BGer 9C_256/2013
 
BGer 9C_256/2013 vom 01.07.2013
{T 0/2}
9C_256/2013
 
Urteil vom 1. Juli 2013
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Bettina Umhang,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 20. Februar 2013.
 
Sachverhalt:
 
A.
Die 1966 geborene S.________ erlitt am 28. Mai 2004 einen Auffahrunfall. Die Unfallversicherung verneinte ihre diesbezügliche Leistungspflicht ab 23. März 2005 (Verfügung vom 20. August 2008 und Einspracheentscheid vom 7. April 2009), was das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 10. Februar 2011 bestätigte.
Im Februar 2007 meldete sich S.________ unter Hinweis auf ein "HWS-Distorsionstrauma" bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 1. Juli 2011 einen Rentenanspruch.
 
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 20. Februar 2013 ab.
 
C.
S.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, die Verfügung vom 1. Juli 2011 und der Entscheid vom 20. Februar 2013 seien aufzuheben und es seien ihr die gesetzlichen Leistungen der Invalidenversicherung, insbesondere eine vom 1. März 2007 bis 30. April 2011 befristete IV-Rente, zuzusprechen und auszurichten.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140).
 
2.
2.1. Somatoforme Schmerzstörungen und ähnliche ätiologisch-pathogenetisch unerklärliche syndromale Leidenszustände - wie die Folgen eines Distorsionstraumas der Halswirbelsäule (HWS) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle ("Schleudertrauma") - vermögen in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu bewirken (BGE 136 V 279 E. 3 S. 280 ff.; 130 V 352 E. 2.2.2 und 2.2.3 S. 353 f.; 132 V 65; 131 V 49; 130 V 396). Die - nur in Ausnahmefällen anzunehmende - Unzumutbarkeit eines Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess setzt das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und Konstanz erfüllter Kriterien wie chronische körperliche Begleiterkrankungen und mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission, ein ausgewiesener sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens, ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn) oder schliesslich unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person voraus (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f.). Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sich die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind die Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen (BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 50 f. mit Hinweisen).
2.2. Die ärztlichen Stellungnahmen zum psychischen Gesundheitszustand und zu dem aus medizinischer Sicht (objektiv) vorhandenen Leistungspotential bilden unabdingbare Grundlage für die Beurteilung der Rechtsfrage (vgl. SVR 2012 IV Nr. 32 S. 127, 9C_776/2010 E. 2.4), ob und gegebenenfalls inwieweit einer versicherten Person unter Aufbringung allen guten Willens die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft zumutbar ist. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) darf sich dabei die Verwaltung - und im Streitfall das Gericht - weder über die (den beweisrechtlichen Anforderungen [BGE 125 V 351 E. 3a S. 352] genügenden) medizinischen Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch sich die ärztlichen Einschätzungen und Schlussfolgerungen zur (Rest-) Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen. Letzteres gilt namentlich dann, wenn die begutachtende Fachperson allein aufgrund der Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung oder eines vergleichbaren Leidens eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit attestiert. Die rechtsanwendenden Behörden haben diesfalls mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit auch invaliditätsfremde Gesichtspunkte (insbesondere psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren) mit berücksichtigt, welche vom sozialversicherungsrechtlichen Standpunkt aus unbeachtlich sind (vgl. BGE 127 V 294 E. 5a S. 299; AHI 2000 S. 149, I 554/98 E. 3), und ob die von den Ärzten anerkannte (Teil-) Arbeitsunfähigkeit auch im Lichte der massgebenden rechtlichen Kriterien standhält (BGE 130 V 352 E. 2.2.5 S. 355 f.).
 
3.
3.1. Die Vorinstanz hat für den massgeblichen medizinischen Sachverhalt für die Zeit zwischen dem Unfall vom 28. Mai 2004 und der Einreichung der Akten des Unfallversicherers beim Gericht am 23. Mai 2009 auf den zum Verfahren beigezogenen Entscheid vom 10. Februar 2011 verwiesen. Darin wurde gestützt auf die Gutachten der Dres. med. J.________ vom 13. November 2007, C.________ vom 27. April 2008, K.________ vom 2. Mai 2008 und E.________ vom 15. Juli 2008 festgestellt, dass die Versicherte fachärztlich mehrfach und umfassend, aber stets ohne Ergebnis auf objektivierbare Befunde für eine neurologische Schädigung hin untersucht worden sei; sie habe im Zeitpunkt der Leistungseinstellung durch den Unfallversicherer, mithin am 23. März 2005, an einer anhaltenden Schmerzproblematik nach HWS-Distorsion ohne nachweisbare organische Grundlage gelitten. Mit Blick auf die Morbiditätskriterien (E. 2.1) wurde auf Dr. med. C.________ verwiesen, der deutliche Hinweise auf ein vorwiegend bewusstseinsnahes aggravatives Verhalten erkannt habe, auch wenn eine bewusstseinsferne unbewusste Symptomproduktion im Rahmen der beruflichen Überforderungssituation nicht auszuschliessen sei; zudem habe er auch keinen irreversiblen Dauerzustand gesehen.
Weiter hat die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid festgestellt, die Versicherte habe nicht behauptet, dass die Sachverhaltsabklärungen der IV-Stelle neue Fakten zur Objektivierung der Schmerz- und Erschöpfungsproblematik hervorgebracht hätten oder dass weitere Abklärungen solche Fakten liefern könnten. Nach dem Unfall vom 28. Mai 2004 habe die Beschwerdeführerin bis zum 13. Januar 2005 ihre Arbeitsfähigkeit in der zuvor ausgeübten Tätigkeit vollständig wiedererlangt. Der psychiatrische Gutachter habe nachvollziehbar dargelegt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes, welche zur Dekompensation in einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit ab März 2006 geführt habe, Folge der beruflichen Überforderung in der im März 2005 neu aufgenommenen, anspruchsvolleren beruflichen Funktion sei.
3.2. Dass diese Feststellungen offensichtlich unrichtig sein oder auf einer Rechtsverletzung beruhen sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht geltend gemacht; sie bleiben daher für das Bundesgericht verbindlich (E. 1.1). Entgegen der Auffassung der Versicherten hat die Vorinstanz somit durchaus - und in rechtskonformer Würdigung der Beweislage - tatbestandsrelevante (vgl. Art. 4 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 und Art. 7 ATSG [SR 830.1]) Sachverhaltsfeststellungen getroffen. Indessen liess sich - gemessen am Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit - keine invalidisierende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit feststellen. Das ergibt sich namentlich unter rechtlicher Betrachtung (E. 3.3 und 3.4). Ausserdem wird nicht vorgebracht und fehlen Anhaltspunkte dafür, dass sich der Gesundheitszustand der Versicherten seit Mai 2009 verschlechtert haben soll.
3.3. Soweit sich die Beschwerdeführerin auf eine neurologisch resp. neuropsychologisch attestierte Arbeitsunfähigkeit beruft, kann sie nichts für sich ableiten. Die entsprechenden Einschätzungen führen angesichts der hier grundsätzlich anwendbaren Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f. (E. 2.1) nicht zu einer Invalidität im rechtlichen Sinn (E. 2.2) : Dass Morbiditätskriterien in genügender Intensität erfüllt sein sollen, geht aus den (medizinischen) Unterlagen nicht hervor und wird auch von der Versicherten nicht behauptet. Zudem beruht die 2006 eingetretene Verschlechterung des Gesundheitszustandes gemäss verbindlicher vorinstanzlicher Feststellung auf einer beruflichen Überforderung (E. 3.1). Damit findet sie ihre hinreichende Erklärung in invaliditätsfremden, psychosozialen Umständen; auch aus diesem Grund ist sie im Rahmen der invalidenversicherungsrechtlichen Leistungszusprache nicht zu berücksichtigen.
3.4. Schliesslich macht die Versicherte geltend, eine Leidensüberwindung in dem Sinn, dass sie ein rentenausschliessendes Einkommen habe erzielen können, sei erst seit Mai 2011, nicht jedoch vor Ablauf des Wartejahres (vgl. Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG) möglich gewesen. Damit beruft sie sich - entgegen BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f. (E. 2.1) - für die vorangegangene Zeit auf eine invalidisierende Arbeitsunfähigkeit. Triftige Gründe für eine Abkehr von der gefestigten Rechtsprechung (vgl. zu den Voraussetzung für eine Praxisänderung BGE 136 III 6 E. 3 S. 8; 135 I 79 E. 3 S. 82; 134 V 72 E. 3.3 S. 76) werden indessen nicht dargelegt und sind auch nicht erkennbar. Insbesondere hat die Vorinstanz diesbezüglich zutreffend dargelegt, dass sich aus BGE 137 V 199 nichts zu Gunsten der Beschwerdeführerin ergibt. Das Bundesgericht begründete in diesem Urteil eingehend (a.a.O., E. 2.2 S. 202 ff.), weshalb die Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f. zwar auf Invalidenrenten (als Dauerleistungen), nicht aber auf Heilbehandlungen und Taggelder der Unfallversicherung (als vorübergehende Leistungen) anwendbar ist. Dementsprechend lässt sich auch nicht umgekehrt von einem allfälligen - hier ohnehin nicht gegebenen - länger dauernden Taggeldanspruch auf eine rentenbegründende Invalidität schliessen (vgl. auch Urteil 9C_1026/2012 vom 13. Februar 2013 E. 4).
3.5. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz im Ergebnis zu Recht einen (befristeten) Rentenanspruch verneint. Die Beschwerde ist unbegründet.
 
4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 1. Juli 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kernen
Die Gerichtsschreiberin: Dormann