BGer 8C_583/2007
 
BGer 8C_583/2007 vom 10.06.2008
Tribunale federale
{T 0/2}
8C_583/2007
Urteil vom 10. Juni 2008
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Frésard,
Gerichtsschreiber Flückiger.
Parteien
L.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Ehrenzeller, Engelgasse 214, 9053 Teufen,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unfallversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 15. August 2007.
Sachverhalt:
A.
Der 1952 geborene L.________ war seit 1999 als Lastwagenchauffeur bei der N.________, angestellt und damit bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch unfallversichert. Am 25. Oktober 2004 kippte der vom Versicherten gelenkte Lastwagen beim Kiesverlad. Dabei zog sich L.________ gemäss Arztzeugnis UVG des am Folgetag aufgesuchten Dr. med. M.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 10. November 2004 eine Kontusion des Thorax, eine Fraktur der 10. Rippe links sowie eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) zu. Die SUVA liess am 31. März 2005 eine Untersuchung durch den Kreisarzt Dr. med. W.________ durchführen und veranlasste einen stationären Aufenthalt in der Rehaklinik, welcher vom 13. April bis 18. Mai 2005 dauerte (Austrittsbericht vom 24. Mai 2005). Mit Verfügung vom 27. Mai 2005 hielt die Anstalt fest, sie betrachte den Versicherten ab 30. Mai 2005 zu 50 % arbeitsfähig. Nachdem der Versicherte Einsprache erhoben hatte, holte die SUVA eine psychiatrische Beurteilung durch ihren versicherungspsychiatrischen Dienst, Dr. med. R.________, vom 29. Juni 2005 ein. Daraufhin wies sie die Einsprache mit Entscheid vom 26. Juli 2005 ab. Dieser erwuchs in Rechtskraft.
Nach einer erneuten kreisärztlichen Untersuchung bei Dr. med. W.________ vom 25. August 2005 sowie Beizug von Stellungnahmen der Psychiaterin Dr. med. F.________ vom 19. Oktober 2005 und 13. Januar 2006 stellte die SUVA ihre Leistungen mit Verfügung vom 13. Februar 2006 mit dem 16. Februar 2006 ein. Der Versicherte liess Einsprache erheben und Schreiben von Dr. med. M.________ vom 6. März 2006, von Dr. med. S.________, prakt. Arzt, vom 27. Februar 2006 sowie von Dr. med. F.________ vom 24. Februar 2006 einreichen. Die SUVA hielt mit Einspracheentscheid vom 16. Juni 2006 an ihrer Beurteilung fest.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen ab (Entscheid vom 15. August 2007). Im Verlauf des Rechtsmittelverfahrens wurden die folgenden ärztlichen Stellungnahmen eingereicht: Bericht Dr. med. F.________ vom 23. Juni 2006; Bericht Dr. med. E.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, beratender Arzt der Winterthur Versicherungen, vom 14. August 2006; Bericht des Instituts für Rechtsmedizin, vom 20. November 2006; Bericht Dr. med. T.________, Allgemeinmedizin FMH, vom 1. Dezember 2006; Schreiben Dr. med. F.________ an Dr. med. E.________ vom 8. Dezember 2006; Gutachten Dr. med. A.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, zuhanden der Winterthur Versicherungen vom 2. Juli 2007.
C.
L.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben "und die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen".
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
D.
Mit Zuschrift vom 28. Februar 2008 lässt der Beschwerdeführer ein der IV-Stelle des Kantons St. Gallen erstattetes Gutachten des Zentrums für Medizinische Begutachtung, Medizinische Abklärungsstelle der Eidg. Invalidenversicherung (MEDAS), vom 11. Dezember 2007 einreichen.
E.
Mit Urteil U 394/06 vom 19. Februar 2008 (BGE 134 V 109) hat das Bundesgericht die sog. Schleudertrauma-Praxis bei organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden präzisiert. Die Parteien hielten im Rahmen des ihnen zu dieser Präzisierung gewährten rechtlichen Gehörs an ihren Rechtsbegehren fest.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Leistungspflicht eines Unfallversicherers gemäss UVG setzt zunächst voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität der versicherten Person beeinträchtigt hat, der Unfall mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele (BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181, 402 E. 4.3.1 S. 406, 119 V 335 E. 1 S. 337, 118 V 286 E. 1b S. 289, je mit Hinweisen).
Ob zwischen einem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen Störung ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist eine Tatfrage, worüber die Verwaltung bzw. im Beschwerdefall das Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Die blosse Möglichkeit eines Zusammenhangs genügt für die Begründung eines Leistungsanspruches nicht (BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181, 119 V 335 E. 1 S. 338, 118 V 286 E. 1b S. 289, je mit Hinweisen).
1.2 Die Leistungspflicht des Unfallversicherers setzt im Weiteren voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden ein adäquater Kausalzusammenhang besteht. Nach der Rechtsprechung hat ein Ereignis dann als adäquate Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt dieses Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 129 V 177 E. 3.2 S. 181, 402 E. 2.2 S. 405, 125 V 456 E. 5a S. 461 mit Hinweisen).
1.3 Im Sozialversicherungsrecht spielt die Adäquanz als rechtliche Eingrenzung der sich aus dem natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des Unfallversicherers im Bereich klar ausgewiesener organischer Unfallfolgen praktisch keine Rolle (BGE 127 V 102 E. 5b/bb S. 103 mit Hinweisen). Zum adäquaten Kausalzusammenhang zwischen einem Unfallereignis und einer psychischen Fehlentwicklung hat die Rechtsprechung spezielle Regeln entwickelt (BGE 115 V 133). Eine besondere Ausgestaltung erfährt die Adäquanzprüfung auch bei Unfällen mit einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS), einem diesem äquivalenten Verletzungsmechanismus oder einem Schädel-Hirntrauma (BGE 134 V 109; 117 V 359 und 369; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 E. 2, U 183/93).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die SUVA für Folgen des Unfallereignisses vom 25. Oktober 2004 über den 16. Februar 2006 hinaus Leistungen zu erbringen hat.
2.1 SUVA und Vorinstanz haben in Bezug auf den hier zu beurteilenden Zeitraum das Vorliegen einer organisch (hinreichend) nachweisbaren Gesundheitsschädigung verneint. Diese Beurteilung ist mit der Aktenlage zu vereinbaren und lässt sich daher nicht beanstanden. Sie wird denn auch in der Beschwerdeschrift und den weiteren Eingaben des Beschwerdeführers nicht bestritten. Demgegenüber ist durch umfangreiche Abklärungen ausgewiesen, dass der Versicherte an psychischen Beschwerden leidet. Umstritten ist diesbezüglich die Adäquanz des Kausalzusammenhangs.
2.2 Zur Methode der Adäquanzbeurteilung hat die Vorinstanz erwogen, aufgrund des Unfallmechanismus erscheine als fraglich, ob nach dem Unfall überhaupt ein Schleudertrauma oder eine äquivalente Verletzung vorgelegen habe. Aber selbst wenn eine solche vorhanden gewesen wäre, sei festzustellen, dass die dafür typischen Beschwerden innerhalb der "Karenzfrist" von 72 Stunden nicht in der notwendigen Breite eingetreten seien. Regelmässig sei in den medizinischen Akten einzig von Nackenschmerzen die Rede. Ansonsten seien nur noch Schwindelbeschwerden, ein Augenflimmern oder Kopfschmerzen vermerkt, dies jedoch nur punktuell. Dieser Begründung für den Ausschluss der "Schleudertrauma-Praxis" kann zwar insofern nicht beigepflichtet werden, als innerhalb der Latenzzeit von 72 Stunden nicht das gesamte Beschwerdebild gegeben sein muss. Vielmehr genügt es, wenn innerhalb dieses Zeitraums Nacken- und/oder Kopfschmerzen aufgetreten sind (SVR 2007 UV Nr. 23 S. 75 E. 5, U 215/05). Auch diese Voraussetzung ist jedoch nicht erfüllt: Dr. med. M.________ führt zwar im Arztzeugnis UVG vom 10. November 2004 aus, der Patient klage auch über Schmerzen im Nacken. Wie aus dem Schreiben desselben Arztes vom 6. März 2006 (aus der Krankengeschichte entnommene Aussagen) hervorgeht, hatte der Versicherte die Nackenschmerzen am 10. November 2004, dem Tag der Ausstellung des Zeugnisses, erstmals erwähnt. Deren Auftreten innerhalb von 72 Stunden ist damit nicht dokumentiert. Weitere Abklärungen versprechen diesbezüglich keine weiteren Erkenntnisse. Da es sich um einen anspruchsbegründenden Sachverhalt handelt, wirkt sich die entsprechende Beweislosigkeit zu Lasten des Versicherten aus. Weil auch die Voraussetzungen für die Anwendung der "Schleudertrauma-Praxis" gemäss der präzisierten Rechtsprechung (BGE 134 V 109 E. 9.2 S. 123) nicht erfüllt sind, ist nicht näher zu prüfen, ob sich die Rechtslage in diesem Punkt allenfalls geändert haben könnte. Die Adäquanz des Kausalzusammenhangs ist, wie das kantonale Gericht im Ergebnis zutreffend erkannt hat, nach der Praxis zu den psychischen Fehlentwicklungen nach Unfall (BGE 115 V 133) zu prüfen.
3.
3.1 Über den Hergang des Unfalls vom 25. Oktober 2004 ist den Akten zu entnehmen, dass der Versicherte einen Lastwagen mit einer Ladung Sand zum Aufnahmesilo eines Baustoffbetriebs fuhr. Er musste rückwärts an den Silo heranfahren, um die Ladung nach hinten auszukippen. Der Lastwagen wurde durch Anheben der Ladefläche zum Auskippen vorbereitet. Offenbar noch vor dem Auslad brach jedoch links (nach den Angaben in der Beschwerdeschrift: rechts) hinten der Stabilisator. Der Lastwagen kippte deshalb zur Seite und schlug auf dem Boden auf. Der Versicherte wurde gegen die Seitenwand der Führerkabine und die Türe geschleudert. Er zog sich gemäss dem Arztzeugnis UVG vom 10. November 2004 eine Kontusion des Thorax, eine Fraktur der 10. Rippe links sowie eine Distorsion der HWS zu. Aufgrund des augenfälligen Geschehensablaufs und der einwirkenden Kräfte ist dieses Ereignis mit der Vorinstanz den mittelschweren Unfällen im Grenzbereich zu den leichten zuzuordnen. Eine Bejahung der Adäquanz des Kausalzusammenhangs setzt demzufolge voraus, dass die zu berücksichtigenden Kriterien (dazu BGE 115 V 133 E. 6c/aa S. 140) in gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sind (BGE 115 V 133 E. 6c/bb S. 141).
3.2 Wie SUVA und Vorinstanz mit Recht erkannt haben, liegen die relevanten Kriterien nicht in der für die Bejahung der Adäquanz erforderlichen Weise vor. Das geschilderte Unfallereignis weist weder eine besondere Eindrücklichkeit auf noch war es mit besonders dramatischen Begleitumständen verbunden. Die Schwere und Art der erlittenen Verletzungen (Thoraxkontusion, Fraktur der 10. Rippe, HWS-Distorsion) ist erfahrungsgemäss nicht in besonderer Weise geeignet, psychische Fehlentwicklungen auszulösen. Das Kriterium der ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung (dazu SVR 2007 UV Nr. 25 S. 81 E. 8.3, U 479/05) ist nicht erfüllt, denn die entsprechenden Bemühungen bezogen sich ab dem Austritt aus der Rehaklinik im Mai 2005 auf die psychiatrischen Aspekte. Ebenso wenig liegt eine ärztliche Fehlbehandlung vor, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hätte. Die geklagten Dauerschmerzen lassen sich nicht auf eine nachweisbare organische Ursache zurückführen, weshalb das Kriterium nicht gegeben ist. Ein schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen liegen ebenfalls nicht vor. Eine körperlich bedingte Arbeitsunfähigkeit ist für die Zeit bis 29. Mai 2005 im Umfang von 100 % ausgewiesen. Anschliessend bestand (aufgrund des rechtskräftigen Einspracheentscheids vom 26. Juli 2005) eine Arbeitsunfähigkeit von 50 %. Ab 1. September 2005 betrug die Arbeitsunfähigkeit gemäss dem Bericht des Kreisarztes Dr. med. W.________ vom 25. August 2005 aus Sicht des Bewegungsapparates 25 %, ab 1. Oktober 2005 0 %. Unter diesen Umständen ist das Kriterium der nach Grad und Dauer erheblichen physisch bedingten Arbeitsunfähigkeit nicht erfüllt (vgl. zum diesbezüglichen Massstab RKUV 2001 Nr. U 442 S. 544 f., U 56/00 E. 3d/aa).
4.
Nach dem Gesagten haben SUVA und Vorinstanz die Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis vom 25. Oktober 2004 und den über den 16. Februar 2006 hinaus anhaltenden Beschwerden zu Recht verneint. Die Beschwerde ist abzuweisen. Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer als der unterliegenden Partei aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 10. Juni 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Ursprung Flückiger