BGE 98 Ia 208
 
31. Auszug aus dem Urteil vom 23. März 1972 i.S. Senn und Mitbeteiligte gegen den Grossen Rat des Kantons Bern.
 
Regeste
Stimmrecht, Gewaltentrennung; Art. 85 lit. a OG; Art. 39 bern. KV.
 
Sachverhalt
A. - Nach Art. 36 der bernischen Kantonsverfassung (KV) besorgt der Regierungsrat "innerhalb der Schranken der Verfassung und Gesetze die gesamte Regierungsverwaltung". Art. 38 KV ermächtigt ihn zum Vollzug aller Gesetze, Dekrete und Beschlüsse des Grossen Rates sowie der in Rechtskraft erwachsenen Urteile. Art. 39 KV lautet wie folgt:
"Er wacht innerhalb der Schranken der Bundesverfassung über die Sicherheit des Staates nach aussen und über die Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern.
Zur Abwendung von dringender Gefahr kann er die vorläufigen militärischen Sicherheitsmassregeln ergreifen oder die nötigen Gebote und Verbote mit Strafdrohung erlassen; er soll aber dem Grossen Rat sogleich davon Kenntnis geben und seine Entscheidung über die weiteren Vorkehren gewärtigen."
Art. 44 KV hat folgenden Wortlaut:
"Unter dem Regierungsrat stehen zur Vorberatung der Geschäfte und zur Vollziehung der an sie gelangenden Aufträge die nötigen Direktionen, unter welche die verschiedenen Verwaltungszweige verteilt werden.
Jeder Direktion steht ein Mitglied des Regierungsrates vor.
Die Umschreibung und Organisation der Direktionen des Regierungsrates sowie die Organisation der Staatskanzlei findet durch Dekret des Grossen Rates statt."
Das Dekret über die Organisation des Regierungsrates vom 2. Februar 1966 enthielt in § 7 folgende Bestimmung:
"Wird das Land in Kriegshandlungen verwickelt oder ergibt sich aus Naturereignissen ein Notstand, so trifft der Regierungsrat alle Massnahmen, die geeignet sind, nach Möglichkeit die Aufrechterhaltung der Regierungstätigkeit, der Verwaltung und der Rechtspflege zu sichern.
Der Regierungsrat kann insbesondere Direktionen oder Verwaltungszweige zusammenlegen oder ihre Organisation ändern, Befugnisse Bezirks- oder Gemeindebehörden oder andern Organisationen übertragen und Sonderbeauftragte ernennen; er sorgt für die Vertretung von Behörden und Beamten, die ihre Amtstätigkeit nicht ausüben können."
Am 1. Februar 1971 erliess der Grosse Rat ein neues "Dekret über die Organisation des Regierungsrates und der Präsidialabteilung", welches das erwähnte Dekret vom 2. Februar 1966 ersetzte. Art. 3 des Dekrets vom 1. Februar 1971 lautet wie folgt:
"Wird das Land in Kriegshandlungen verwickelt oder ergibt sich aus andern Gründen ein Notstand, so trifft der Regierungsrat alle Massnahmen, die geeignet sind, nach Möglichkeit die Aufrechterhaltung der Regierungstätigkeit, der Verwaltung und der Rechtspflege zu sichern.
Der Regierungsrat kann im besonderen Direktionen oder Verwaltungen zusammenlegen oder ihre Organisation ändern, Befugnisse Bezirks- oder Gemeindebehörden oder andern Organisationen übertragen und Sonderbeauftragte ernennen. Er sorgt für die Vertretung von Behörden und Beamten, die ihre Amtstätigkeit nicht ausüben können.
Er trifft die nötigen Vorbereitungen und schafft eine Kriegs- und Katastrophenorganisation auf dem Verordnungsweg.
Der Regierungsrat berichtet dem Grossen Rat über die in besonderen Fällen ergriffenen Massnahmen."
Das Dekret ist am 1. Februar 1971 in Kraft getreten.
B. - Dr. Emil Senn und Pierre Gassmann führen für sich und 16 Mitbeteiligte staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, Art. 3 des Dekrets vom 1. Februar 1971 aufzuheben. Die Beschwerdeführer stützen sich auf Art. 84 lit. a und Art. 85 lit. a OG und machen geltend, der angefochtene Erlass verletze Art. 39 in Verbindung mit Art. 111 KV, das Stimmrecht der Bürger und den Grundsatz der Gewaltentrennung.
C. - Der Grosse Rat beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
Die Beschwerdeführer behaupten nicht, das Dekret vom 1. Februar 1971 lasse sich nicht auf Art. 44 Abs. 3 KV stützen. Sie rügen bloss, Art. 3 des Dekrets erteile dem Regierungsrat weitergehende Vollmachten als in Art. 39 KV vorgesehen, und sie leiten daraus ab, die angefochtene Bestimmung verletze deshalb ihr Stimmrecht und den Grundsatz der Gewaltentrennung und sei noch in anderer Hinsicht verfassungswidrig.
Wie der Grosse Rat in seinen Gegenbemerkungen mit Recht ausführt, deckt sich Art. 3 des Dekrets inhaltlich mit Art. 39 KV und enthält - wie im folgenden näher auszuführen ist - bloss eine zeitgemässe Umschreibung der Notstandsvollmachten, wie sie der Regierung bereits nach der Verfassung zustehen.
Art. 39 Abs. 1 KV umschreibt die Aufgaben des Regierungsrats: Wahrung der Sicherheit nach aussen und Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung im Innern. Abs. 2 der Verfassungsbestimmung nennt sodann die Mittel, die dem Regierungsrat zur Verfügung stehen, um die im ersten Abstatz erwähnten Rechtsgüter in Fällen "dringender Gefahr" zu schützen: Militärischer Einsatz und/oder Erlass von Geboten und Verboten. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer fehlt somit jeder Anhaltspunkt für die Annahme, Art. 39 Abs. 2 KV beziehe sich bloss auf die Abwehr äusserer Gefahren. Dieser von E. BLUMENSTEIN (MBVR 32/1934, S. 421) beiläufig aufgestellte Leitsatz übersieht, dass der Kanton zur Abwehr äusserer Gefahren überhaupt nicht über Truppen verfügen kann, zumal dieses Recht nach Art. 19 Abs. 3 BV "ausschliesslich und unmittelbar" dem Bund zusteht. Nur zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Innern können die Kantone "über die Wehrkraft ihres Gebiets verfügen" (Art. 19 Abs. 4 BV; W. BURCKHARDT, Kommentar zur BV, 3. Aufl. 1931. S. 150).
Was die Voraussetzungen von Massnahmen im Sinne von Art. 39 Abs. 2 KV anbelangt, so ist offensichtlich, dass sich der in dieser Bestimmung enthaltene unbestimmte Rechtsbegriff "dringende Gefahr" mit dem Ausdruck "Notstand" gemäss Art. 3 Abs. 1 des Dekrets vom 1. Februar 1971 deckt. Dies ergibt sich bereits aus der Pflicht zur verfassungskonformen Auslegung der angefochtenen Dekretsbestimmung, wie sie Justizdirektor Jaberg anlässlich der Debatte vom 1. Februar 1971 sinngemäss anerkannt hat (Tagblatt des Grossen Rats 1971, S. 9). Wie der Grosse Rat sodann in seiner Vernehmlassung (S. 18/9) mit Recht ausführt, kommt auf die Ursachen eines Notstandes nichts an; entscheidend ist vielmehr, ob die tatsächlichen Verhältnisse in ihren Wirkungen einen Notstand im Sinne von Art. 39 KV bzw. Art. 3 des Dekrets vom 1. Februar 1971 darstellen. Beide Bestimmungen enthalten im Grunde nichts anderes als eine Umschreibung der bereits aus dem ungeschriebenen Verfassungsrecht folgenden sog. allgemeinen Polizeiklausel (vgl. dazu AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse, Nr. 1772; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 81; IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl. Nr. 223 II, S. 86/7), welche die Regierung nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung ermächtigt, in Fällen schwerer, direkter und unmittelbarer Gefahr die zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung erforderlichen Massnahmen zu treffen (vgl. BGE 92 I 30 ff. Erw. 5 zur Tragweite von Art. 39 der bernischen KV). Wie auch der Regierungsrat (vgl. Votum von Justizdirektor Jaberg, a.a.O.) ausdrücklich anerkennt, ist dabei selbstverständlich der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten (vgl. BGE 92 I 35 Erw. 7). Unter diesen Umständen kann nicht ernstlich behauptet werden, die angefochtene Bestimmung des Dekrets vom 1. Februar 1971 ermächtige den Regierungsrat zu Vorkehren, die von der Verfassung nicht gedeckt seien.
Richtig ist freilich, dass Art. 39 Abs. 2 KV in bezug auf die im Zusammenhang mit Notstandsmassnahmen dem Grossen Rat zustehenden Befugnisse eine einlässlichere Ordnung enthält als Art. 3 Abs. 4 des Dekrets vom 1. Februar 1971. Allein daraus vermögen die Beschwerdeführer nichts zu ihren Gunsten abzuleiten, denn auch diese Bestimmung ist verfassungskonform auszulegen. Wie sowohl der Grosse Rat (Vernehmlassung S. 23) als auch der Regierungsrat (Votum von Justizdirektor Jaberg, a.a.O.) ausdrücklich anerkennen, bewirkt die engere Fassung von Art. 3 Abs. 4 des Dekrets keine Beschränkung der verfassungsmässigen Befugnisse des Grossen Rats. Es ist deshalb nicht einzusehen, inwieweit die angefochtene Vorschrift die Beschwerdeführer in ihren verfassungsmässigen Rechten verletzen soll. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.