BGer 5C.78/2003
 
BGer 5C.78/2003 vom 25.08.2003
Tribunale federale
{T 0/2}
5C.78/2003 /min
Urteil vom 25. August 2003
II. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiberin Scholl.
Parteien
A.________,
Kläger und Berufungskläger, vertreten durch Fürsprech Friedrich Affolter, Seestrasse 2, Bahnhofplatz,
3700 Thun,
gegen
B.________,
Beklagte und Berufungsbeklagte, vertreten durch Fürsprecher Urs Matzinger, Bälliz 49, 3600 Thun.
Gegenstand
Obhutsentzug, Eheschutz,
Berufung gegen den Entscheid des Appellationshofs des Kantons Bern, 1. Zivilkammer, vom 18. Februar 2003.
Sachverhalt:
A.
Auf Grund einer Gefährdungsmeldung von Anfang Juli 2002 erliess die Sozialkommission Z.________ (Vormundschaftsbehörde) am 30. August 2002 an A.________ (Ehemann) und B.________ (Ehefrau) eine Weisung betreffend ihrer beiden Kinder C.________, geb. 1994, und D.________, geb. 1998. Am 21. August 2002 reichte B.________ beim Gerichtskreis XII Frutigen-Niedersimmental ein Eheschutzgesuch ein. Am 10. Oktober 2002 erliess die Sozialkommission Z.________ eine Verfügung, gemäss welcher die beiden Kinder vorläufig, bis zum definitiven Entscheid im Eheschutzverfahren, bei der Mutter in X.________ platziert wurden. Dem Vater wurde ein Besuchsrecht eingeräumt. Im Eheschutzverfahren stellte der zuständige Gerichtspräsident am 21. Oktober 2002 die Kinder vorläufig unter die Obhut der Mutter.
B.
Gegen die Verfügung der Sozialkommission gelangte A.________ an das Regierungsstatthalteramt Niedersimmental, welches das Verfahren (mit Ausnahme der Frage der unentgeltlichen Prozessführung) am 11. November 2002 als gegenstandslos abschrieb. Der Appellationshof des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Appellation von A.________ am 18. Februar 2003 ab, soweit er darauf eintrat.
C.
Mit Berufung beantragt A.________ dem Bundesgericht, der Entscheid des Appellationshofs sei aufzuheben und die Kinder C.________ und D.________ seien bis zum rechtskräftigen Entscheid im Eheschutzverfahren unter seine Obhut zu stellen. Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
B.________ schliesst in ihrer Berufungsantwort auf Abweisung der Berufung und stellt ebenfalls ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob auf eine Berufung einzutreten ist (BGE 129 III 288 E. 2.1 S. 290).
1.1 Nach Art. 44 Bst. d OG ist die Berufung gegen Anordnungen betreffend Entziehung der elterlichen Obhut grundsätzlich zulässig. Jedoch ist die Berufung in der Regel erst gegen Endentscheide gegeben (Art. 48 Abs. 1 OG). Im vorliegenden Fall hat die Vormundschaftsbehörde ausdrücklich eine bloss vorläufige Obhutsregelung getroffen, welche nur für die Zeit bis zum definitiven Entscheid im Eheschutzverfahren gelten solle. Im Hinblick darauf hat sie auch auf eine vollständige Sachverhaltsabklärung (insbesondere auf ein Gutachten) verzichtet. Die Verfügung stellt folglich einen Entscheid über vorsorgliche Massnahmen dar und gilt nicht als Endentscheid im Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG.
1.2 Damit ist die Frage zu prüfen, ob die Eingabe als staatsrechtliche Beschwerde behandelt werden könnte. Ein solches Vorgehen ist zulässig, wenn die Eintretensvoraussetzungen, insbesondere Form und Frist, des Beschwerdeverfahrens gewahrt sind (BGE 112 II 512 E. 2 S. 517; 120 II 270 E. 2 S. 272; 126 III 431 E. 3 S. 437). Die Berufungsschrift genügt den inhaltlichen Anforderungen an eine staatsrechtliche Beschwerde, wird doch ausdrücklich die Verletzung des Verbotes der materiellen Rechtsverweigerung gerügt. Zudem hat der Appellationshof letztinstanzlich entschieden (Art. 86 Abs. 1 OG) und die Frist wurde eingehalten (Art. 89 OG). Infolgedessen kann die Berufungsschrift entsprechend dem verfahrensrechtlichen Antrag des Klägers als staatsrechtliche Beschwerde entgegengenommen werden.
2.
Zu entscheiden ist im vorliegenden Fall einzig, ob die Verfügung der Vormundschaftsbehörde vom 10. Oktober 2002 anfechtbar ist oder ob dem Kläger (Beschwerdeführer) das Rechtsschutzinteresse dazu fehlt.
2.1 Zuständig für Kindesschutzmassnahmen sind die vormundschaftlichen Behörden (Art. 315 Abs. 1 ZGB), ausser der Richter habe nach den Bestimmungen über den Schutz der ehelichen Gemeinschaft die Beziehungen der Eltern zu den Kindern zu gestalten (Art. 315a Abs. 1 ZGB); im Sinne von Gegenausnahmen zur richterlichen Zuständigkeit bleibt aber jene der vormundschaftlichen Behörde vorbehalten, wenn das Kindesschutzverfahren vor dem gerichtlichen Verfahren eingeleitet wurde (Art. 315a Abs. 3 Ziff. 1 ZGB) oder wenn die zum Schutz des Kindes sofort notwendigen Massnahmen vom Gericht voraussichtlich nicht rechtzeitig getroffen werden können (Art. 315a Abs. 3 Ziff. 2 ZGB; BGE 125 III 401 E. 2b/aa S. 404). Bestehende Kindesschutzmassnahmen können vom Gericht den neuen Verhältnissen angepasst werden (Art. 315a Abs. 2 ZGB).
2.2 Der Appellationshof hat in seinem Entscheid festgehalten, das vormundschaftliche Kindesschutzverfahren sei vor dem gerichtlichen Eheschutzverfahren eingeleitet worden. Daraus hat er gefolgert, dass die Vormundschaftsbehörde - trotz des mittlerweilen hängigen Eheschutzverfahrens und dem eheschutzricherlichen Entscheid vom 21. Oktober 2002 - für Kindesschutzmassnahmen zuständig bleibe. Dieser Schluss des Appellationshofs wird von den Parteien nicht bestritten.
2.3 Weiter hat der Appellationshof erwogen, da die Verfügung der Vormundschaftsbehörde bzw. ein allfälliger Beschwerdeentscheid nur für eine kurze Zeit - nämlich bis zum definitiven Entscheid des Eheschutzrichters - Bestand habe, müsse dem Kläger das Rechtsschutzinteresse an dessen Anfechtung abgesprochen werden.
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden: Es liegt typischerweise in der Natur von vorsorglichen Massnahmen, dass diese nur für eine beschränkte Dauer Geltung haben und mit dem definitiven Entscheid in der Sache dahinfallen. Daraus abzuleiten, dass deswegen kein Interesse an deren Anfechtung besteht, ist unhaltbar. So lässt das Bundesgericht beispielsweise die staatsrechtliche Beschwerde gegen Massnahmeentscheide gerade deshalb zu, weil diese mit dem Endurteil wegfallen und somit eine spätere Kontrolle auf Verfassungsverletzungen nicht mehr möglich ist (BGE 116 Ia 446 E. 2 S. 447; 118 II 369 E. 1 S. 371; 127 I 92 E. 1c S. 94).
2.4 Der Appellationshof hat zudem ausgeführt, die materielle Behandlung der Beschwerde gegen die Verfügung der Vormundschaftsbehörde würde dazu führen, dass sich zwei Behörden (Regierungsstatthalter und Eheschutzrichter) mit der Klärung desselben Problems beschäftigen würden. Diese Erwägung ist, wie der Kläger zu Recht rügt, unzutreffend. Die Vormundschaftsbehörde hat ihre Verfügung ausdrücklich bis zum Vorliegen des definitiven Entscheids des Eheschutzrichters befristet, weil sie davon ausging, dass dieser eine eingehende Abklärung vornehmen werde. Gemäss angefochtenem Entscheid wird der definitive Entscheid des Eheschutzrichters dementsprechend auch erst nach Vorliegen eines Gutachtens erfolgen und der Appellationshof geht selber davon aus, dass dannzumal ein neuer Sachverhalt zu beurteilen sei. Damit überschneidet sich der zu erwartende Entscheid des Eheschutzrichters jedoch in keiner Weise mit der vormundschaftlichen Verfügung und beeinflusst insbesondere deren Anfechtbarkeit nicht. Die gegenteilige Annahme des Appellationshofs erweist sich als unhaltbar.
3.
Dementsprechend ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.
Bei diesem Verfahrensausgang wird die Beklagte grundsätzlich kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG). Beide Parteien haben ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt, dessen Voraussetzungen (Art. 152 OG) erfüllt sind, soweit das Gesuch des obsiegenden Klägers nicht ohnehin gegenstandslos geworden ist. Da beide Parteien offensichtlich nicht über ausreichende Mittel für die Bestreitung der Prozesskosten verfügen, ist der Rechtsbeistand des Klägers ohne Vorbehalt der Einbringlichkeit direkt aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen (Art. 152 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Berufung wird als staatsrechtliche Beschwerde entgegengenommen.
2.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Appellationshofs des Kantons Bern, 1. Zivilkammer, vom 18. Februar 2003 wird aufgehoben.
3.
3.1 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege des Klägers wird gutgeheissen, und Fürsprech Friedrich Affolter wird ihm als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben.
3.2 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege der Beklagten wird gutgeheissen, und Fürsprecher Urs Matzinger wird ihr als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben.
4.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beklagten auferlegt, einstweilen jedoch auf die Bundesgerichtskasse genommen.
5.
5.1 Fürsprech Friedrich Affolter wird aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.
5.2 Fürsprecher Urs Matzinger wird aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 400.-- ausgerichtet.
6.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationshof des Kantons Bern, 1. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 25. August 2003
Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: