BGHSt 24, 360 - Aussetzung höherer Jugendstrafe
1. § 21 Abs. 2 JGG ist - ebenso wie § 23 Abs. 2 StGB - eine Ausnahmevorschrift, die namentlich die Berücksichtigung einer Konfliktslage ermöglichen soll. Auch sie setzt besondere Umstände sowohl in der Tat als auch in der Persönlichkeit des Verurteilten voraus.
2. Die in Betracht kommenden Umstände können allerdings bei einem Jugendlichen anders zu bewerten sein als bei einem Erwachsenen, so etwa im Falle von Motivationen, die für die Entwicklungsphase des Jugendlichen typisch sind.
3. Der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke kann auch dazu führen, die Frage, ob eine rechtlich mögliche Strafaussetzung angeordnet werden soll, nach § 21 Abs. 2 JGG anders zu entscheiden als bei einem Erwachsenen.
JGG § 21 Abs. 2
3. Strafsenat
 
Urteil
vom 21. Juni 1972 g.K.
- 3 StR 24/72 -
Landgericht Mannheim
 
Aus den Gründen:
Die Jugendkammer hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Von einer Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft hat sie abgesehen. Nach den Feststellungen des Urteils hat der Angeklagte, kurz vor Vollendung seines 18. Lebensjahres, ohne erkennbaren Anlaß den 45jährigen Straßenpassanten S. niedergeschlagen und daraufhin über einige Zeit hinweg den Kopf des am Boden liegenden Opfers mit wuchtigen Tritten seines mit einem Lederschuh bekleideten Fußes schwer mißhandelt. S. erlitt dadurch lebensgefährliche Verletzungen, insbesondere eine Gehirnquetschung, sowie weitere schwere Kopfverletzungen mit der Folge einer Wesensveränderung des Opfers und dem Maß nach nicht sicher feststellbarer Dauerschäden.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, die Anordnung der Strafaussetzung zur Bewährung verstoße gegen § 21 Abs. 2 JGG. Sie wird vom Generalbundesanwalt vertreten.
1. Die Kammer ist der Auffassung, daß dann, wenn - wie hier - Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld verhängt ist, die zu § 23 Abs. 2 StGB entwickelten Grundsätze deswegen keine volle Anwendung finden könnten, weil die im Rahmen des § 21 Abs. 2 JGG erforderliche Abwägung vor allem dem Spannungsverhältnis zwischen Schuldangemessenheit der Jugendstrafe und ihrer erzieherischen Notwendigkeit gerecht zu werden habe; hiernach müsse es für die Gewährung von Strafaussetzung nach § 21 Abs. 2 JGG genügen, wenn besondere Umstände in der Persönlichkeit des Verurteilten, nicht aber zugleich in seiner Tat, zu finden seien. Sie sieht solche besonderen Umstände in der Persönlichkeit des Angeklagten vornehmlich darin, daß es sich bei diesem um eine kritik- und haltschwache, undifferenzierte, kontaktarme Persönlichkeit mit einem an der Grenze zum Schwachsinn liegenden Intelligenzquotienten handle, daß er milieubedingte Schädigungen und mangelhafte Bildung sowie eine Anlage zum Renommieren aufweise, daß er zur Zeit der Tat übermüdet und gereizt und daß seine Zurechnungsfähigkeit infolge erheblichen Alkoholgenusses erheblich vermindert gewesen sei, so daß die Tat des bisher unbescholtenen Angeklagten als eine Ausnahme- oder Exzeßhandlung anzusehen sei.
2. Nicht zu billigen ist die aus dem Erziehungszweck der Jugendstrafe hergeleitete Folgerung der Kammer, die Aussetzung einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren sei auch dann möglich, wenn lediglich in der Persönlichkeit, nicht aber in der Tat "besondere Umstände" vorliegen. Diese Auslegung widerspricht nicht nur dem Wortlaut, sondern auch dem Sinn der gesetzlichen Regelung, die, in gewollter Angleichung an § 23 Abs. 2 StGB, lediglich in Ausnahmefällen, namentlich bei Konfliktstaten, die Aussetzung einer so hohen Strafe ermöglichen wollte. Das ergibt sich sowohl aus der mit § 23 Abs. 2 StGB übereinstimmenden Fassung der Vorschrift wie aus der Beratung im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform. Dort stand auch die Möglichkeit - im Gegensatz zur Regelung im Erwachsenenstrafrecht -, die Strafaussetzung einer mehr als einjährigen Jugendstrafe überhaupt auszuschließen, zur Diskussion (1. Alternative zu § 21 Abs. 2 JGG i.d.F. der Formulierungshilfe vom 17. Januar 1969, Prot. S. 2724, 2758-2760). Bei den Erörterungen wurde besonders auf das Spannungsverhältnis zwischen § 17 und § 21 JGG hingewiesen und die Frage aufgeworfen, ob die Aussetzung einer hohen Jugendstrafe noch erziehungsgerecht sei (Prot. a.a.O.; siehe auch S. 2757). Gerade im Blick auf besondere konflikts- und situationsbedingte Straftaten entschied sich der Ausschuß schließlich für die Aussetzungsmöglichkeit (Prot. S. 2760). Die eher zögernde Haltung des Gesetzgebers bei der Übernahme der Regelung des § 23 Abs. 2 StGB in das Jugendstrafrecht ist auf dem geschichtlichen Hintergrund der teilweise schlechten Erfahrungen zu verstehen, die mit der durch das Jugendgerichtsgesetz 1923 eingeführten, an keine Höchstgrenze der Freiheitsstrafe gebundenen Strafaussetzung auf Probe gemacht worden waren, und die zu der Auffassung geführt hatten, daß sich mit langer Jugendstrafe zu ahndende schwere Verfehlungen Jugendlicher nur ganz ausnahmsweise für eine Aussetzung eigneten (vgl. Dallinger/Lackner, JGG 1. Aufl. S. 40-42).
3. Müssen nach allem auch nach § 21 Abs. 2 JGG besondere Umstände sowohl in der Tat als auch in der Persönlichkeit des Jugendlichen vorliegen (für § 23 Abs. 2 StGB vgl. hierzu vor allem BGHSt 24, 3), um die Aussetzung einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr zu rechtfertigen, so werden doch bei der Bewertung der als solche Umstände in Betracht zu ziehenden Faktoren bei einem Jugendlichen oft andere Maßstäbe anzulegen und Gesichtspunkte zu berücksichtigen sein als bei einem Erwachsenen (vgl. auch BGH Urt. vom 29. Februar 1972 - 1 StR 526/71, wo die Möglichkeit einer über die Grundsätze des § 23 Abs. 2 StGB hinausgehenden Strafaussetzung angedeutet, aber offengelassen wurde). So können bestimmte Situationen aus der andersartigen Vorstellungswelt eines Jugendlichen heraus eher als Konfliktslagen empfunden werden und zu einer das Strafgesetz verletzenden Lösung drängen als bei dem zu abgeklärtem Urteil fähigen Erwachsenen, bei dem die seelische und charakterliche Entwicklung bereits mehr zu einer die Persönlichkeit prägenden Reife gekommen ist. Motivationen, die für eine bestimmte Entwicklungsphase des Jugendlichen typisch sind, können bei ihm, anders als bei einem Erwachsenen, auch als "besondere Umstände in der Tat" zu bewerten sein und dieser - gegebenenfalls in Verbindung mit weiteren Besonderheiten - den Stempel eines ungewöhnlichen Ausnahmefalles (aus der Rechtsprechung zu § 23 Abs. 2 StGB vgl. BGHSt 24, 3; BGH Urt. vom 17. Dezember 1970 - 4 StR 444/70) aufdrücken. Auch bei der Ausübung des dem Gericht in § 21 Abs. 2 JGG eingeräumten Ermessens kann der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke (vgl. BGHSt 10, 233 [234]; 16, 261 [263]) zu anderen Entscheidungen führen als bei einem Erwachsenen; bei sonst gleichgelagerten Fällen von Straftaten Jugendlicher kann die Entscheidung verschieden ausfallen, je nachdem, ob bei dem einzelnen jugendlichen Täter die zur Verfügung stehenden Mittel der Bewährungsauflage und der Bewährungsaufsicht oder der Vollzug der Jugendstrafe eine günstigere und nachhaltigere erzieherische Beeinflussung versprechen. Selbst eine durch besondere Umstände im Sinne des § 21 Abs. 2 JGG bedingte sehr erhebliche Minderung der Schuld braucht nicht zu einer Strafaussetzung zu führen, wenn von einem Vollzug der Strafe der bessere Erziehungserfolg zu erwarten ist. Daß die erzieherische Wirkung der Rechtsfolgen der Tat für den Jugendlichen auch bei der Entscheidung nach § 21 Abs. 2 JGG mehr im Vordergrund stehen soll, ergibt sich auch daraus, daß der Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung als ein die Strafaussetzung hindernder Umstand in § 21 JGG - und zwar im Gegensatz zu § 23 Abs. 3 StGB - jedenfalls nicht ausdrücklich aufgeführt ist (vgl. hierzu Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, Prot. S. 2760).
4. Einige der von der Jugendkammer festgestellten und als besondere Umstände in der Persönlichkeit des Angeklagten gewerteten Besonderheiten, wie namentlich dessen Übermüdung und Gereiztheit sowie seine verminderte Zurechnungsfähigkeit durch den genossenen Alkohol, haben das Gesicht der Tat selbst wesentlich mitgeprägt, sind also auch als "Umstände in der Tat" anzusehen (vgl. BGH Urt. vom 23. März 1971 - 5 StR 73/71; Urt. vom 29. Februar 1972 - 1 StR 526/71). Alle die Persönlichkeit wie die Tat des Angeklagten kennzeichnenden Umstände haben aber nach der erforderlichen Gesamtbewertung nicht das Gewicht eines besonderen Ausnahmefalles, wie § 21 Abs. 2 JGG ihn voraussetzt. Auch bei den an der Grenze zum Heranwachsenden stehenden jugendlichen Tätern schwerwiegender Straftaten sind Persönlichkeitsmerkmale und milieubedingte Schädigungen, wie die beim Angeklagten festgestellten, keine seltene Ausnahme. Selbst in Verbindung mit der geringen Intelligenz des Angeklagten und seinem durch übermäßigen Alkoholgenuß und zu wenig Schlaf herbeigeführten Zustand der Übermüdung, Gereiztheit und erheblich verminderten Zurechnungsfähigkeit erfüllen sie in Anbetracht der äußerst brutalen und vom Angeklagten verschuldeten folgenschweren Tat nicht die Voraussetzungen, an die auch die Aussetzung einer hohen Jugendstrafe gebunden ist. Dabei fällt ins Gewicht, daß die Feststellung, wonach der Angeklagte zur Anwendung körperlicher Gewalt bei Auseinandersetzungen neigt und bereits mehrfach an Schlägereien beteiligt war und wonach er nicht selten Alkohol trinkt und dann aggressiv wird, der Annahme entgegensteht, es handle sich um eine "Ausnahme- oder Exzeßhandlung", worauf die Revision mit Recht hinweist. Dagegen spricht zudem die ungewöhnlich rohe und gefühllose Tatausführung, die sich - auch bei Berücksichtigung seines Zustandes zur Zeit der Tat - nur als Ausdruck eines schwerwiegenden Gesinnungsmangels des Angeklagten verstehen läßt, wie er auch in seinen der Tat folgenden Worten: "hoffentlich krepiert der Hund" zum Ausdruck kommt.
5. Nach allem tragen die von der Jugendkammer getroffenen Feststellungen die Aussetzung der Strafe zur Bewährung nicht, so daß das Urteil insoweit aufzuheben ist. Da nach Lage der Sache zusätzliche Feststellungen nicht zu erwarten sind, hat der Senat in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO zu erkennen, daß die Strafaussetzung wegfällt. Der Strafausspruch kann bestehen bleiben, weil sich nach den Urteilsausführungen ausschließen läßt, daß die Kammer, wenn sie Strafaussetzung nicht gewährt hätte, eine geringere Strafe festgesetzt haben würde. Dies gilt auch für die eingehend begründete Nichtanrechnung der Untersuchungshaft.