BGer 9C_847/2017
 
BGer 9C_847/2017 vom 31.05.2018
 
9C_847/2017
 
Urteil vom 31. Mai 2018
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber R. Widmer.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsdienst Inclusion Handicap,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 29. September 2017 (IV.2016.00770).
 
Sachverhalt:
 
A.
A.a. Mit Verfügungen vom 21. Dezember 2012 sprach die IV-Stelle des Kantons Zürich der 1982 geborenen A.________ ab 1. Juni 2010 eine Dreiviertelsrente und ab 1. Oktober 2010 eine ganze Rente der Invalidenversicherung, ab September 2012 (Geburt des ersten Kindes) zusätzlich eine Kinderrente zu. Auf Beschwerde der Gemeinschaftsstiftung BVG für Temporärarbeit (im Folgenden: Pensionskasse) vom 1. Februar 2013 hin, bei welcher die Versicherte über ihre frühere Arbeitgeberin, die B._______ AG, für die berufliche Vorsorge versichert war, hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Verfügungen vom 21. Dezember 2012 und eine weitere Verfügung vom 21. November 2013 (Kinderrente für das am 11. Oktober 2013 geborene zweite Kind der Versicherten) mit Entscheid vom 26. November 2014 auf mit der Feststellung, dass A.________ keinen Rentenanspruch habe. Dieser Entscheid blieb unangefochten.
A.b. Mit Verfügung vom 30. Januar 2015 forderte die IV-Stelle von der Versicherten die für die Zeit vom 1. Juni 2010 bis 31. Januar 2015 zu Unrecht ausbezahlten Rentenbetreffnisse in der Höhe von Fr. 115'901.- zurück. Von der Rückforderung entfielen Invalidenrenten im Betrag von Fr. 88'097.95 auf die Versicherte, Fr. 27'806.05 auf die Sozialen Dienste, an welche die Renten vom 1. Juni 2010 bis 30. September 2011 direkt ausbezahlt worden waren. Das von A.________ am 27. Februar 2015 gestellte Gesuch um Erlass der Rückerstattung lehnte die IV-Stelle am 26. Mai 2016 verfügungsweise ab.
B. Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich teilweise gut, hob die Verfügung der IV-Stelle vom 26. Mai 2016 auf und stellte fest, dass der für den Erlass vorausgesetzte gute Glaube bezüglich der Rentenbeträge, die vor dem 28. März 2013 bei der Versicherten eingetroffen sind, zu bejahen sei. Zur Prüfung der weiteren Erlassvoraussetzung der grossen Härte und zu neuer Verfügung über den Erlass der Rückforderung wies das Gericht die Sache an die IV-Stelle zurück. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab (Entscheid vom 29. September 2017).
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die Versicherte beantragen, der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung vom 26. Mai 2016 seien insofern aufzuheben, als die IV-Stelle zu verpflichten sei, ihr die gesamte Rückerstattungsforderung (Fr. 88'097.95) zu erlassen. Ferner ersucht sie um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Die Beschwerde richtet sich einzig gegen die Verneinung der Erlassungsvoraussetzungen durch die Vorinstanz bezüglich der Rentenbeträge ab 28. März 2016. Auf die Beschwerde gegen diesen Teilentscheid gemäss Art. 91 BGG (vgl. BGE 135 V 141) ist einzutreten.
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
2.1. Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zum guten Glauben als Erlassvoraussetzung gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG zutreffend wiedergegeben (Urteil 8C_243/2016 vom 7. Juli 2016 E. 4.1; siehe auch BGE 138 V 218 E. 4 S. 220). Richtig dargelegt hat sie auch, dass das Unterbleiben einer Auskunft entgegen gesetzlicher Vorschrift (vgl. Art. 27 ATSG) oder obwohl sie nach den Umständen im Einzelfall geboten war, nach der Rechtsprechung (BGE 131 V 472 E. 5 S. 480) einer unrichtigen Auskunft gleichgestellt ist. Darauf wird verwiesen.
2.2. Was den Erlass betrifft, unterscheidet die Rechtsprechung zwischen dem guten Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter den gegebenen Umständen auf den guten Glauben berufen kann und ob er bei zumutbarer Aufmerksamkeit den bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen sollen. Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gehört zum inneren Tatbestand und ist daher Tatfrage, die von der Vorinstanz nach Art. 105 Abs. 1 BGG verbindlich beantwortet wird. Demgegenüber gilt die Frage nach der Anwendung der gebotenen Aufmerksamkeit als frei überprüfbare Rechtsfrage, soweit es darum geht festzustellen, ob sich jemand angesichts der jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (SVR 2015 ALV Nr. 6 S. 16, 8C_670/2014 E. 3.3; Urteil 8C_243/2016 vom 7. Juli 2016 E. 4.2; vgl. BGE 122 V 221 E. 3 S. 223 mit Hinweisen).
3. Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin sich nicht nur für den Zeitraum vor dem 27. März 2013 auf den guten Glauben berufen kann, wie die Vorinstanz angenommen hat, sondern ob sie die Invalidenrenten auch nach diesem Datum in gutem Glauben entgegengenommen hat, wie in der Beschwerde geltend gemacht wird.
 
4.
4.1. Das kantonale Gericht hat zu den Umständen, die einer Berufung auf den guten Glauben entgegenstehen, zunächst festgehalten, dass sein Entscheid, mit welchem die Invalidenrente aufgehoben wurde, vom 26. November 2014 datiert und vom Ehemann der Versicherten am 8. Dezember 2014 in Empfang genommen wurde. In Bezug auf die der Versicherten nach diesem Datum zugegangenen Rentenzahlungen sei der gute Glaube ohne weiteres zu verneinen. Bereits nach der Beschwerdeerhebung durch die Pensionskasse am 1. Februar 2013 habe der Leistungsanspruch gegenüber der Invalidenversicherung sodann nicht mehr als nachgewiesen im Sinne von Art. 19 Abs. 4 ATSG gelten können, und es sei deshalb auch für die Zeit danach von zu Unrecht erbrachten Leistungen auszugehen. Über die Beschwerde der Pensionskasse habe die Vorinstanz die Versicherte mit Verfügung vom 19. März 2013 (zugestellt am 28. März 2013) in Kenntnis gesetzt. Aus der behaupteten telefonischen Erkundigung und der von der IV-Stelle angeblich erhaltenen Auskunft, die Rente würde ihr auch weiterhin ausbezahlt werden, könne die Beschwerdeführerin des Weiteren nichts zu ihren Gunsten ableiten, da jeglicher Beweis für eine falsche Auskunft fehle.
4.2. Die Versicherte wendet ein, sie habe aufgrund der Beschwerde der Pensionskasse Zweifel an der weiteren Auszahlung der Invalidenrente gehabt, weshalb sie sich an die IV-Stelle wandte. Diese habe ihr versichert, dass ihr die Rente zustehe. Dadurch seien ihre Bedenken zerstreut worden; es könne daher nicht von einem Unrechtsbewusstsein ausgegangen werden. Art. 27 Abs. 2 ATSG statuiere eine Beratungspflicht der Verwaltung. Im vorliegenden Fall hätte die IV-Stelle sie darauf aufmerksam machen müssen, dass aufgrund des offenen Gerichtsentscheids eine rückwirkende Aufhebung der Invalidenrente nicht ausgeschlossen sei und sich daraus Rückforderungen gegenüber der Beschwerdeführerin ergeben könnten. Indem sie ihrer Beratungspflicht nicht nachgekommen sei, habe die Verwaltung Bundesrecht verletzt. Die ungenügende Wahrnehmung der Beratungspflicht werde einer unrichtigen Auskunft gleichgestellt. Diese sei auch unter dem Gesichtswinkel des Grundsatzes von Treu und Glauben relevant, indem unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung der rechtsuchenden Person geboten sei.
 
5.
5.1. Wie die Vorinstanz zutreffend darlegt, hat sie am 19. März 2013 eine Verfügung erlassen, worin darauf hingewiesen wird, dass die Pensionskasse mit Eingabe vom 1. Februar 2013 Beschwerde gegen den Entscheid der IV-Stelle vom 21. Dezember 2012 erhoben und diese am 13. März 2013 die Beschwerdeantwort erstattet habe. Der Referent des Sozialversicherungsgerichts hat verfügt, dass die Versicherte zum Prozess beigeladen werde. Gleichzeitig wurden dieser die Eingaben der Pensionskasse und der IV-Stelle zugestellt, und es wurde ihr eine Frist von 30 Tagen zur schriftlichen Stellungnahme angesetzt. Diese gerichtliche Verfügung hat die Versicherte gemäss verbindlicher Feststellung des kantonalen Gerichts (E. 1 hievor) am 28. März 2013 entgegengenommen. Ab diesem Datum musste sich die Beschwerdeführerin darüber im Klaren sein, dass der Bestand ihres Invalidenrentenanspruchs gefährdet war und eine Rückforderung der IV-Stelle in Betracht fiel. Ab diesem Zeitpunkt war sie gemäss Feststellung der Vorinstanz nicht mehr gutgläubig. Die Behauptung, sich telefonisch bei der Verwaltung nach der weiteren Ausrichtung ihrer Rente erkundigt zu haben, ist nicht glaubhaft gemacht und schon gar nicht bewiesen, wie die IV-Stelle zutreffend einwendet. Im Übrigen ist eine nicht schriftlich belegte telefonische Auskunft zum Beweis von vornherein ohnehin kaum geeignet (BGE 143 V 341 E. 5.3.1 S. 347 f.). Von einer Befragung der Mitarbeitenden der IV-Stelle zu dieser angeblichen Erkundigung der Beschwerdeführerin und der ihr erteilten telefonischen Auskunft, welche, falls tatsächlich erfolgt, bereits mehrere Jahre zurücklag, konnte die Vorinstanz keine neuen Erkenntnisse erwarten. Sie durfte daher in antizipierter Beweiswürdigung (BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236 f.) auf eine Beweisabnahme verzichten. Darin kann entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin keine Willkür erblickt werden. Eine nicht belegte telefonische Auskunft würde im Übrigen auch nicht für eine erfolgreiche Berufung auf den Vertrauensschutz genügen (BGE 143 V 341 E. 5.3.1 S. 347 f.).
5.2. Dass die Verwaltung verpflichtet gewesen wäre, von sich aus die Beschwerdeführerin über die möglichen Folgen der von der Pensionskasse eingereichten Beschwerde in Kenntnis zu setzen, wie die Versicherte unter Hinweis auf Art. 27 Abs. 2 ATSG geltend macht, trifft nicht zu. Gemäss Art. 27 Abs. 2 ATSG besteht ein individuelles Recht auf Beratung durch den zuständigen Versicherungsträger. Jede versicherte Person kann vom Versicherungsträger im konkreten Einzelfall eine unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten verlangen (BGE 131 V 472 E. 4.1 S. 476). Sinn und Zweck der Beratungspflicht ist es, die betreffende Person in die Lage zu versetzen, sich so zu verhalten, dass eine den gesetzgeberischen Zielen des jeweiligen Erlasses entsprechende Rechtsfolge eintritt (BGE 131 V 472 E. 4.3 S. 478). Von sich aus musste die IV-Stelle im vorliegenden Fall aufgrund des vorstehend wiedergegebenen Sachverhalts mit auch für Laien klar ersichtlicher Infragestellung der Rente durch die Beschwerde der Pensionskasse (E. 5.1 hievor) indessen keinen Abklärungsbedarf erkennen (vgl. SZS 2012 S. 445, 9C_787/2011 E. 5), sodass entgegen den Vorbringen in der Beschwerde nicht von einer pflichtwidrig unterlassenen Beratung die Rede sein kann. Nach der Einreichung der Beschwerde durch die Pensionskasse konnte die Beschwerdeführerin nicht auf die Rechtsbeständigkeit der noch nicht rechtskräftig festgestellten Anspruchsgrundlagen in gutem Glauben vertrauen. Die Vorinstanz hat den guten Glauben seit Entgegennahme der Verfügung am 28. März 2013 demnach zu Recht verneint.
6. Dem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung ist stattzugeben, da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht. Danach hat die Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist.
Hingegen kann dem Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung nicht stattgegeben werden, da die Beschwerdeführerin nicht anwaltlich vertreten ist (Art. 64 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Prozessführung gewährt.
3. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
4. Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wird abgewiesen.
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 31. Mai 2018
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Der Gerichtsschreiber: Widmer