BGE 109 Ib 298
 
48. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 28. September 1983 i.S. Kamm gegen Elektrizitätswerk der Stadt Zürich und Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 50 Abs. 2 ElG; Einsprache gegen die Verlegung einer Hochspannungsleitung.
 
Sachverhalt
Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) baut seine 220-kV-Übertragungsleitung zwischen der Schaltstation Sils i.D. und dem Unterwerk Fällanden schrittweise auf 380-kV um. Nach den Projektplänen soll die 380-kV-Leitung auf dem Abschnitt Murg-Benken weitgehend dem Trasse der bestehenden Leitung folgen; Verschiebungen sind lediglich auf dem Gebiet der Gemeinden Mühlehorn und Filzbach vorgesehen.
Jakob Kamm besitzt im Hof/Hochschleipfen oberhalb Mühlehorn ein landwirtschaftliches Heimwesen. Die bestehende 220-kV-Leitung führt rund 40 m von Wohnhaus und Stallgebäude entfernt, parallel zu einer Hochspannungsleitung der NOK, über das zur Hausparzelle gehörende Grundstück Nr. 73. Durch die Trasseverschiebung soll die neue Leitung bis auf ca. 6 m (äusserster Leiter) an die Gebäude heranrücken und die beiden Parzellen Nrn. 38 und 73 auf einer Länge von insgesamt 99 m überspannen. Gegen dieses Projekt erhob Jakob Kamm Einsprache und verlangte, dass das bisherige Trasse für die 380-kV-Leitung beibehalten werde.
Mit Entscheid vom 28. August 1981 erteilte das Eidgenössische Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement dem EWZ das Enteignungsrecht zum Erwerb der für den Bau und Betrieb der neuen Leitung erforderlichen Rechte und wies die gegen die Enteignung gerichteten Einsprachen und Planänderungsbegehren, soweit auf sie einzutreten war, ab.
Jakob Kamm hat gegen den Entscheid des Departementes Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht und von neuem verlangt, dass die Linienführung der umgebauten Leitung nicht verändert werde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
 
Aus den Erwägungen:
3. Nach Art. 50 Abs. 2 ElG kann das Expropriationsrecht gegen die Einsprecher bewilligt werden, wenn eine Änderung des Trasses ohne erhebliche technische Inkonvenienzen oder unverhältnismässige Mehrkosten oder eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht möglich ist. Wie in Lehre und Rechtsprechung hiezu ausgeführt worden ist (HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 30 zu Art. 50 ElG; BGE 98 Ib 434, nicht publ. Entscheide i.S. Erben Pfändler u. Häfele/SAK vom 30. Juni 1982 E. 5), wird mit dieser Vorschrift lediglich der schon in Art. 1 Abs. 2 EntG festgehaltene Grundsatz präzisiert, wonach das Enteignungsrecht nur geltend gemacht werden kann, wenn und soweit es zur Erreichung des Zweckes notwendig ist. Bei den in Art. 50 Abs. 2 ElG umschriebenen negativen Voraussetzungen handelt es sich somit nur um drei bei der Enteignung besonders wichtige, aber nicht um die einzigen Kriterien für die Beurteilung des geplanten Werkes. Ob für ein konkretes Projekt das Enteignungsrecht erteilt werden könne oder nicht, ist schliesslich in Abwägung der sich gegenüberstehenden privaten und öffentlichen Interessen zu entscheiden.
Die Frage, ob bei der Überprüfung eines Leitungstrasses die im Spiele stehenden Interessen richtig gegeneinander abgewogen worden seien, ist in erster Linie eine Rechtsfrage. Das heisst jedoch nicht, dass dem Bundesgericht in jeder Hinsicht die gleiche Entscheidungsfreiheit zustehe wie der Behörde, die vorgängig die Einsprache beurteilt hat. Das Gericht erkennt vielmehr der Verwaltungsbehörde bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe einen gewissen Beurteilungsspielraum zu und hält sich insbesondere dort zurück, wo das Departement - im Grenzbereich zwischen Rechts- und Ermessensausübung - gestützt auf die Berichte der ihm beigegebenen Fachinstanzen entschieden hat (BGE 98 Ib 435 mit Hinweisen). Nimmt allerdings das Bundesgericht, wie hier, selbst einen Augenschein vor, so besteht kein Anlass, sich bei der Prüfung von Fragen, die eine Würdigung der örtlichen Verhältnisse voraussetzen, besondere Zurückhaltung aufzuerlegen (vgl. BGE 98 Ib 217).
4. a) EVED und EWZ räumen in ihren Vernehmlassungen ein, dass dem Einsprecher durch die neue Linienführung der Leitung keinerlei Vorteile entstünden; tatsächlich verschlechtert sich seine Situation erheblich. Wie am Augenschein festgestellt worden ist, sind das Wohnhaus und vor allem das Stallgebäude des Beschwerdeführers erneuerungsbedürftig und sollen nach dessen Angaben in absehbarer Zeit ausgebaut oder ersetzt werden. Das Ausbau- oder Neubauprojekt wird aber mit der Hochspannungsleitung unweigerlich in Konflikt geraten, da der Steilheit des Geländes wegen nicht gegen den Hang hin ausgewichen werden kann und es auch unwirtschaftlich ist, mit den Gebäuden weit von der Strasse abzurücken. Nun werden zwar vom Enteigner nur die für den Leitungsbau notwendigen Durchleitungsrechte in Anspruch genommen und bleiben die Rechte des Grundeigentümers auf Überbauung seiner Parzellen an sich unberührt: Wird die Leitung einem konkreten Bauprojekt entgegenstehen, so kann der Betroffene dannzumal vom Unternehmen verlangen, entweder die Leitung zu verlegen oder - freihändig oder durch Enteignung - ein Bauverbots-Servitut zu erwerben. Das bedeutet indessen nicht, dass beim Entscheid über die Linienführung bereits bekannten Bauvorhaben nicht Rechnung zu tragen sei. Vielmehr ist, wie das Bundesgericht schon in BGE 98 Ib 437 f. festgestellt hat, nicht nur auf bestehende Bauten, sondern auch auf ernsthafte Bauvorhaben Rücksicht zu nehmen, und muss sich der Enteigner, kann nicht verhindert werden, dass ein Projekt unrealisierbar wird, von vornherein ein Bauverbot oder eine Baubeschränkung einräumen lassen. Im vorliegenden Fall liegt zwar noch kein konkretes Bauprojekt vor; wie bereits erwähnt, muss aber der Landwirtschaftsbetrieb, falls er nicht aufgegeben wird, innert der nächsten fünfzig Jahre - der Dauer der beanspruchten Dienstbarkeitsrechte - erneuert und vergrössert werden und wird der Ausbau der bestehenden Gebäude oder ein Neubau praktisch in jedem Falle durch die Leitung behindert. Die Bauabsichten des Beschwerdeführers werden übrigens vom Enteigner nicht angezweifelt.
Im weiteren geht aus dem angefochtenen Entscheid selbst hervor, dass bei Freileitungen über 100 kV gelegentlich mit Immissionen gerechnet werden muss. Wenn auch nach den bisherigen Erfahrungen keine gesundheitliche Schädigungen zu befürchten sind, so können doch das zeitweise auftretende Knistern und Brummen der Leitung sowie die Störungen des Radio- und Fernsehempfanges für die Betroffenen sehr lästig sein. Übrigens ist es eine Erfahrungstatsache, dass Grundstücke und Bauten, die sich in unmittelbarer Nähe einer Hochspannungsleitung befinden, selbst dann einen Wertverlust erleiden können, wenn die Überbaubarkeit nicht eingeschränkt wird und keine wesentlichen Immissionen zu befürchten sind, da sich viele Käufer aus rein psychologischen Gründen für solche Liegenschaften nicht interessieren (BGE 102 Ib 350 mit Hinweisen). Es besteht also für den Einsprecher ein erhebliches Interesse daran, dass die neue Leitung nicht in unmittelbarer Nähe seines Hauses vorbeigeführt wird.
b) Nach Auffassung des Departementes und des EWZ hat der Beschwerdeführer die vermehrte Belastung durch die geplante Leitung deshalb auf sich zu nehmen, weil die neue Leitungsführung gesamthaft gesehen vorteilhafter sei als das alte Trasse. Einerseits könne die Linienführung vereinfacht, die Leitungslänge um 14 m verkürzt und auf einen Abspannmast verzichtet werden. Andererseits füge sich das neue Trasse gut in die Landschaft ein und werde sich für die Anwohner - auch durch die Zusammenlegung Strasse/Leitung - die Aussicht erheblich verbessern.
Was die angeführten Verbesserungen optischer Natur anbelangt, ist zunächst festzuhalten, dass parallel der bestehenden EKZ-Leitung eine 50-kV-Leitung der NOK verläuft, die nach unbestrittener Darstellung des Beschwerdeführers vor einigen Jahren zur Schonung der Umgebung in die Nähe der 220-kV-Leitung verlegt worden ist. Dieser Umstand wird im angefochtenen Entscheid des EVED nicht erwähnt. Das EWZ bemerkt seinerseits zu diesem Punkte in einer Stellungnahme zuhanden des Departementes, bei Projektierung und Erstellung verschiedener Leitungen im gleichen Gebiete seien Absprachen zwischen den Werken allgemein nicht üblich, wenn die notwendigen seitlichen Leitungsabstände eingehalten würden. Dass dem so ist, ist ausserordentlich bedauerlich, liegt doch - wie das EVED in anderen Einspracheentscheiden betont hat (vgl. etwa den zitierten Entscheid i.S. Häfele E. 6) - eine Parallelführung von Leitungen oder "Korridorbildung" in der Regel im Interesse des Landschaftsschutzes.
Auch im vorliegenden Fall ist durch die Parallelführung der bestehenden Leitung der EWZ und jener der NOK eine noch grössere Beeinträchtigung der Umgebung vermieden worden und wird das Landschaftsbild durch die Trennung der beiden Leitungen nichts gewinnen. Da die 50-kV-Leitung der NOK nach dem Wegrücken der grösseren Leitung stärker als bisher in Erscheinung treten wird, kann davon, dass durch die Verschiebung der EWZ-Leitung die "freie Aussicht von den Wohnstätten aus" wiederhergestellt werden könne - wie das EWZ erklärt - nicht die Rede sein.
Ausser Frage steht dagegen, dass die geplante direktere Linienführung mit der damit verbundenen Leitungsverkürzung und dem Wegfall eines Mastes dem Unternehmen finanzielle Vorteile bringt. Bezogen auf die Gesamtkosten des ganzen Umbauprojektes dürften diese Einsparungen jedoch verschwindend klein sein. Unverhältnismässige Mehrkosten entstünden bei Beibehaltung des alten Trasses offensichtlich nicht. Der Enteigner macht denn auch selbst nicht geltend, dass finanzielle Gründe für die Verlegung der Leitung ausschlaggebend oder auch nur mitbestimmend gewesen seien.
c) Es ergibt sich somit, dass gewichtige Interessen des Beschwerdeführers gegen die geplante Leitungsverlegung sprechen, während die für das Projekt vorgebrachten öffentlichen Interessen kaum von Bedeutung sind; insofern erweist sich die durch das Departement vorgenommene Interessenabwägung, die teilweise auf einer unvollständigen Feststellung des Sachverhaltes beruht, als unhaltbar. Im weiteren haben die Vertreter des Enteigners am Augenschein bestätigt, dass die Beibehaltung des bisherigen Trasses für die 380-kV-Leitung keinerlei technische Schwierigkeiten biete. Zu prüfen bleibt daher einzig noch, ob durch die vom Einsprecher verlangte Änderung des Projektes andere Private in gleicher Weise oder noch schwerer in ihren Rechten betroffen würden (BGE 98 Ib 434, BGE 105 Ib 190). Nun werden aber die Nachbarn des Beschwerdeführers, falls beim Leitungsumbau das Trasse nicht verändert wird, nicht in wesentlich anderer Weise als bis anhin belastet, wird doch die neue Leitung nach den Darlegungen des Enteigners praktisch das gleiche Bild bieten wie die alte. Zudem scheint der durch die bisherige Leitungsführung am stärksten betroffene Eigentümer des Gebäudes Nr. 196, Fritz Dürst-Tscharner, der Beibehaltung des Trasses zugestimmt zu haben, obwohl bei der geplanten Verlegung der Leitung der vor seinem Haus stehende Mast hätte entfernt werden können. Einer Gutheissung des Beschwerdebegehrens steht auch unter diesem Gesichtswinkel nichts entgegen.