BGE 139 V 592
 
78. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. M. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
8C_541/2012 vom 31. Oktober 2013
 
Regeste
Art. 16 ATSG; Art. 18 Abs. 1 UVG; Bemessung des Invalideneinkommens gestützt auf Lohnangaben aus der Dokumentation von Arbeitsplätzen (DAP).
 
Sachverhalt


BGE 139 V 592 (592):

A. Die 1954 geborene M. war als Raumpflegerin der X. AG bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen versichert, als sie am 29. Juni 2002 beim Fensterputzen von einem Schemel rutschte und sich am rechten Fuss verletzte. Die SUVA anerkannte ihre Leistungspflicht für die Folgen dieses Ereignisses und erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Nach einem zunächst befriedigenden Heilungsverlauf liess die Versicherte der SUVA am 21. Februar 2006 einen Rückfall melden. Die SUVA anerkannte die Rückfallkausalität und erbrachte erneut Leistungen. Für die verbleibenden Folgen des Unfallereignisses sprach die Anstalt der Versicherten mit Verfügung vom 21. November 2009 und Einspracheentscheid vom 17. Mai 2011 eine Integritätsentschädigung aufgrund einer Einbusse von 15 % sowie ab 1. November 2009 eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 10 % zu.
B. Die von M. hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 14. Mai 2012 ab.


BGE 139 V 592 (593):

C. Mit Beschwerde beantragt M., es sei ihr unter Anpassung der Verfügung und Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 32 % und eine Integritätsentschädigung bei einer Einbusse von mindestens 35 % zuzusprechen. Zudem sei die SUVA zu verpflichten, "die gesamte DAP-Sammlung offen zu legen". Gleichzeitig stellt die Versicherte ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege.
Während die SUVA auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
D. In Ihrer Eingabe vom 8. Oktober 2012 hält M. an ihren Anträgen fest.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
2.3 Für die Festsetzung des Invalideneinkommens ist nach der Rechtsprechung primär von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person konkret steht. Übt sie nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und erscheint zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als Invalidenlohn. Ist kein solches tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen

BGE 139 V 592 (594):

gegeben, namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, so können nach der Rechtsprechung entweder Tabellenlöhne gemäss den vom Bundesamt für Statistik periodisch herausgegebenen Lohnstrukturerhebungen (LSE) oder die Zahlen der Dokumentation von Arbeitsplätzen (DAP) der SUVA herangezogen werden (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 mit Hinweisen).
(...)
6.1 Die DAP ist eine Sammlung von Beschreibungen in der Schweiz tatsächlich existierender Arbeitsplätze. Damit unterscheidet sie sich von der tabellarischen Darstellung von Durchschnittslöhnen, die im Rahmen der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) vom Bundesamt für Statistik regelmässig erhoben werden. Neben allgemeinen Angaben und Verdienstmöglichkeiten werden in der DAP die physischen Anforderungen an die Stelleninhaber oder Stelleninhaberinnen festgehalten. Der Raster der körperlichen Anforderungskriterien basiert auf dem internationalen medizinischen Standard EFL nach Isernhagen (ergonomische Funktions- und Leistungsprüfung). Vor Schaffung der DAP hatte die SUVA die mutmasslichen Verdienstverhältnisse von Invaliden aus der jährlichen "Lohn- und Gehaltserhebung" des damaligen Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA, heute SECO) abgeleitet, wobei das Eidgenössische Versicherungsgericht (heute: I. und II. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts) von den Zahlen der BIGA-Lohnstatistik je nach Beruf, Behinderung und weiteren allenfalls lohnwirksamen Faktoren des Einzelfalls Abzüge zwischen 10-35 % vorzunehmen begann, da die Statistik keine entsprechenden Differenzierungen enthielt. In der seit 1994 durchgeführten LSE werden personen- und arbeitsplatzbezogene Merkmale zwar erfasst, konnten aber von den Rechtsanwendenden im Rahmen der Invaliditätsbemessung nur schwer mit der erforderlichen statistischen Zuverlässigkeit auf den Einzelfall übertragen werden; dies führte in BGE 124 V 323 zur Weiterführung der Praxis zum Abzug von den Tabellenlöhnen und in BGE 126 V 77 zu deren Präzisierung. Die SUVA entschloss sich

BGE 139 V 592 (595):

deshalb 1995 zum Aufbau der DAP mit dem Zweck, das Invalideneinkommen entsprechend den gerichtlichen Anforderungen so konkret wie möglich ermitteln zu können (KLAUS KORRODI, SUVA-Tabellenlöhne zur Ermittlung des Invalideneinkommens, in: Rechtsfragen der Invalidität in der Sozialversicherung, 1999, S. 117-124; STEFAN A. DETTWILER, Suva "DAP"t nicht im Dunkeln - Invalidenlohnbemessung anhand konkreter Arbeitsplätze [DAP], SZS 2006 S. 6-15).
6.2 In BGE 129 V 472 wurden grundsätzliche Einwendungen gegen die Festsetzung des Invalideneinkommens aufgrund von DAP-Lohnangaben überprüft. Vorab wurde festgestellt, dass ein ungeregeltes Nebeneinander der Invaliditätsbemessung gestützt auf die DAP oder die LSE in dem Sinne, dass nach freiem Ermessen entweder die eine oder die andere Methode gewählt werden kann, nicht zu befriedigen vermag. Der einen Praxis grundsätzlich den Vorrang einzuräumen, erschien beim damaligen Stand der Dinge schwierig, da beide Methoden je aus ihrer Entstehung und Eigenart heraus Vor- und Nachteile aufweisen. Im Urteil 8C_790/2009 vom 27. Juli 2010 E. 4.3 erachtete es das Bundesgericht als wünschenswert, dass die SUVA einen Auszug aus der DAP-Datenbank zu den Akten nimmt, wenn sie das Invalideneinkommen aufgrund der LSE bestimmt, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, sie stelle im Hinblick auf ein gewünschtes Resultat auf die LSE und nicht auf die DAP-Profile ab (RUMO-JUNGO/HOLZER, Bundesgesetz über die Unfallversicherung, 4. Aufl. 2012, S. 137).
6.3 Gemäss dem erwähnten Grundsatzentscheid BGE 129 V 472 hat sich die Ermittlung des Invalideneinkommens auf mindestens fünf zumutbare Arbeitsplätze zu stützen. Zusätzlich sind Angaben zu machen über die Gesamtzahl der aufgrund der gegebenen Behinderung in Frage kommenden dokumentierten Arbeitsplätze, über den Höchst- und den Tiefstlohn sowie über den Durchschnittslohn der dem jeweils verwendeten Behinderungsprofil entsprechenden Gruppe. Damit soll die Überprüfung des Auswahlermessens ermöglicht werden, und zwar in dem Sinne, dass die Kenntnis der Gesamtzahl der dem verwendeten Behinderungsprofil entsprechenden Arbeitsplätze sowie des Höchst-, Tiefst- und Durchschnittslohnes im Bereich des Suchergebnisses eine zuverlässige Beurteilung der von der SUVA verwendeten DAP-Löhne hinsichtlich ihrer Repräsentativität erlaubt. Das rechtliche Gehör ist dadurch zu wahren, dass die SUVA die für die Invaliditätsbemessung im konkreten Fall

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herangezogenen DAP-Profile mit den erwähnten zusätzlichen Angaben auflegt und die versicherte Person Gelegenheit hat, sich dazu zu äussern. Allfällige Einwendungen der versicherten Person bezüglich des Auswahlermessens und der Repräsentativität der DAP-Blätter im Einzelfall sind grundsätzlich im Einspracheverfahren zu erheben, damit sich die SUVA im Einspracheentscheid damit auseinandersetzen kann. Ist die SUVA nicht in der Lage, im Einzelfall den erwähnten Anforderungen zu genügen, kann im Bestreitungsfall nicht auf den DAP-Lohnvergleich abgestellt werden; die SUVA hat diesfalls im Einspracheentscheid die Invalidität aufgrund der LSE-Löhne zu ermitteln. Im Beschwerdeverfahren ist es Sache des angerufenen Gerichts, die Rechtskonformität der DAP-Invaliditätsbemessung zu prüfen, gegebenenfalls die Sache an den Versicherer zurückzuweisen oder an Stelle des DAP-Lohnvergleichs einen Tabellenlohnvergleich gestützt auf die LSE vorzunehmen (BGE 129 V 472 E. 4.7.2 S. 480 f.).
7.1 Die DAP-Datenbank steht nur der SUVA, nicht aber den anderen zugelassenen Unfallversicherern im Sinne von Art. 58 UVG zur Verfügung. Die Beschwerdeführerin erblickt darin eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, zumal bei der Verwendung der DAP höhere Invalideneinkommen und damit tiefere Invaliditätsgrade resultieren würden. Es trifft zu, dass die Invaliditätsbemessung gestützt auf die DAP zu anderen Ergebnissen als eine solche auf Grundlage der LSE führen kann. Indessen kann nicht gesagt werden, die Verwendung der DAP führe bei korrekter Anwendung dieser Methode stets zu höheren Invalideneinkommen (vgl. beispielsweise Urteil 8C_123/2013 vom 5. September 2013 E. 4.2.3). Der Vorteil der DAP-Methode besteht darin, dass dem konkreten Einzelfall besser Rechnung getragen werden kann als mit der LSE-Methode und sie daher dem Ziel näherkommt, das Invalideneinkommen aufgrund der beruflich-erwerblichen Situation, in welcher die versicherte Person konkret steht, zu bestimmen. Als Vorteil kann auch gesehen werden, dass der Invalidenlohn allein anhand von Löhnen aus der Region der versicherten Person bestimmt wird und die Löhne auf dem tatsächlichen - und nicht auf dem ausgeglichenen - Arbeitsmarkt ausgerichtet werden. Dass die Methode lediglich bei Personen angewendet wird, welche bei der SUVA versichert

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sind - und auch bei diesen aufgrund ungenügender Profile nicht in jedem Fall -, ist bedauerlich, stellt indessen kein Hindernis dar, sie nicht wenigstens in jenen Fällen zu benutzen, in denen dies möglich ist.
7.3 Weiter erblickt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Rechtsgleichheitsgebots im Umstand, dass bei Anwendung der DAP- Methode - anders als bei Verwendung der LSE - keine Abzüge im Sinne von BGE 126 V 75 E. 5b/cc S. 80 vorgenommen werden. Rechtsprechungsgemäss sind indessen im Rahmen des DAP-Systems, bei welchem aufgrund der ärztlichen Zumutbarkeitsbeurteilung anhand von Arbeitsplatzbeschreibungen konkrete Verweisungstätigkeiten ermittelt werden, Abzüge grundsätzlich nicht sachgerecht. Abzüge sind nur vorzunehmen, wenn zeitliche oder leistungsmässige Reduktionen medizinisch begründet sind. Im Übrigen wird spezifischen Beeinträchtigungen in der Leistungsfähigkeit bei der Auswahl der zumutbaren DAP-Profile Rechnung getragen. Bezüglich der weiteren persönlichen und beruflichen Merkmale (Teilzeitarbeit, Alter, Anzahl Dienstjahre, Aufenthaltsstatus), die bei der Anwendung der LSE zu einem Abzug führen können, ist darauf hinzuweisen, dass auf den DAP-Blättern in der Regel nicht nur ein Durchschnittslohn, sondern ein Minimum und ein Maximum angegeben sind, innerhalb deren Spannbreite auf die konkreten Umstände Rücksicht genommen werden kann (BGE 129 V 472 E. 4.2.3 S. 482).
7.5 Die Versicherte erachtet es im Weiteren nicht als einsichtig, weshalb bei der DAP-Methode - anders als bei der LSE-Methode (vgl. BGE 135 V 297 E. 5.1 S. 301, BGE 135 V 58 E. 3.4.3 S. 61) - der Parallelität der Bemessungsfaktoren bei unterdurchschnittlichem Valideneinkommen keine Rechnung getragen werde. Diese Rüge ist unbegründet. Bei einer korrekten Anwendung der DAP-Methode werden bei unterdurchschnittlichem Valideneinkommen in der Regel ebenfalls unterdurchschnittliche DAP-Blätter ausgewählt (vgl. Urteil 8C_744/2011 vom 25. April 2012 E. 7.1 m.H. auf die Urteile 8C_445/2008 vom 1. Dezember 2008 E. 5.3.2 und 8C_413/2010 vom 26. August 2010 E. 7). Entsprechend wurde im vorliegenden Fall vorgegangen: So liegt der Durchschnitt der Löhne der ausgewählten DAP- Blätter unter jenem der Durchschnittslöhne der grundsätzlich in Frage kommenden Stellenprofile.
7.8 Die Beschwerdeführerin erblickt im Abstellen auf die DAP zufolge fehlender Veröffentlichung der gesamten Sammlung eine Gehörsverletzung und eine Verletzung von Treu und Glauben. In BGE 129 V 472 E. 4.2.2 wurde hiezu angeführt, dass das Recht auf Akteneinsicht und Aktenzugang auf jene Akten beschränkt ist, die Grundlage einer Entscheidung bilden. Es könne daraus keine Pflicht der

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Behörde zur umfassenden Veröffentlichung interner Dokumentationen abgeleitet werden. Um die Repräsentativität im Einzelfall zu gewährleisten, genügt nach der Rechtsprechung der Nachweis von fünf zumutbaren Arbeitsplätzen. Die entsprechenden DAP-Blätter müssen aufgelegt werden, sodass in diesem Rahmen das rechtliche Gehör gewahrt ist. Um die Repräsentativität der im Einzelfall ausgewählten DAP-Profile und der daraus abgeleiteten Lohnangaben überprüfen zu können, hat der Unfallversicherer zusätzlich Angaben zu machen über die Gesamtzahl der aufgrund der gegebenen Behinderung in Frage kommenden dokumentierten Arbeitsplätze, über den Höchst- und den Tiefstlohn sowie über den Durchschnittslohn der dem jeweils verwendeten Behinderungsprofil entsprechenden Gruppe (sog. "Durchschnitt der Durchschnittslöhne", vgl. DETTWILER, a.a.O., S. 11). Bezüglich der Gesamtheit aller den Abfragekriterien entsprechenden Arbeitsplatz-Profile besteht allerdings kein Einsichtsrecht. Da weder die versicherte Person noch die Gerichte auf die DAP- Datenbank Zugriff haben, wird in der jüngeren Literatur als zweifelhaft erachtet, ob damit im Gerichtsverfahren unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 EMRK möglich ist (RUMO-JUNGO/HOLZER, a.a.O., S. 136 mit Hinweis auf das Urteil des EGMR Yvon gegen Frankreich vom 24. April 2003, 44962/09, betreffend den einer Verfahrenspartei vorbehaltenen Zugriff auf das Grundbuch; vgl. auch DEECKE/HÜGEL, Bei der Suva "DAP"en Sie in die Falle!, HAVE 2012 S. 24 ff.). Indessen ist nicht erkennbar, welchen Vorteil die Versicherten aus der Kenntnis sämtlicher dokumentierter Arbeitsplätze gegenüber der geltenden Rechtslage hätten, denn das Auswahlermessen kann bereits anhand der Gesamtzahl sowie des Höchst-, Tiefst- und Durchschnittslohns der aufgrund der gegebenen Behinderung in Frage kommenden DAP-Blätter ausreichend überprüft werden. Insbesondere sind die versicherte Person und die Rechtsmittelinstanz in der Lage zu beurteilen, ob die SUVA bei der Auswahl den persönlichen und beruflichen Merkmalen der Person (vgl. E. 7.3) und einem allfälligen branchenunüblich tiefen Validenlohn (vgl. E. 7.5) angemessen Rechnung getragen hat. Die Frage des rechtlichen Gehörs braucht aber nicht abschliessend beantwortet zu werden, da sich vorliegend gestützt auf die LSE ohnehin kein höherer Invaliditätsgrad als gestützt auf die DAP ergibt (nicht publ. E. 8).