichtlicher Nachprüfung von Verwaltungsakten sowie auf die Abschaffung der Todesstrafe in den letzten Jahren der DDR hinzuweisen.
dd) Der Senat hat die besonderen Probleme, die durch das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG entstehen, gesehen (BGHSt 39, 1, 26 ff.). Verschiedene Äußerungen im Schrifttum, wonach die Rechtsprechung des Senats nicht mit dem Rückwirkungsverbot vereinbar sein soll (vgl. u.a. Schmidt- Aßmann in Maunz/Dürig/Herzog, GG Art. 103 Abs. 2 Rdn. 255; Pieroth in Jarass/Pieroth, GG 3. Aufl. Art. 103 Rdn. 54; Jakobs GA 1994, 1 ff.), haben den Senat zu einer nochmaligen Prüfung seines Standpunktes veranlaßt; er hält daran fest, daß Art. 103 Abs. 2 GG seiner Rechtsprechung nicht entgegensteht.
Nach Auffassung des Senats sind die Grenzposten nicht in ihrem Vertrauen auf die Fortgeltung gesetzlicher Regelungen enttäuscht worden; denn das geschriebene Recht der DDR konnte auch menschenrechtsfreundlich interpretiert werden. Art. 103 Abs. 2 GG schützt nicht das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Staats- und Auslegungspraxis. Soweit Gesetze oder Staatspraxis offensichtlich und in unerträglicher Weise gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstießen, können die dafür verantwortlichen Machthaber und diejenigen, die auf deren Anordnung handelten, nicht dem Strafanspruch, den die Strafrechtspflege als Reaktion auf das verübte Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln durchsetzt, unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot entgegenhalten, sie hätten sich an bestehende Normen gehalten. Sie konnten nicht darauf vertrauen, daß eine künftige rechtsstaatliche Ordnung die menschenrechtswidrige Praxis auch in Zukunft hinnehmen und nicht sanktionieren werde. Ein solches Vertrauen kann nicht als schutzwürdig im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG gelten. In einem derartigen Fall dürfen sie sich nicht auf den Satz berufen, daß heute nicht Unrecht sein kann, was früher "Recht" war. Das entspricht dem formalen Charakter des Art. 103 Abs. 2 GG: Die Vorschrift soll es dem Bürger ermöglichen, sich auf das geschriebene Gesetzesrecht einzurichten (vgl. insbesondere Schreiber, Gesetz und Richter S. 213 ff., 220 ff.; siehe auch Roxin, Strafrecht AT I, 2. Aufl. S. 114).
Das würde sich erst recht zeigen, wenn ein Gesetz so pervertiert war, daß eine menschenrechtsfreundliche Auslegung überhaupt nicht in Betracht kam (BGHSt 39, 1, 30; 40, 241, 250). In Fällen dieser Art könnte Art. 103 Abs. 2 GG nicht die Bestrafung hindern. Das folgt aus der Erwägung, daß eine Freistellung von Strafbarkeit, die derart gegen die Menschenrechte verstößt, von vornherein unwirksam ist, also überhaupt nicht Recht geworden ist. Auch wäre es unverständlich, wenn der Schutz des Rückwirkungsverbots unter derart extremen Verhältnissen eingreifen würde, während bei noch bestehender Möglichkeit menschenrechtsfreundlicher Gesetzesinterpretation die Schutzvorschrift des Art. 103 Abs. 2 GG nicht anwendbar wäre.
ee) Es ist geltend gemacht worden, eine Bestrafung sei auch unter der Voraussetzung unmöglich, daß der Rechtfertigungsgrund wegen grober Ungerechtigkeit und Menschenrechtswidrigkeit für unwirksam gehalten werde; es ergebe sich dann ein "normatives Vakuum", denn die Verneinung der Rechtfertigungswirkung könne die Strafbarkeit nicht "wiederherstellen" (Jakobs, Strafrecht AT 2. Aufl. S. 121 sowie GA 1994, 1, 11 f.). Dem kann der Senat nicht folgen. Die DDR gehörte zu denjenigen Staaten, in denen es sich von selbst versteht, daß die vorsätzliche Tötung eines Menschen umfassend strafbar ist, es sei denn, ein Rechtfertigungsgrund griffe ein. Zur Tatzeit galten in der DDR und in der Bundesrepublik gleichermaßen die §§ 211, 212 StGB; das 1968 in Kraft getretene neue Strafgesetzbuch der DDR enthält ebenso wie die genannten Vorschriften ein generelles strafrechtliches Verbot der vorsätzlichen Tötung (§§ 112, 113). Die grundsätzliche Strafbarkeit vorsätzlicher Tötungen gehört zum elementaren Bestand aller zivilisierten Rechtskulturen. Daraus folgt, daß bei Nichtigkeit des Rechtfertigungsgrundes der Tatbestand des Totschlages anwendbar bleibt und daß die Tat, sofern keine anderen Rechtfertigungsgründe vorliegen, als rechtswidrig aufzufassen ist. Auch aus Art. 103 Abs. 2 GG ist kein anderes Ergebnis herzuleiten.