BGer 4C.358/2002
 
BGer 4C.358/2002 vom 14.03.2003
Tribunale federale
{T 0/2}
4C.358/2002 /rnd
Urteil vom 14. März 2003
I. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichter Walter, Bundesrichterinnen Klett, Rottenberg Liatowitsch, Bundesrichter Nyffeler,
Gerichtsschreiberin Schoder.
Parteien
X.________ SA,
Beklagte und Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwalt Guérin de Werra, rue de Lausanne 27, Postfach 374, 1951 Sitten,
gegen
A.________,
Kläger und Berufungsbeklagten, vertreten durch Rechtsanwalt Renato Kronig, Kapuzinerstrasse 23, Postfach, 3900 Brig-Glis.
Gegenstand
Haftung des Luftfahrzeughalters bei Requisition; Passivlegitimation,
Berufung gegen das Urteil des Kantonsgerichts Wallis, Zivilgerichtshof I, vom 15. Oktober 2002.
Sachverhalt:
A.
Der Staatsrat des Kantons Wallis requirierte mit Verfügung vom 24. Februar 1999 Helikopter dortiger Fluggesellschaften, um auf die drohenden Lawinenkatastrophen vorbereitet zu sein. Die Einsatzzentrale befand sich auf dem Militärflugplatz Z.________, wobei das Kommando der Territorialbrigade V übertragen wurde. Die Ausführung des Staatsratsbeschlusses wurde der kantonalen Katastrophenzelle (KAZE) übertragen.
Die X.________ SA (Beklagte), eine im Fluggewerbe tätige Aktiengesellschaft, wurde vom zuständigen Offizier der Territorialbrigade V, angewiesen, am 28. Februar 1999 von 10h00 bis circa 14h30 einen Helikopter zur Erkundung der Lawinencouloirs bereitzustellen. Ein Angestellter der Beklagten pilotierte den Helikopter, während B.________ und C.________, Dienstchef bzw. Sektionschef bei der kantonalen Dienststelle für Strassen- und Flussbau, die Rekognoszierung durchführten.
Um circa 15h06 kollidierte der Helikopter mit den Seilen einer Seilbahn und stürzte ab. Die Seilbahn, die A.________ (Kläger) gehört und zu einem von diesem ausgebeuteten Steinbruch führt, wurde durch die Kollision beschädigt und konnte bis zur Ausführung der Reparaturarbeiten nicht mehr benutzt werden.
B.
Am 9. Februar 2001 beantragte der Kläger dem Bezirksgericht Visp, die Beklagte zur Zahlung von Fr. 311'317.-- zu verurteilen. Am 19. Februar 2002 überwies das Bezirksgericht die Akten dem Kantonsgericht des Kantons Wallis zur Ausfällung eines Vorurteils über die Passivlegitimation der Beklagten. Mit Urteil vom 15. Oktober 2002 stellte das Kantonsgericht fest, dass die Beklagte dem Kläger für den durch den Helikopterunfall verursachten Schaden haftet.
C.
Die Beklagte ficht das Urteil des Kantonsgerichts sowohl mit staatsrechtlicher Beschwerde als auch mit Berufung an. Mit Berufung beantragt sie, das angefochtene Urteil aufzuheben und festzustellen, dass die Beklagte nicht passivlegitimiert ist. Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Erhebt eine Partei gleichzeitig staatsrechtliche Beschwerde und Berufung, so ist in der Regel zuerst über die staatsrechtliche Beschwerde zu befinden, und der Entscheid über die Berufung wird ausgesetzt (Art. 57 Abs. 5 OG). Vom Grundsatz der Erstbehandlung der staatsrechtlichen Beschwerde ist dann abzuweichen, wenn die Berufung unabhängig vom Ausgang des Beschwerdeverfahrens gutzuheissen ist (BGE 122 I 81 E. 1 S. 82f.; 117 II 630 E. 1a S. 631; Poudret, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bd. II, N 5 zu Art. 57 OG). Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, rechtfertigt es sich hier, den Entscheid über die Berufung vorab zu behandeln.
2.
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen selbständigen Zwischenentscheid über die Vorfrage der Passivlegitimation. Nach Art. 50 Abs. 1 OG ist die Berufung dagegen ausnahmsweise zulässig, wenn dadurch sofort ein Endentscheid herbeigeführt und ein so bedeutender Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren erspart werden kann, dass die gesonderte Anrufung des Bundesgerichts gerechtfertigt erscheint. Wird im vorliegenden Fall die Berufung gutgeheissen, so ist die Klage gegen die Beklagte abzuweisen und entfällt das nach dem angefochtenen Urteil und nach der Natur des Falles weitläufige Beweisverfahren über die Schadenshöhe. Die Voraussetzungen von Art. 50 Abs. 1 OG sind somit erfüllt (vgl. BGE 127 III 433 E. 1c S. 436f.; 118 II 91 E. 1a S. 92).
3.
3.1 Die Vorinstanz ist der Auffassung, die Beklagte sei gestützt auf das Bundesgesetz über die Luftfahrt vom 21. Dezember 1948 (Luftfahrtgesetz, LFG; SR 748.0) für die dem Kläger entstandenen Schäden haftpflichtig. Die Beklagte macht geltend, dass zur Beurteilung der Haftungsfrage nicht das Luftfahrtgesetz, sondern das auf das Bundesgesetz über den Zivilschutz vom 17. Juni 1994 (Zivilschutzgesetz, ZSG; SR 520.1) und die Verordnung über die Requisition vom 9. Dezember 1996 (SR 519.7; nachfolgend: ReqV) gestützte kantonale Recht massgebend sei. Die Requisitionsverfügung des Walliser Staatsrats basiere auf Art. 15 des Gesetzes über die Organisation im Falle von Katastrophen und ausserordentlichen Lagen vom 2. Oktober 1991 (Systematische Gesetzessammlung des Kantons Wallis, SGS 501.1). Nach dessen Abs. 3 hafte für Schäden an Rechtsgütern von Drittpersonen im Falle einer Requisition anstelle des Eigentümers oder des Halters das requirierende Gemeinwesen.
3.2 Im vorliegenden Fall handelte es sich bei der Requisition des Helikopters um eine Massnahme des Zivilschutzes. Der Zivilschutz bezweckt den Schutz der Bevölkerung vor den Auswirkungen von Katastrophen und trägt zur Bewältigung solcher Ereignisse bei (Art. 2 Abs. 1 ZSG). Er übernimmt im Auftrag der Behörden Schutz und Betreuung der Bevölkerung im Wohn-, Arbeits- und Pflegebereich (Art. 3 lit. c ZSG) sowie Rettung und Hilfeleistung in Zusammenarbeit mit anderen dafür vorgesehenen Organisationen (Art. 3 lit. d ZSG).
Die Behörden des Zivilschutzes dürfen sich durch Requisition gegen angemessene Entschädigung bewegliche und unbewegliche Sachen beschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen und sich nicht auf andere Weise zu annehmbaren Bedingungen beschaffen können (Art. 1 Abs. 1 ReqV). Als Requisitionsgüter gelten auch Luftfahrzeuge (vgl. Art. 36 ReqV). Durch die Requisition geht das Verfügungsrecht über das Requisitionsgut an die requirierende Instanz über (Art. 3 Abs. 2 ReqV). Öffentlichrechtliche Rechte und Pflichten sowie mit privatrechtlichen Rechtsverhältnissen verbundene Rechte und Pflichten ruhen während der Dauer der Requisition (Art. 3 Abs. 3 ReqV). Gestützt auf das kantonale Recht dürfen die Kantone durch den Bund belegte Requisitionsgüter requirieren, sofern das Recht des Bundes auf Requisition nicht in Kraft ist (Art. 5 Abs. 2 ReqV). Für den Kanton Wallis ist das Recht zur Requisition in Art. 15 des Gesetzes über die Organisation im Falle von Katastrophen und ausserordentlichen Lagen geregelt.
Die Frage der Haftung für Drittschäden, die von Zivilschutzmassnahmen herrühren, bestimmt sich nach Art. 58 des Zivilschutzgesetzes. Nach dieser Bestimmung haftet kraft Bundesrecht ausschliesslich das Gemeinwesen, und zwar kausal (Art. 58 Abs. 1 und 3 ZSG). Der Mitarbeiter der Beklagten, der den Helikopter pilotierte, handelte im Rahmen der angeordneten Zivilschutzmassnahme. Sein Verhalten ist deshalb dem haftenden Gemeinwesen zuzurechnen. Art. 58 Abs. 6 ZSG, der andere Haftpflichtbestimmungen vorbehält, ändert an dieser Haftungsordnung nichts. Diese Bestimmung wurde in Anlehnung an das Bundesgesetz vom 3. Februar 1995 über die Armee und die Militärverwaltung (Militärgesetz, MG; SR 510.10) in das Zivilschutzgesetz aufgenommen, um die Haftungsordnungen einander inhaltlich anzupassen (vgl. Botschaft des Bundesrates zur Revision der Zivilschutzgesetzgebung vom 18. August 1993, BBl 1993 III 865 f.). Die analoge Bestimmung in Art. 135 Abs. 3 MG aber ist klar: "Bei Tatbeständen, die unter andere Haftungsbestimmungen fallen, richtet sich die Haftung des Bundes nach diesen Bestimmungen." Dass in Art. 58 Abs. 6 ZSG das Haftungssubjekt nicht ebenfalls ausdrücklich erwähnt ist, hat seinen Grund offensichtlich darin, dass es nicht in jedem Fall mit dem Bund identisch ist, sondern auch die Kantone und Gemeinden haftpflichtig sein können (vgl. Art. 58 Abs. 1 ZSG). Nach Sinn und Zweck und systematischem Zusammenhang aber lässt sich Art. 58 Abs. 6 ZSG nicht anders verstehen, als dass unter die vorbehaltenen anderen Haftpflichtbestimmungen nur das jeweils haftbare Gemeinwesen fällt.
Damit fällt die - private - Beklagte als Haftungssubjekt weg, und ist ihre Passivlegitimation zu verneinen.
4.
Im Übrigen wäre die Haltereigenschaft der Beklagten im Sinne von Art. 64 des Luftfahrtgesetzes zu verneinen. Diese beurteilt sich nach den für die Motorfahrzeughaftpflicht massgebenden Kriterien (Alfred Keller, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 6. Aufl., S. 271; Deschenaux/Tercier, La responsabilité civile, 2. Aufl., S. 178). Danach aber kommt es zur Begründung der Haltereigenschaft in erster Linie auf die Verfügungsgewalt über das Fahrzeug an (BGE 129 III 102 E. 2.3 S. 105 f.; 117 II 609 E. 3b S. 612; 101 II 133 E. 3 S. 136). Diese wird nicht dadurch aufgehoben, dass der gewöhnliche Halter das Fahrzeug für kurze Zeit freiwillig einem Dritten überlässt (BGE 70 II 179 E. 1 S. 180; 62 II 190; bestätigt in BGE 129 III 102 E. 2.3 S. 106). Wegen der fehlenden Freiwilligkeit musste daher die fortdauernde Halterschaft bei einem Diebstahl des Fahrzeugs ausdrücklich im Gesetz geregelt werden (vgl. Art. 75 Abs. 1 SVG).
Die Überlassung eines requirierten Fahrzeugs erfolgt indessen nicht freiwillig, sondern zwangsweise. Die für den kriegerischen oder katastrophenbedingten Einsatz requirierten Fahrzeuge gefährden oftmals Dritte in einem das normale Gefährdungspotential übersteigenden Mass. Es wäre daher nicht sachgerecht, den früheren Halter weiterhin haften zu lassen. Vielmehr erscheint es aus diesen Gründen gerechtfertigt, bei rechtmässig erlangter Verfügungsgewalt des Gemeinwesens auch die Haltereigenschaft auf das Gemeinwesen übergehen zu lassen. Die Haltereigenschaft des requirierenden Gemeinwesens ist denn auch allgemein anerkannt (vgl. Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, II/3, S. 480, N. 125; Remo A. Schürmann, Die Requisition als Institut des Völkerrechts sowie des schweizerischen Verwaltungsrechts, Diss. Zürich 1980, S. 104 unter Hinweis auf Willy Koenig, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3. Aufl., S. 521).
5.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Passivlegitimation der Beklagten zu verneinen ist. Demzufolge ist die Berufung gutzuheissen und die Klage in Anwendung von Art. 50 Abs. 1 OG abzuweisen. Dem Verfahrensausgang entsprechend ist der Kläger kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und und 159 Abs. 1 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
In Gutheissung der Berufung wird das Urteil des Kantonsgerichts Wallis, Zivilgerichtshof I, vom 15. Oktober 2002 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 6'000.-- wird dem Kläger auferlegt.
3.
Der Kläger hat die Beklagte für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 7'000.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Wallis, Zivilgerichtshof I, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, den 14. März 2003
Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: