BGE 109 Ia 85
 
16. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 21. Juni 1983 i.S. H. c. Schweiz. Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe (Beschwerde gegen Kostenerkenntnis)
 
Regeste
1. Art. 62 Abs. 2 und 70 Abs. 2 VStrR.
2. Art. 6 Ziff. 2 EMRK.
Wird ein Verwaltungsstrafverfahren eingestellt, ist die auf eine Schuldvermutung gestützte Kostenauflage mit Art. 6 Ziff. 2 EMRK unvereinbar (E. 2b).
 
Sachverhalt
A.- Die Kreistelefondirektion (KTD) Luzern eröffnete am 26. Januar 1983 gegen H. eine verwaltungsstrafrechtliche Untersuchung wegen Verdachts der Widerhandlung gegen Art. 42 TVG (SR 784.10). Mit Verfügung vom 1. Juni 1983 stellte sie das Verfahren mangels Beweises einer strafbaren Handlung ein, überband H. aber die Verfahrenskosten im Betrag von Fr. 59.--, weil er die Untersuchung schuldhaft verursacht habe.
B.- Mit Eingabe vom 6. Juni 1983 führt H. gegen den Kostenentscheid der KTD Luzern bei der Anklagekammer des Bundesgerichts Beschwerde mit dem Antrag, die angefochtene Verfügung sei im Kostenpunkt aufzuheben und es sei ihm eine vom Bundesgericht zu bemessende "Kostenentschädigung" zuzusprechen.
 
Aus den Erwägungen:
a) Eine mutwillige Erschwerung oder Verlängerung des Verfahrens wurde in der angefochtenen Verfügung nicht zur Last gelegt. Erst in der Vernehmlassung enthaltene Gründe, mit denen eine unnötige Erschwerung bzw. Verlängerung des Verfahrens nachträglich darzutun versucht wird, sind unbeachtlich. Nach Art. 70 Abs. 2 VStrR sind Einstellungsverfügungen, die aufgrund einer gegen einen Strafbescheid gerichteten Einsprache ergehen, zu begründen. Das muss auch für Sistierungsverfügungen nach Art. 62 Abs. 2 VStrR jedenfalls insoweit gelten, als darin der Beschuldigte mit Kosten beschwert wird. Der Betroffene, der nach Art. 96 Abs. 1 VStrR befugt ist, das Kostenerkenntnis mit der Beschwerde anzufechten, muss anhand der ihm mitgeteilten Begründung zum Entscheid Stellung nehmen können, um darnach gemäss Art. 28 Abs. 3 VStrR seinen Antrag zu formulieren und diesen zu begründen. Es kann deshalb der entscheidenden Behörde oder Amtsstelle nicht zugestanden werden, mit ihren Gegenbemerkungen zur Beschwerde fehlende Erwägungen zu ersetzen oder vorhandene in wesentlichen Punkten zu ergänzen (nicht veröffentlichter Entscheid der Anklagekammer vom 28.4.1981 i.S. St. c. Bundesamt für Zivilluftfahrt; s. auch BGE 98 IV 308).
b) Aus dem Umstand, dass eine Widerhandlung des Beschwerdeführers gegen Art. 42 TVG - auch wenn sie nicht hinreichend bewiesen werden konnte - "aufgrund der vorhandenen Tatsachen und Indizien... wahrscheinlich" sei, scheint die KTD Luzern zu schliessen, H. habe die Untersuchung schuldhaft verursacht. Sollte dem so sein, dann hätte die Vorinstanz mit der Kostenauflage ein auf eine Schuldvermutung gestütztes und von der vorgenannten Strafbestimmung erfasstes Verhalten geahndet, was nach der neuesten Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte mit Art. 6 Ziff. 2 EMRK unvereinbar ist. Wie dieser Gerichtshof am 25. März 1983 i.S. Minelli (6/1981/ 45/73 S. 15) entschieden hat, liegt ein Verstoss gegen die im genannten Artikel verankerte Unschuldsvermutung vor, wenn ohne vorgängigen gesetzmässigen Nachweis der Schuld ("sans établissement légal préalable de la culpabilité") und namentlich ohne dass der Beschuldigte Gelegenheit zur Verteidigung hatte, ein Entscheid ergeht, der den Eindruck vermittelt, der Betroffene sei schuldig. Dafür genügt, dass die Erwägungen nahelegen, der Richter halte diesen für schuldig ("il suffit d'une motivation donnant à penser que le juge considère l'intéressé comme coupable"); einer formellen Feststellung der Schuld ("constat formel") bedarf es nicht.
Im vorliegenden Fall ist kein Schuldspruch in der gesetzlich vorgeschriebenen Form eines Strafbescheids (Art. 64 VStrR) oder einer Strafverfügung (Art. 70 VStrR) ergangen, wurde doch das Verfahren mangels Beweises einer strafbaren Handlung eingestellt. Bei der im vorgenannten Sinne verstandenen Begründung des angefochtenen Kostenentscheides läge jedoch der Gedanken nahe, die KTD Luzern habe den Beschwerdeführer dennoch für schuldig erachtet und ihm deswegen die Verfahrenskosten auferlegt. Das aber wäre nach dem Gesagten unzulässig. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass H. zum Vorwurf der Widerhandlung gegen Art. 42 TVG einvernommen wurde und er im Untersuchungsverfahren jederzeit die Vornahme bestimmter Untersuchungshandlungen zu seiner Verteidigung hätte beantragen können (Art. 37 VStrR); wenn nämlich der Europäische Gerichtshof im angeführten Entscheid neben dem gesetzlichen Nachweis der Schuld auch die Verteidigungsmöglichkeit erwähnte, so geschah das nicht im Sinne einer die Tragweite der Unschuldsvermutung einschränkenden kumulativen Voraussetzung, sondern bloss um darzutun, dass ein mit Art. 6 Ziff. 2 EMRK vereinbarer Schuldspruch ohne vorgängige Möglichkeit der Verteidigung nicht denkbar ist (s. auch Art. 6 Ziff. 3 EMRK).
c) Sollte jedoch die Kostenauflage nicht auf der genannten Schuldvermutung beruhen, wäre sie mangels Begründung aufzuheben.
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Kostenentscheid der KTD Luzern vom 1. Juni 1983 aufgehoben.