BGE 118 Ib 306
 
39. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5. Juni 1992 i.S. X. AG gegen Eidg. Steuerverwaltung (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 15 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 54 Abs. 2 lit. b WUStB sowie Art. 1 Abs. 1 lit. a der Verfügung Nr. 8c des Eidgenössischen Finanzdepartements betreffend die Warenumsatzsteuer (Inlandumsätze zwecks Ausfuhr); Ausfuhr bestickter Rohstoffe.
2. Eine steuerbefreite Inlandlieferung zwecks Ausfuhr kann auch vorliegen, wenn der Abnehmer die Rohware vor dem unmittelbaren Export bei einem Herstellergrossisten einmal bearbeiten lässt (Änderung der Rechtsprechung) (E. 2).
 
Sachverhalt
Die X. AG ist Grossistin im Sinne des Bundesratsbeschlusses vom 29. Juli 1941 über die Warenumsatzsteuer (WUStB; SR 641.20). Sie bezweckt den Ein- und Verkauf von Waren aller Art; in diesem Rahmen lieferte sie auf Bestellung von Stickereiexporteuren im Vorarlberg (Österreich) auch Rohgewebe an schweizerische Lohnsticker, welche die Ware vor Ausfuhr im Auftrag und nach Weisungen der ausländischen Kunden bearbeiteten.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung, Hauptabteilung Warenumsatzsteuer, erhob wegen solcher Lieferungen eine Steuernachforderung. Eine hiergegen gerichtete Einsprache der Steuerpflichtigen wies sie am 27. Juni 1990 mit der Begründung ab, das Rohgewebe sei jeweils im Auftrag und auf Rechnung der verfügungsberechtigten vorarlbergischen Stickereiexporteure (Besteller) an die inländischen Stickereigrossisten geliefert worden, weshalb es sich dabei um steuerpflichtige Inlandlieferungen an ausländische Nichtgrossisten gehandelt habe. Die X. AG könne aus Art. 1 Abs. 1 lit. a der Verfügung Nr. 8c des Eidgenössischen Finanz- und Zolldepartements vom 17. Juni 1954 betreffend die Warenumsatzsteuer (Inlandumsätze zwecks Ausfuhr; SR 641.211.2; im folgenden: Verfügung Nr. 8c) keine Steuerbefreiung ableiten, weil wegen der Bearbeitung der Stoffe durch die Sticker die Ausfuhr der Ware nicht "unmittelbar" ins Ausland erfolgt sei.
Die X. AG führt gegen diesen Entscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie beantragt, die "mit Einspracheentscheid vom 27. Juni 1990 bestätigte Ergänzungsabrechnung Nr. 26556 vom 29. Januar 1986 sei aufzuheben. Die angefochtene Nachforderung widerspreche der Systematik des Warenumsatzsteuerbeschlusses und verletze den Grundsatz von Treu und Glauben.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung schliesst in ihrer Vernehmlassung auf Abweisung der Beschwerde.
Die II. öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat am 20. September 1991 eine erste Beratung der vorliegenden Streitsache ausgesetzt; mit Verfügung vom 2. Oktober 1991 holte der Abteilungspräsident bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung weitere Auskünfte ein, zu denen die X. AG am 10. Dezember 1991 Stellung genommen hat.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut
 
aus folgenden Erwägungen:
1. a) Gemäss Art. 13 Abs. 1 lit. a WUStB unterliegen der Warenumsatzsteuer unter Vorbehalt von Art. 14 alle Lieferungen im Inland sowie der Eigenverbrauch von Waren durch Grossisten. Eine Inlandlieferung liegt vor, wenn der Abnehmer der Ware oder an dessen Stelle ein Dritter instand gesetzt wird, im eigenen Namen über eine Ware zu verfügen, die sich im Zeitpunkt der Verschaffung der Verfügungsmacht im Inland befindet (Art. 15 Abs. 1 WUStB). Das Verschaffen der Verfügungsmacht stellt einen Vorgang des wirtschaftlichen Verkehrs dar (ASA 50, 636 E. 1a; 44, 259 E. 2). Auf den zivilrechtlichen Eigentums- oder Besitzesübergang kommt es nicht an; es genügt, dass der Abnehmer der Ware in die Lage gesetzt wird, wie ein Eigentümer darüber zu verfügen (ASA 54, 58 E. 3, 154 E. 2). Dies ist dann der Fall, wenn er sie entweder selber verbrauchen oder gebrauchen oder aber in eigenem Namen auf eine weitere Wirtschaftsstufe übertragen kann (DIETER METZGER, Handbuch der Warenumsatzsteuer, S. 126 ff., Rz. 269 ff.). Die Weisung an den Lieferanten, die Ware an einen Dritten weiterzuleiten, dem sie der Abnehmer (beispielsweise) verkauft hat, ist Ausdruck solcher Verfügungsmacht. Ein gewichtiges Indiz zur Beurteilung der Frage, wem steuerrechtlich die Verfügungsbefugnis zusteht, bildet die Rechnungstellung, denn in der Regel kann davon ausgegangen werden, dass, wer die Ware bezahlt, auch darüber verfügen kann (ASA 44, 376 E. 1).
b) Die Beschwerdeführerin lieferte das Rohgewebe auf Bestellung der Stickereiexporteure (Nichtgrossisten) im Vorarlberg an Lohnsticker in der Schweiz. Dem österreichischen Käufer, welcher die Ware nach den Angaben der Beschwerdeführerin "den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend auch bezahlte", stellte sie jeweils eine "Rechnungskopie" zu. Die steuerrechtlich relevante Verfügungsmacht lag damit aber spätestens mit der Zustellung der Ware an die Sticker bei den weisungsberechtigten ausländischen Abnehmern (vgl. ASA 60, 205 E. 2), weshalb die Leistungen der Beschwerdeführerin grundsätzlich warenumsatzsteuerpflichtige Inlandlieferungen an ausländische Nichtgrossisten (Stickereiexporteure) und keine steuerfreien Engroslieferungen gemäss Art. 14 Abs. 1 lit. a WUStB darstellten.
2. a) Art. 54 Abs. 2 lit. b WUStB ermächtigt das Eidgenössische Finanzdepartement, "Vorschriften aufzustellen über die Rückerstattung oder Verrechnung der Warenumsatzsteuer mit Rücksicht auf die erfolgte Ausfuhr von Waren". Das Departement hat gestützt hierauf den Grundsatz der Steuerbarkeit der Inlandlieferungen insofern durchbrochen, als es in der Verfügung Nr. 8c bestimmt, dass der Grossist die Warenumsatzsteuer nicht zu entrichten hat, wenn die Lieferung "zwecks unmittelbarer Ausfuhr durch den Abnehmer" (en vue de l'exportation directe/a scopo di diretta esportazione) erfolgt und er nachweist, dass die Ware tatsächlich ins Ausland ausgeführt worden ist (Art. 1 Abs. 1 lit. a). Gemäss der Praxis der Eidgenössischen Steuerverwaltung gilt eine Lieferung ins Ausland als "unmittelbar", wenn die Ware vom Abnehmer "ohne vorherige Weiterlieferung im Inland und unverändert (ohne Bearbeitung, Verarbeitung, Zusammensetzung mit einer andern Ware oder sonstige Umgestaltung) und ohne vorherige Ingebrauchnahme ins Ausland verbracht" wird (Wegleitung 1982 und 1992 für Grossisten, Rz. 74). In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesgericht diese Auffassung bisher geschützt (ASA 60, 205/206 E. 3; 44, 259 E. 1, 377 E. 2; 41, 254 E. 1; BGE 95 I 183 E. 4; unpublizierte Urteile des Bundesgerichts i.S. G. vom 6. Mai 1991, E. 3, und i.S. P. SA vom 26. Februar 1991, E. 3). Im folgenden ist zu prüfen, ob hieran in Fällen wie dem vorliegenden festgehalten werden kann.
b) Die Steuerfreiheit der Ausfuhr ist im Warenumsatzsteuerbeschluss nicht ausdrücklich vorgesehen. Sie ergibt sich aber aus dem Gegenstand der Steuer, die gemäss Art. 2 WUStB grundsätzlich nur auf dem Warenumsatz im Inland (Art. 4-43 WUStB) und auf der Wareneinfuhr (Art. 44-53 WUStB) erhoben wird. Der Warenumsatz, der weder Einfuhr noch Umsatz im Inland darstellt, unterliegt somit der Steuer nicht. Diese Regelung bezweckt, die Warenausfuhr im Hinblick auf die Einfuhrsteuer im Bestimmungsland steuerlich zu entlasten. Dem gleichen Ziel dient die Verfügung Nr. 8c, welche die Inlandlieferung von der Steuer befreit, wenn sich daran unmittelbar die Ausfuhr anschliesst (vgl. ASA 60, 206 E. 4; 57, 294 E. 4a mit Hinweisen).
Die Anforderung, wonach die Ausfuhr durch den Abnehmer "unmittelbar" zu erfolgen hat, soll nach der Rechtsprechung Lieferungen von der Steuerbefreiung ausnehmen, welchen ein oder mehrere weitere Inlandumsätze nachfolgen (BGE 95 I 183 E. 4). In ASA 60, 206 E. 4 ging das Bundesgericht in einem dem vorliegenden gleichgelagerten Fall davon aus, dass von einer "unmittelbaren" - direkten - Ausfuhr nicht mehr die Rede sein könne, wenn der Rohstoff noch durch den Abnehmer bestickt werde. Es möge zwar als unbefriedigend erscheinen, dass die Steuer auf dem Inlandumsatz erhoben wird, obwohl die Ware, wenn auch in bearbeitetem Zustand, schliesslich ins Ausland gelange. Eine Steuerbefreiung von rohen Waren, die vor ihrer Ausfuhr vom Abnehmer im Inland noch bearbeitet würden, verwischte aber die grundlegende Unterscheidung zwischen (steuerbaren) Inland- und (steuerbefreiten) Auslandlieferungen, weshalb an der bisherigen Praxis festzuhalten sei. Hinter diesen Ausführungen stand, wie sich aus den Verweisen auf ASA 17, 284 E. 3 und BGE 95 I 183 E. 4 ergibt, die Überlegung, dass die Kriterien zur Erhebung der Warenumsatzsteuer möglichst einfach handhabbar sein sollen, was im Anwendungsbereich von Art. 54 Abs. 2 lit. b WUStB in der Regel nur bei Identität der exportierten mit der in der Schweiz gelieferten Ware der Fall ist (BGE 95 I 183 E. 4).
Dies darf nun aber nicht dazu führen, dass die Inlandlieferung des Materials an einen für den verfügungsberechtigten ausländischen Nichtgrossisten handelnden Herstellergrossisten, welche sowohl bei einer direkten Lieferung unter den beiden Grossisten (Art. 14 WUStB) wie bei einer direkten Aus- und Wiedereinfuhr des Rohstoffes zur Veredelung von der Steuer befreit wäre, systemwidrig dennoch besteuert wird, wenn die Rohware nach der für das Ausland bestimmten Bearbeitung tatsächlich ohne übermässigen Verwaltungsaufwand noch als solche identifiziert werden kann.
c) Art. 15 WUStB unterscheidet zwei Steuertatbestände. Während die Lieferung nach Abs. 1 die Verschaffung der Verfügungsmacht über eine Ware zum Gegenstand hat, regelt Abs. 2 hiervon unabhängig die Herstellung. Diese kann an einer Ware erfolgen, welche der Besteller dem steuerpflichtigen Grossisten übergeben hat; bei einer solchen sog. "Materialbeistellung" unterliegt nur die Herstellung, nicht aber auch der zur Verfügung gestellte Werkstoff selber der Umsatzsteuer (METZGER, a.a.O., S. 137, Rz. 302 ff.). Werkstoff und Herstellung werden als zwei verschiedene Steuerobjekte bis zur Ablieferung der Ware auseinandergehalten. In Analogie zu dieser Regelung und in Abweichung von der bisherigen Praxis rechtfertigt es sich deshalb, eine Inlandlieferung zwecks Ausfuhr auch dann anzunehmen, wenn die Ware vor dem Export ausschliesslich noch Gegenstand einer eigenständig steuerpflichtigen Herstellung durch einen Grossisten bildet, der sie in der Folge unmittelbar ausführt. Da die Rohware nicht Gegenstand eines weiteren Inlandumsatzes ist, wenn sie zusammen mit der selbständig steuerbaren Herstellung nach der Ablieferung dieses Steuerobjekts unmittelbar exportiert wird, hat deshalb sowohl die Steuer auf der Warenlieferung im Inland als auch jene auf der Herstellung selber zu entfallen.
d) Die Beschwerdeführerin hat im vorliegenden Fall den ausländischen Abnehmern das Rohgewebe an die Adresse der inländischen Stickereibetriebe zugestellt, welche dieses ihrerseits im Rahmen eines Werkvertrages mit den ausländischen Stickereiexporteuren gemäss deren Weisungen zu verwenden hatten. Das von der Beschwerdeführerin ihren ausländischen Kunden gelieferte Rohgewebe wurde somit den als Grossisten selbst steuerpflichtigen Stickereiunternehmungen im Sinne einer Materialbeistellung übergeben. Als Werkstoff für eine steuerbare Herstellung bildete das Rohgewebe deshalb nicht seinerseits Gegenstand einer weiteren Umsatzbesteuerung im Inland; nach der Ablieferung der eigenständig steuerpflichtigen Bestickung wurde es unbestrittenermassen exportiert. Nach Auskunft der Eidgenössischen Steuerverwaltung weicht bestickter Rohstoff in den meisten Fällen nicht wesentlich von seinem ursprünglichen Erscheinungsbild ab; gemäss den unbestrittenen Angaben der Beschwerdeführerin kann er anhand der Webkante ohne weiteres identifiziert werden. Die als solche erkennbare Rohware wurde damit durch die Abnehmer zwar im vorliegenden Fall nicht unmittelbar im Sinne der bisherigen Rechtsprechung, aber doch in einer der Delegationsnorm und der Systematik des Warenumsatzsteuerbeschlusses entsprechenden Art und Weise ausgeführt.
e) Wie die Eidgenössische Finanzverwaltung dieser neuen, gelockerten bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Begriff der "Unmittelbarkeit" in Art. 1 Abs. 1 lit. a der Verfügung Nr. 8c künftig Rechnung tragen will, ist ihr freigestellt. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin kann sie durchaus die Steuer vorerst beim Händlergrossisten erheben und die Rückerstattung vom Nachweis des Exportes der Ware abhängig machen (vgl. den Wortlaut von Art. 54 Abs. 2 lit. b WUStB). Es bleibt ihr überdies auch unbenommen, neben der zollamtlich abgestempelten Kopie der Deklaration für die Ausfuhr zusätzlich weitere Beweismittel zu verlangen (Art. 2 der Verfügung Nr. 8c).