BGE 140 V 220
 
30. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. AXA Versicherungen AG gegen Assura Kranken- und Unfallversicherung und Erben des I. sel. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
8C_494/2013 vom 22. April 2014
 
Regeste
Art. 6 Abs. 1 UVG; Art. 4 ATSG; Art. 37 Abs. 1 UVG; Art. 48 UVV; Leistungsanspruch bei Selbsttötung oder Selbstschädigung.
 
Sachverhalt


BGE 140 V 220 (221):

A.
A.a Der 1969 geborene I. war seit 1. August 2009 (...) beim Spital X. tätig und dadurch bei der AXA Versicherungen AG (nachfolgend: AXA) obligatorisch unfallversichert. Gemäss Bericht der Allgemeinchirurgie des Spitals Y. vom 11. Februar 2010 über den stationären Aufenthalt ab 1. Dezember 2009 bis 11. Februar 2010 war I. am 1. Dezember 2009 (...) auf die Notfallstation eingewiesen worden. Dort wurde eine massive akute Herzinsuffizienz festgestellt. Diagnostiziert wurde ein Status nach Multiorganversagen bei Mischintoxikation (...). Es folgten zahlreiche Eingriffe. (...) Am 14. Oktober 2011 ist I. gestorben.
A.b I. hatte der AXA am 4. Juli 2010 eine Schadenmeldung erstattet. Nach Abklärung der erwerblichen und medizinischen Verhältnisse, namentlich nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens (...) vom 22. Dezember 2010, verneinte die AXA mit Verfügung vom 28. Januar 2011 einen Anspruch auf Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung. Die dagegen von I. und von der Assura Kranken- und Unfallversicherung (nachfolgend: Assura) erhobenen Einsprachen wies die AXA mit Entscheid vom 11. April 2011 ab.
B. Mit Entscheid vom 9. April 2013 hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt die von I. und von der Assura dagegen erhobenen Beschwerden gut, hob den Einspracheentscheid vom 11. April 2011 auf und wies die Sache zur Prüfung und Festsetzung der gesetzlichen Leistungen an die Beschwerdebeklagte zurück.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die AXA die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids vom 9. April 2013 und die Bestätigung ihres Einspracheentscheids vom 11. April 2011. Zudem ersucht sie um Erteilung der aufschiebenden Wirkung.
Die Erben des I. sel. und die Assura schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.


BGE 140 V 220 (222):

D. Mit Verfügung vom 3. Oktober 2013 hat der Instruktionsrichter der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug)
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 3
3.3.1 Die Entstehungsgeschichte von Art. 37 Abs. 1 UVG zeigt, dass der Gesetzgeber nicht jeden Suizid oder Suizidversuch einem Unfall gleichsetzen wollte. Er stellte nur den im Zustand der vollständigen Urteilsunfähigkeit begangenen Suizid oder Suizidversuch begrifflich einem Unfallereignis gleich, lehnte es aber ab, aus sozialpolitischen Gründen für im "bewussten Zustand", d.h. in nicht vollständig unzurechnungsfähigem Zustand begangene Selbsttötungen oder Selbsttötungsversuche Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung zu statuieren (Botschaft vom 18. August 1976 zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung, BBl 1976 III 141, 198 zu Art. 37 UVG; AB 1979 N 252 f.; 1980 S 482, Voten Bundesrat Hürlimann und Abstimmung). Es entsprach somit der gesetzgeberischen Zielsetzung, dass alle nicht im Zustand vollständiger Urteilsunfähigkeit

BGE 140 V 220 (223):

ausgeführten Suizide und Suizidversuche unter den Ausschlusstatbestand der absichtlichen Selbstschädigung im Sinne von Art. 37 Abs. 1 UVG fallen sollten. Dieser gesetzgeberischen Wertentscheidung hat der Verordnungsgeber Rechnung getragen, indem er in Art. 48 UVV den Leistungsausschluss für absichtliche Selbsttötung oder Gesundheitsschädigung nur für jene Fälle aufhob, in denen "der Versicherte zur Zeit der Tat ohne sein Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln" (zum Ganzen vgl. BGE 129 V 95 E. 3.1 S. 98 f. mit Hinweisen auf Materialien; vgl. auch ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Die Leistungskürzung oder -verweigerung gemäss Art. 37-39 UVG, 1993, S. 51 ff. und 118 ff.).
(...)
5.1 Mit dem Kriterium der Plötzlichkeit wird - wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat - ein zeitlicher Rahmen gesteckt. Die schädigende Einwirkung muss zwar nicht auf einen blossen Augenblick beschränkt sein, jedoch innerhalb eines relativ kurzen, abgrenzbaren Zeitraums erfolgen. Die Rechtsprechung hat bisher keine zeitliche Maximaldauer festgelegt. Die Einwirkung muss plötzlich eingesetzt haben und eine einmalige gewesen sein (vgl. SVR 2009 UV Nr. 47 S. 166, 8C_234/2008 E. 6; SVR 2008 UV Nr. 5, U 32/07 E. 2.2; KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 13 ff. zu Art. 4 ATSG; RUMO-JUNGO/HOLZER, Bundesgesetz über die Unfallversicherung [UVG], 4. Aufl. 2012, S. 51; FRÉSARD/MOSER-SZELESS, L'assurance-accidents obligatoire, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 857 Rz. 59).
 


BGE 140 V 220 (224):

Erwägung 5.2
5.2.4 Der behandelnde Psychiater Dr. med. B., Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie FMH, hielt im Bericht vom 30. August 2010 fest, der Versicherte leide seit vielen Jahren an wiederkehrenden schweren depressiven Störungen. Er habe in den vergangenen Jahren immer wieder Episoden von Substanzmissbrauch erlitten, vorwiegend mit Benzodiazepinen und Alkohol, selten auch mit Betäubungsmitteln, wobei der Substanzmissbrauch als Selbstbehandlungsversuch zu verstehen sei, indem der Versicherte auf diese Weise immer wieder versucht habe, massiver innerer Verzweiflung zu entfliehen. Ende 2009 habe er sich offensichtlich in einer zunehmenden Depression mit Antriebsverlust, depressiven Verstimmungen und zunehmender Verzweiflung befunden. Ende November 2009 habe er nach zwei Jahren Abstinenz im Kontakt mit einem Kollegen ein Bier getrunken und sei daraufhin in massive Selbstvorwürfe gefallen. Er habe für eine Woche Ferien gebucht und sich gesagt, er gebe noch ein einziges Mal dem Bedürfnis nach Alkohol und Betäubungsmitteln nach. Gleichzeitig sei er in zunehmende Enttäuschung über sich geraten und in massive Verzweiflung mit Selbstanklage gestürzt. In diesem

BGE 140 V 220 (225):

psychischen Ausnahmezustand habe er erneut zu Alkohol, Benzodiazepinen und Heroin/Kokain, welches er sich impulshaft in einem Gassenzimmer besorgt habe, gegriffen.
5.2.5 Dr. med. S. hielt im psychiatrischen Gutachten vom 22. Dezember 2012 fest, von der Pubertät bis Ende Studium sei Cannabis das wichtigste Suchtmittel des Versicherten gewesen; danach habe er seriöser werden wollen. Er habe geraucht und Bier getrunken. 2003 habe er mit Rauchen aufgehört, jedoch immer mehr getrunken, drei bis vier Dosen, am Wochenende deutlich mehr, bis zu fünf Litern am Tag. Zusätzlich habe er auch Benzodiazepine, Valium, Rivotril und Temesta konsumiert, wobei Alkohol und Benzodiazepine ein unguter, stark betäubender Cocktail gewesen seien. Betreffend der Ereignisse im November/Dezember 2009 hielt Dr. med. S. gestützt auf die Angaben des Versicherten fest, er habe Mitte (recte: Ende) November 2009 in A. mit einem Unterassistenten ein Bier getrunken. Danach sei er in eine totale Missstimmung geraten, habe jegliche Freude und Motivation verloren und sich wieder total alkoholabhängig gefühlt. Er sei zur Überzeugung gelangt, alle Bemühungen seien umsonst gewesen und er würde es nie schaffen. Er habe sich traurig, ohnmächtig, leer und öde gefühlt und sich vor sich selber geekelt. Er sei nach C. zurückgekehrt und habe Bier geholt. An den weiteren Verlauf könne er sich nicht erinnern. Wie und wo er sich Heroin und Kokain beschafft habe, wisse er nicht. Die Aussage, er habe es von einem Gassenzimmer, sei lediglich eine Vermutung. Er könne auch nicht sagen, ob er sich habe umbringen oder einfach Ruhe haben wollen.
(...)
5.4.2 Soweit die Vorinstanz unter Hinweis auf KIESER (a.a.O., N. 13 zu Art. 4 ATSG) darlegt, in der Rechtsprechung würden engere

BGE 140 V 220 (226):

Bezüge zwischen dem Kriterium der Plötzlichkeit und demjenigen der Ungewöhnlichkeit in dem Sinne gemacht, dass es unerheblich sei, wie oft sich ein bestimmter Vorgang abgespielt habe und einzig entscheidend sei, ob zu einem bestimmten Vorkommnis etwas Besonderes hinzugetreten sei, das den äusseren Faktor des im jeweiligen Lebensbereich Alltäglichen oder Üblichen überschreite, ist dies zumindest missverständlich. Damit ein Unfallereignis bejaht werden kann, muss jedes der vier Kriterien einzeln erfüllt sei. Während die Häufigkeit eines bestimmten Vorgangs unter bestimmten Umständen das Kriterium der Ungewöhnlichkeit nicht von vornherein verunmöglicht, braucht es für das Kriterium der Plötzlichkeit in jedem Fall die unter E. 5.1 hievor umschriebenen Merkmale, namentlich eine einmalige Einwirkung innerhalb eines relativ kurzen abgrenzbaren Zeitraumes.