BGE 138 V 161
 
21. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Lloyd's, London, Zweigniederlassung Zürich, gegen H. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
8C_190/2011 vom 13. Februar 2012
 
Regeste
Art. 89 Abs. 1 und Art. 121 BGG; Art. 70 Abs. 2 UVG; Beschwerdelegitimation; Legitimation zur Einreichung eines Revisionsgesuches.
 
Sachverhalt


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A. H., geboren 1949, war ab 1. September 1999 als Aushilfe beim Hotel C. angestellt und in dieser Eigenschaft bei der Hotela, Kranken- und Unfallkasse des Schweizer Hoteliervereins (nachfolgend: Hotela), für Heilbehandlungen und Taggelder und bei der Lloyd's, London, Zweigniederlassung Zürich (nachfolgend: Lloyd's), für die langfristigen Leistungen nach Unfällen versichert. Nach einem ersten Unfall vom 20. Mai 1998 war H. am 7. Dezember 1999 erneut an einem Auffahrunfall beteiligt. Am 19. Juni 2000 wurde sie von einem Auto angefahren. Die Hotela bezahlte die Heilbehandlungen und (bis 31. März 2005) Taggelder im Ausmass der jeweiligen Arbeitsunfähigkeit von 100 resp. 50 %. Mit Verfügung vom 13. September 2005 stellte die Hotela ihre Leistungen mangels rechtsgenüglichem natürlichem Kausalzusammenhang rückwirkend per 19. September 2000 ein und vermerkte, sie werde der Lloyd's, welche für die langfristigen Leistungen zuständig sei, eine Kopie dieser Verfügung

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zustellen. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 10. April 2006 fest. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Entscheid vom 25. Oktober 2007 gut und wies die Sache an die Hotela zur Festsetzung der Leistungen ab 19. September 2000 zurück. Mit Schreiben vom 3. Dezember 2007 teilte die Hotela dem Rechtsvertreter von H. mit, sie werde keine Beschwerde gegen diesen Entscheid erheben und habe das Dossier bereits der Lloyd's zugestellt; eine Kopie dieses Schreibens ging an die Lloyd's.
Die Lloyd's holte ein biomechanisches Gutachten vom 4. November 2008 sowie eine technische Unfallanalyse vom 9. Oktober 2008 ein und verneinte mit Verfügung vom 15. Dezember 2009, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 22. März 2010, den Anspruch auf weitere Leistungen mangels Kausalzusammenhang zwischen den nach dem 1. April 2005 noch geklagten Beschwerden und dem Unfall vom 7. Dezember 1999. Dabei stellte sich die Lloyd's auf den Standpunkt, das Verwaltungsgericht habe mit Entscheid vom 25. Oktober 2007 nur den Kausalzusammenhang für die Zeit bis zur Leistungseinstellung durch die Hotela geprüft, nicht aber für den Zeitraum nach dem 1. April 2005.
B. Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher H. eine Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung beantragen liess, hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Entscheid vom 27. Januar 2011 insofern gut, als es den Einspracheentscheid vom 22. März 2010 aufhob und feststellte, die Lloyd's habe ab 1. April 2005 für das in Frage stehende Beschwerdebild die entsprechenden Dauerleistungen zu erbringen; die Sache werde zur Festsetzung dieser Leistungen im Sinne der Erwägungen an die Lloyd's zurückgewiesen.
C. Die Lloyd's lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben; eventualiter sei die Angelegenheit an die Lloyd's zurückzuweisen, damit sie im Sinne der Erwägungen über den Leistungsanspruch neu verfüge.
Die Vorinstanz und H. schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
D. Das BAG stellte dem Bundesgericht am 22. Dezember 2011 die Vereinbarung über die Zusammenarbeit der Hotela und der Lloyd's zu.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 


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Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
Bezüglich der Beschwerdegegnerin ist die Hotela zuständig für die Erbringung der kurzfristigen Leistungen wie etwa Taggeld und Heilbehandlung und die Lloyd's für die Erbringung der sogenannt langfristigen oder Dauerleistungen (Invalidenrente, Integritätsentschädigung etc.). Zu diesem Zweck haben die Hotela und die Lloyd's eine Vereinbarung abgeschlossen (Vereinbarung vom 21./30. September 1987 mit Nachtrag vom 12. Februar resp. 12./19. August 1988), welche dem (damals zuständigen) Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) unterbreitet wurde.
Nach Ziff. 2 dieser Vereinbarung schliesst die Hotela Verträge gemäss UVG ab und versichert die kurzfristigen Leistungen; die Lloyd's ist Versicherer der langfristigen Leistungen für die von der Hotela getätigten Versicherungsverträge. Der direkte Verkehr mit den Versicherten obliegt der Hotela, welche auch die Versicherungsverträge abschliesst (Ziff. 4). Sie meldet der Lloyd's die abgeschlossenen Verträge. Wird die Lloyd's voraussichtlich leistungspflichtig, stellt die Hotela ihr nebst der Unfallmeldung auch die übrigen Schadensakten, einschliesslich der medizinischen Unterlagen, zu (Ziff. 6). Die Behandlung der Schadensfälle betreffend die langfristigen Leistungen erfolgt durch die Lloyd's (Ziff. 8.1); Abklärungen, welche sowohl die kurz- wie die langfristigen Leistungen betreffen, werden durch die Hotela angeordnet und der Lloyd's zur Verfügung gestellt (Ziff. 8.1). Die Lloyd's erlässt die Verfügungen bezüglich der von ihr zu erbringenden Leistungen (Ziff. 8.3).
In diesem Zusammenhang ist anzufügen, dass die Hotellerie vor Erlass des UVG bereits im Rahmen ihres Gesamtarbeitsvertrages ein Versicherungsobligatorium vorgesehen und die Hotela zur

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Durchführung dieses Obligatoriums für Verbandsangehörige eine Zusammenarbeit mit der Lloyd's vereinbart hatte (Protokoll der Sitzung vom 2. November 1979 der ständerätlichen Kommission, S. 8).
2.2 Nach Art. 68 Abs. 1 UVG sind nebst der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA; Art. 66 UVG) die privaten, dem Versicherungsaufsichtsgesetz unterstehenden Versicherungsunternehmen (lit. a), die öffentlichen Unfallversicherungskassen (lit. b) und die zugelassenen Krankenkassen (lit. c) mit der Durchführung des Obligatoriums beauftragt, wobei Letztere nur die sogenannt kurzfristigen Leistungen versichern dürfen und für die langfristigen Leistungen die Zusammenarbeit mit einem Versicherer im Sinne von Art. 68 Abs. 1 lit. a und b UVG vereinbaren müssen (Art. 70 Abs. 2 UVG). Mit dieser Anknüpfung an die bestehende Struktur sollte den Arbeitgebern resp. den Krankenkassen ermöglicht werden, die bisherigen Versicherungsverhältnisse weiterzuführen (vgl. dazu etwa AB 1979 N 154 Votum Zbinden sowie AB 1979 N 262 Votum Zbinden und Votum Augsburger [beide in Zusammenhang mit Art. 58 UVG]).
2.3 Bereits in seiner Botschaft vom 18. August 1976 hielt der Bundesrat fest, dass die Durchführung des Versicherungsobligatoriums durch eine Krankenkasse in Zusammenarbeit mit einem anderen Versicherer nach Art. 68 UVG keine Nachteile für die versicherte Person bewirken dürfe (BBl 1976 III 141, 211 Ziff. 405.13). Auch wurde im Rahmen der parlamentarischen Beratungen betont, dass mit dem UVG eine einheitliche Verfahrensordnung für alle Versicherten beabsichtigt ist (vgl. etwa AB 1980 S 467 Votum Andermatt); dies bringt ebenfalls zum Ausdruck, dass die Erfüllung des Versicherungsobligatoriums mittels einer Konstellation nach Art. 70 Abs. 2 UVG zu keinen Erschwernissen oder anderen verfahrensrechtlichen Vorgehensweisen führen darf, als wenn der versicherten Person einzig die SUVA oder ein Versicherer nach Art. 68 Abs. 1 lit. a oder b UVG gegenübersteht.
2.4 Grundsätzlich darf die Durchführung der obligatorischen Unfallversicherung durch zwei Versicherer im Sinne von Art. 70 Abs. 2 UVG daher der versicherten Person keine Nachteile bringen, auch keine verfahrensrechtlichen (vgl. E. 2.3). Es ist somit davon auszugehen, dass für die versicherte Person die Schadenserledigung durch die beiden Versicherer nach Art. 70 Abs. 2 UVG nicht anders ablaufen darf, als wenn etwa zwei Abteilungen desselben Versicherers dafür zuständig sind. So betont bereits der Bundesrat in seiner Botschaft, dass die Zusammenarbeit im Sinne von Art. 70 Abs. 2 UVG

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eine enge zu sein hat (BBl 1976 III 141, 211 Ziff. 405.13). Das bedeutet aber auch, dass eine allenfalls nicht optimal funktionierende Art der Zusammenarbeit nicht zu Lasten der versicherten Person geht, sondern diese sowie deren Konsequenzen eine intern zu regelnde Angelegenheit der beiden beteiligten Versicherer sind.
Die Vereinbarung zwischen der Hotela und der Lloyd's erkennt die Problematik, dass die Kausalitätsbeurteilung für kurz- und langfristige Leistungen grundsätzlich gleich erfolgt und daher das Verhalten der Hotela Einfluss auf die Leistungspflicht der Lloyd's haben kann (vgl. etwa Ziff. 8.1 zweiter Absatz). Dennoch geht sie von einer getrennten Zuständigkeit zum Erlass von Verfügungen aus. Für die Frage, ob sich die Lloyd's die Handlungen der Hotela anrechnen lassen muss (vgl. E. 1), ist jedoch nicht entscheidend, wie die beiden Versicherer ihre Kompetenzen im Innenverhältnis abgrenzen. Entscheidend ist vielmehr, wie sie im Aussenverhältnis gegenüber der versicherten Person auftreten. Wie dargelegt (E. 2.1) schliesst einzig die Hotela einen Versicherungsvertrag mit den Arbeitgebern ab und verkehrt mit den Versicherten. Das heisst, im Aussenverhältnis tritt die Hotela in Vertretung der Lloyd's auf. Die Lloyd's tritt erst selber in eigenem Namen auf, wenn es um die Feststellung ihrer eigenen Leistungspflicht geht und sie die diesbezügliche Verfügung erlässt. Daraus folgt, dass die gerichtliche Beurteilung einer Frage, welche gleichermassen für die Leistungspflicht der Hotela wie für jene der Lloyd's von Bedeutung ist, auch für die Lloyd's verbindlich ist, wenn gegenüber der Hotela entschieden wurde. Bei der Kausalität handelt es sich um eine solche Frage.
2.5.1 Nach Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten legitimiert, wer am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat (lit. a), durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist (lit. b) und ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. c). Diese Voraussetzungen werden durch den verfügenden Versicherer erfüllt, sofern er vor der Vorinstanz mit seinen Anträgen ganz oder

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teilweise unterlegen ist. Hingegen genügt der andere Versicherer im Sinne von Art. 70 Abs. 2 UVG diesen Anforderungen nicht; es mangelt ihm an der Teilnahme am vorinstanzlichen Verfahren. Daran ändert auch die Ergänzung in lit. a nichts, dass zudem beschwerdelegitimiert ist, wer keine Möglichkeit zur Teilnahme am vorinstanzlichen Verfahren hatte. Dabei geht es um jene Fälle, in welchen eine betroffene Person auf Grund eines Fehlers der Behörde gar nicht die Möglichkeit gehabt hatte, sich im vorinstanzlichen Verfahren zu konstituieren (vgl. HANSJÖRG SEILER, in: Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2007, N. 13 zu Art. 89 BGG); diese Alternative ist somit nicht auf die Konstellation von Art. 70 Abs. 2 UVG anwendbar, bei welcher es um zwei Versicherer geht, welche in Wahrnehmung staatlicher Kompetenzen (und damit als "Behörden") handeln. Zudem ist damit die Teilnahme im Sinne der Parteistellung gemeint (vgl. BERNHARD WALDMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 9 zu Art. 89 BGG); unter Berücksichtigung der Vereinbarung zwischen der Hotela und der Lloyd's kann dies stets nur eine der beiden Versicherungen sein, da jede ihre Verfahren selbst führt (vgl. Ziff. 8.3). In jenen Situationen, in welchen der Fallabschluss im Sinne der Einstellung der kurzfristigen Leistungen durch den dafür zuständigen Versicherer von der Vorinstanz bestätigt, aber zusätzlich die Ausrichtung von langfristigen Leistungen angeordnet wurde, fragt sich, ob der ursprünglich verfügende Versicherer überhaupt ein schutzwürdiges Interesse (Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG) hat, da er selbst in dieser Konstellation keine Leistungen mehr zu erbringen hat. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass dieser Versicherer im Sinne der Zusammenarbeit nach Treu und Glauben auch die Interessen seines Partners zu wahren hat, andernfalls er sich mit allfälligen Regressansprüchen konfrontiert sieht. Darüber hinaus hat er seine Rechte auch im Hinblick auf eine später mögliche Leistungspflicht infolge eines Rückfalls oder Spätschadens zu wahren. Insofern hat auch der verfügende Versicherer eine Beschwer und ein schutzwürdiges Interesse daran, einen Entscheid, welchen seinen Vertragspartner zu weiteren Leistungen verpflichtet, anzufechten.
2.5.2 Die Bestimmungen über die Revision (Art. 121 ff. BGG) äussern sich nicht explizit zu den einzelnen Voraussetzungen zur Einreichung dieses (ausserordentlichen) Rechtsmittels. In den Materialien und der Literatur wird einhellig festgehalten, dass sich gegenüber den bisherigen Bestimmungen in Art. 136 ff. OG (BS 3 531) nichts Wesentliches geändert habe (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur

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Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4202, 4352 und 4354 Ziff. 4.1.6.1; vgl. auch NICOLAS VON WERDT, in: Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2007, N. 2 zu Art. 121 BGG; PIERRE FERRARI, in: Commentaire de la LTF, 2009, N. 1 zu Art. 121 BGG; ELISABETH ESCHER, Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 3 zu Art. 121 BGG; ebenso bereits Bericht der Expertenkommission für die Totalrevision der Bundesrechtspflege, 1997, S. 99). Grundsätzlich verlangt ist die Teilnahme am vorausgegangenen Verfahren als Partei; allenfalls genügt es, wenn die um Revision ersuchende Partei Rechtsnachfolger der ursprünglichen Partei ist (vgl. ELISABETH ESCHER, in: Prozessieren vor Bundesgericht, Geiser/Münch/Uhlmann/Gelzer [Hrsg.], 3. Aufl. 2011, Ziff. 8.7; PIERMARCO ZEN-RUFFINEN, Le réexamen et la révision des décisions administratives, in: Quelques actions en annulation, Bohnet [Hrsg.], 2007, S. 255 Rz. 143; VON WERDT, a.a.O., N. 8 zu Art. 121 BGG). Mit anderen Worten knüpft die Legitimation zum Revisionsgesuch an die Voraussetzungen der Beschwerdelegitimation an resp. ist mit dieser identisch (vgl. explizit JEAN-FRANÇOIS POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bd. V, 1992, N. 4 zu Titre VII mit Verweis auf PHILIPPE SCHWEIZER, Le recours en revision, 1985, S. 97). Deshalb kann auch nur jener Versicherer nach Art. 70 Abs. 2 UVG um Revision ersuchen, welcher im vorausgegangenen Verfahren beteiligt und damit der ursprünglich verfügende Versicherer war.