BGer 6B_261/2011
 
BGer 6B_261/2011 vom 04.10.2011
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
6B_261/2011
Urteil vom 4. Oktober 2011
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Denys,
Gerichtsschreiber Borner.
 
Verfahrensbeteiligte
G.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Burges,
Beschwerdeführer,
gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Bandenmässiger Diebstahl etc., effektive Verteidigung, rechtliches Gehör,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 3. März 2011.
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau klagte G.________ am 17. April 2008 an wegen einfacher Körperverletzung und am 8. September 2009 mit Zusatzanklage wegen bandenmässigen evtl. gewerbsmässigen Diebstahls und mehrerer weiterer Delikte. Noch bevor es zu einer Gerichtsverhandlung kam, verhaftete ihn die Polizei am 24. November 2009 wegen neuer Vorwürfe.
Gleichentags um 11:15 Uhr eröffnete ihm der Untersuchungsrichter, "dass (...) er die Aussagen verweigern kann; er berechtigt ist, einen Verteidiger zu bestellen und, wenn nötig, einen amtlichen Verteidiger verlangen kann". Die Frage, "ist jemand zu verständigen?" beantwortete er mit: "Ja, mein Chef (...) und mein Verteidiger Herr Burges ..." (Akten des Bezirkamts Baden, act. 53). Um 15:00 Uhr fragte ihn die Kantonspolizei: "Sie gaben bei der heutigen Hafteröffnung an, dass Ihr Anwalt, Herr Burges, über Ihre Verhaftung orientiert werden muss. Nun gaben Sie mir gegenüber mündlich an, dass Ihr Anwalt, welcher sich von sich aus zwischenzeitlich bei der Polizei gemeldet hat, nicht bei Ihnen vorbei kommen muss. Stellungnahme? - Das ist richtig. Zum jetzigen Zeitpunkt des Verfahrens, verzichte ich auf den Beizug von Herrn Burges. Wenn ich seine Anwesenheit etc. wünsche, werde ich es Ihnen sagen" (a.a.O., act. 75).
Am 13. Januar 2010 erging die 2. Zusatzanklage.
B.
Das Bezirksgericht Baden sprach G.________ am 21. Januar 2010 vom Vorwurf der einfachen Körperverletzung frei. Es verurteilte ihn wegen gewerbs- und bandenmässigen Diebstahls, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfachen Hausfriedensbruchs, geringfügiger Sachentziehung, mehrfachen Entwendens eines Motorfahrzeugs zum Gebrauch und je mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittel-, Waffen- und Sprengstoffgesetz zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren (davon 9 Monate unbedingt) und einer Busse von Fr. 500.--. Zudem widerrief es den bedingten Vollzug einer 90-tägigen Gefängnisstrafe, die das Bezirksamt Bremgarten am 27. September 2005 ausgesprochen hatte.
Eine Berufung des Verurteilten wies das Obergericht des Kantons Aargau am 3. März 2011 ab.
C.
G.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, und er sei von den Vorwürfen der 2. Zusatzanklage (insbesondere bandenmässiger Diebstahl, mehrfache Sachbeschädigung und mehrfacher Hausfriedensbruch) freizusprechen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem sei festzustellen, dass Art. 6 Ziff. 1, Art. 6 Ziff. 3 lit. a, b und c sowie Art. 1 und 13 EMRK verletzt worden seien.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer rügt, sein Pflichtverteidiger sei weder über die Verhaftung noch über die weiteren Verfahrensschritte (polizeiliche Einvernahmen) orientiert worden. Dadurch sei sein Recht auf effektive Verteidigung, mithin Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. c EMRK, verletzt worden.
1.1 In BGE 131 I 350 hat sich das Bundesgericht ausführlich zur amtlichen und notwendigen Verteidigung nach Verfassungs- und Konventionsrecht geäussert.
Für den vorliegenden Fall sind folgende Passagen von Bedeutung:
- Notwendige bzw. obligatorische Verteidigung im strafprozessualen Sinn bedeutet, dass der Betroffene in Anbetracht der rechtlichen und tatsächlichen Umstände in den verschiedenen Stadien des Strafverfahrens zwingend und auch ohne entsprechendes Ersuchen vertreten sein muss und dass er darauf auch mit einer persönlichen (Selbst-)Verteidigung nicht verzichten kann (E. 2.1).
- Art. 29 Abs. 3 BV erheischt keine obligatorische Verteidigung im soeben umschriebenen Sinne. Verfassungsrechtlich steht es dem Betroffenen grundsätzlich vielmehr frei, sich in den unterschiedlichen Stadien des Strafverfahrens selbst zu verteidigen oder ein Gesuch um Gewährung einer amtlichen Verteidigung zu stellen (E. 3.1).
- Art. 6 Ziff. 1 und 3 EMRK kommen schon vor dem eigentlichen gerichtlichen Strafverfahren im Stadium der Untersuchung zur Anwendung, wenn das Vorverfahren die Fairness des ganzen Verfahrens zu beeinträchtigen droht (E. 3.2).
- Aus dem Anspruch auf einen Beizug eines Rechtsvertreters in einem sehr frühen Stadium kann indessen nicht geschlossen werden, dass Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK unter gegebenen Umständen eine obligatorische Verbeiständung auch ohne entsprechendes Ersuchen oder gar entgegen dem Willen des Betroffenen erfordern würde.
- Die Bestimmung spricht der beschuldigten Person vielmehr das Recht zu, sich selbst zu verteidigen oder sich durch einen gewillkürten oder amtlichen Rechtsvertreter verteidigen zu lassen, auch wenn dieses Recht zur Selbstverteidigung in Fällen gesetzlich vorgesehener obligatorischer Verteidigung aus öffentlichen Interessen an einem ordnungsgemässen Verfahren eingeschränkt werden kann.
- Soweit ersichtlich hat der Gerichtshof in Fällen, in denen ein Rechtsvertreter gar nicht verlangt worden ist, auch keine Konventionsverletzungen festgestellt; davon wurde lediglich in einem Verfahren nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK betreffend eine aus psychischen Gründen verwahrte Person abgewichen.
- Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK verlangt somit grundsätzlich keine obligatorische Vertretung (E. 3.2).
1.2 Aus der Tatsache, dass dem Beschwerdeführer ein amtlicher Verteidiger bestellt worden war, leitet er ab, dass er bereits im Untersuchungsverfahren notwendig bzw. obligatorisch im Sinne des Verfassungs- und Konventionsrechts hätte verteidigt werden müssen.
Wie die Vorinstanz zu Recht festhält (angefochtener Entscheid S. 8 Ziff. 3.2), trifft dies nicht zu. Der Beschwerdeführer bringt denn auch keinerlei Anhaltspunkte vor, die eine solche Verteidigung rechtfertigen würden. Er ist in geordneten Verhältnissen aufgewachsen, besuchte nach der Primarschule während 4 Jahren die Sekundarschule und bildete sich anschliessend zum Plattenleger aus. Im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils arbeitete er seit ca. einem Jahr in einer Whirlpool-Unternehmung als Servicemonteur im Aussendienst und im Nebenerwerb bei einer Storenbau-Firma. Er war gesund, konsumierte keine Drogen und selten Alkohol (Akten des Bezirksgerichts Baden, act. 219 f.). Dass er ernsthafte psychische Probleme gehabt oder wegen der Untersuchungshaft besonders gelitten hätte, macht er selbst nicht geltend. Unter diesen Umständen ist anzunehmen, dass er sich der Tragweite seiner Aussagen bewusst war und keiner notwendigen Verteidigung bedurfte.
1.3 Der Beschwerdeführer argumentiert, ob er mit der Anwesenheit des amtlichen Verteidigers einverstanden gewesen sei oder sich lieber selbst habe verteidigen wollen, spiele überhaupt keine Rolle. Denn gemäss PEUKERT gehe die Aufgabe, die Verteidigungsrechte wahrzunehmen, grundsätzlich auf den Verteidiger über, wenn ein Wahl- oder Pflichtverteidiger bestellt ist (FROWEIN/PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 3. Auflage, N. 293 zu Art. 6 EMRK).
Die Besonderheit des Falles liegt darin, dass dem Beschwerdeführer im Rahmen der zweiten Strafuntersuchung ein amtlicher Verteidiger beigegeben worden war. Daraus kann er aber nicht ableiten, dass für die Untersuchung im dritten Verfahren eine notwendige Verteidigung hätte bestellt werden müssen. Vielmehr gilt das oben Gesagte (E. 1.2).
1.4 Der Beschwerdeführer bemängelt, obwohl er anlässlich der ersten Einvernahme angegeben habe, sein Verteidiger sei zu verständigen, habe man dies nicht gemacht.
Als der Beschwerdeführer weniger als vier Stunden nach der ersten Einvernahme auf den Beizug seines Verteidigers verzichtete (Sachverhalt, lit. A. Abs. 2), war dieser bereits von der Mitangeklagten und Freundin des Beschwerdeführers über dessen Verhaftung unterrichtet worden. Da dies der Untersuchungsbehörde bekannt war (der Verteidiger hatte sich inzwischen bei der Polizei gemeldet), erübrigte sich eine zweite Benachrichtigung. Soweit der Beschwerdeführer auch in diesem Zusammenhang rügt, sein Verteidiger hätte über die weiteren Verfahrensschritte orientiert bzw. zu den Befragungen aufgeboten werden müssen, genügt ein Hinweis auf Erwägung 1.2.
1.5 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe mehrfach ihre Begründungspflicht verletzt (Art. 29 Abs. 2 BV), indem sie auf seine Vorbringen kaum bzw. überhaupt nicht eingegangen sei. Sie nehme zum Vorwurf, das erweckte Vertrauen auf eine amtliche Verteidigung enttäuscht zu haben, nicht Stellung.
Bei sämtlichen Rügen setzt der Beschwerdeführer voraus, dass er bereits im Untersuchungsverfahren hätte notwendig verteidigt werden müssen. Da dies nicht der Fall war (E. 1.2), gehen seine Vorbringen an der Sache vorbei. Im Übrigen begründet die Vorinstanz ausreichend, dass im Untersuchungsverfahren kein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag (angefochtener Entscheid, S. 8 Ziff. 3.2 und 3.3).
Der Beschwerdeführer beanstandet ein widersprüchliches Verhalten der Behörde, indem sie den amtlichen Verteidiger ein zweites Mal dazu ernannte (Art. 9 BV, Willkürverbot). Auf die Rüge ist mangels Beschwer nicht einzutreten.
1.6 Auch im Zusammenhang mit der Rüge, vor der erstinstanzlichen Verhandlung habe der Verteidiger nur wenige Tage Zeit zur Vorbereitung gehabt, setzt der Beschwerdeführer erneut voraus, er hätte bereits im Untersuchungsverfahren notwendig verteidigt werden müssen.
Da er sich mit der vorinstanzlichen Begründung (angefochtener Entscheid S. 9 ff. Ziff. 4) nicht auseinandersetzt, ist auf seine Vorbringen nicht einzutreten.
2.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da seine Begehren von vornherein aussichtslos erschienen, ist das Gesuch abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Bei der Bemessung der Gerichtskosten ist jedoch seinen finanziellen Verhältnissen Rechnung zu tragen.
Demnach erkennt das Bundesgericht
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 4. Oktober 2011
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Mathys
Der Gerichtsschreiber: Borner