BGE 137 V 121
 
17. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen Familienausgleichskasse des Vereins für Sozialversicherungsfragen von öffentlichen Institutionen des Kantons Bern (FAK ÖKB) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
8C_713/2010 vom 23. März 2011
 
Regeste
Art. 13 Abs. 1 FamZG; Art. 10 FamZV.
 
Sachverhalt


BGE 137 V 121 (122):

A. S., geboren 1974, bezog im Anschluss an ihren Mutterschaftsurlaub zusätzlich vom 30. September 2009 bis 6. Februar 2010 unbezahlten Urlaub. Mit Verfügung vom 5. Januar 2010, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 19. Februar 2010, lehnte die Familienausgleichskasse des Vereins für Sozialversicherungsfragen von öffentlichen Institutionen des Kantons Bern (FAK ÖKB) für die Zeit von 1. Oktober 2009 bis 6. Februar 2010 einen Anspruch auf Familienzulagen ab.
B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 3. August 2010 ab.
C. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zum Erlass einer neuen Verfügung im Sinne der Erwägungen zurückzuweisen.
Die FAK ÖKB schliesst auf Abweisung der Beschwerde. S. verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
(...)
 
Erwägung 4


    BGE 137 V 121 (123):

    "Die als Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer in der AHV obligatorisch versicherten Personen, die von einem diesem Gesetz unterstellten Arbeitgeber beschäftigt werden, haben Anspruch auf Familienzulagen. Die Leistungen richten sich nach der Familienzulagenordnung des Kantons gemäss Artikel 12 Absatz 2. Der Anspruch entsteht und erlischt mit dem Lohnanspruch. Der Bundesrat regelt den Anspruch nach dem Erlöschen des Lohnanspruchs."
Dieser Absatz regelt somit den Anspruch auf Familienzulagen in persönlicher (Satz 1), sachlicher (Satz 2) und zeitlicher Hinsicht (Satz 3).
    "1Ist der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin aus einem der in Artikel 324a Absätze 1 und 3 des Obligationenrechts (OR) genannten Gründe an der Arbeitsleistung verhindert, so werden die Familienzulagen nach Eintritt der Arbeitsverhinderung noch während des laufenden Monats und der drei darauf folgenden Monate ausgerichtet, auch wenn der gesetzliche Lohnanspruch erloschen ist.
    2Der Anspruch auf Familienzulagen bleibt auch ohne gesetzlichen Lohnanspruch bestehen:
    a. während eines Mutterschaftsurlaubs von höchstens 16 Wochen;
    b. während eines Jugendurlaubs gemäss Artikel 329e Absatz 1 OR.
    3 Stirbt der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin, so werden die Familienzulagen noch während des laufenden Monats und der drei darauf folgenden Monate ausgerichtet."
 
Erwägung 5
5.1 Art. 13 Abs. 1 FamZG lässt sich keine Regelung des Anspruchs auf Familienzulagen für jene Fälle entnehmen, in welchen der

BGE 137 V 121 (124):

Lohnanspruch erloschen ist. Diese Aufgabe wurde vielmehr dem Bundesrat übertragen. Auch in den Materialien ist kein Anhaltspunkt ersichtlich, wonach der Gesetzgeber in Art. 13 FamZG einen Anspruch auf Familienzulagen bei vorübergehend fehlendem Lohnanspruch statuieren wollte. So gaben die genauere Bestimmung von Beginn und Ende des Anspruchs auf Familienzulagen und die Delegation zur Regelung dieser Sache an den Bundesrat in den Räten keinen Anlass zu einlässlichen Bemerkungen; umstritten war einzig der Einbezug der Selbstständigerwerbenden (vgl. AB 2005 N 330, 1572 ff. und 2006 N 246 sowie AB 2005 S 719 f. und 2006 S 99). Art. 13 Abs. 1 FamZG ist somit keine Grundlage für Rz. 519.1 FamZWL.
Bei der Bestimmung dieses Anspruchs hat der Bundesrat an spezifische Tatbestände angeknüpft. Vom Wortlaut her fällt der ohne einen solchen Tatbestand bezogene unbezahlte Urlaub nicht darunter. Diese spezifischen Tatbestände in Art. 10 FamZV beziehen sich auf Arbeitsverhinderungs- und Urlaubsgründe des Arbeitsrechts (Art. 324a Abs. 1 und 3 sowie Art. 329e Abs. 1 OR) sowie auf den Tod des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin (Art. 338 OR) und den Bezug von Mutterschaftsurlaub; diese Tatbestände sind - mit Ausnahme von Art. 329e OR (Urlaub für ausserschulische Jugendarbeit) - mit einer Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers bzw. im Falle des Mutterschaftsurlaubs mit Lohnersatzleistungen gemäss dem Bundesgesetz vom 25. September 1952 über den Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (Erwerbsersatzgesetz, EOG; SR 834.1) verbunden. Art. 10 FamZV dehnt die Anspruchsberechtigung gegenüber der Lohn(ersatz)zahlungspflicht in zeitlicher Hinsicht aus und vereinheitlicht sie für die einzelnen Tatbestände; es lässt sich ihm jedoch kein Anspruch auf Familienzulagen bei einem nicht spezifisch begründeten Urlaub ohne Lohn(ersatz)- zahlungspflicht entnehmen. Auch aus den Erläuterungen zur Familienzulagenverordnung ergibt sich nichts, das für eine Ausdehnung der Anspruchsberechtigung sprechen würde (vgl. Erläuterungen des BSV vom Oktober 2007 zur Verordnung über die Familienzulagen vom 31. Oktober 2007 [Familienzulagenverordnung, FamZV] und

BGE 137 V 121 (125):

zu den Änderungen der Verordnung vom 11. November 1952 über die Familienzulagen in der Landwirtschaft [FLV], S. 8 f. http://www.news.admin.ch/message/index.html-lang=de&msg-id=15365). Eine sachliche Ausdehnung auf unspezifisch begründeten Urlaub war vom Verordnungsgeber somit offensichtlich nicht geplant.
5.3 Das Gebot der rechtsgleichen Behandlung (Art. 8 Abs. 1 BV) ist verletzt, wenn ein Erlass hinsichtlich einer entscheidwesentlichen Tatsache rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder wenn er Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen, wenn also Gleiches nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich oder Ungleiches nicht nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird. Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen ersichtlich ist, kann zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet werden, je nach den herrschenden Anschauungen und Verhältnissen. Dem Gesetzgeber bleibt im Rahmen dieser Grundsätze und des Willkürverbots ein weiter Gestaltungsspielraum (BGE 136 I 1 E. 4.1 S. 5; BGE 135 V 361 E. 5.4.1 S. 369; BGE 134 I 23 E. 9.1 S. 42 mit Hinweisen).
Das Gebot der rechtsgleichen Behandlung (Art. 8 Abs. 1 BV) gebietet keine Auslegung im Sinne der Gleichbehandlung des nicht spezifisch begründeten unbezahlten Urlaubs mit den anspruchsberechtigenden Tatbeständen. Denn angesichts der fehlenden Lohn(ersatz)zahlungspflicht beim nicht spezifisch begründeten unbezahlten Urlaub ist gerade ein sachlicher Grund gegeben, um diesen anders zu behandeln als die in Art. 10 FamZV geregelten Tatbestände, bei welchen der Arbeitnehmerin oder dem Arbeitnehmer ein Lohn(ersatz) auch während des Aussetzens der Arbeit ausgerichtet wird.


BGE 137 V 121 (126):

Daran ändern auch die vom BSV für die Ausdehnung der Anspruchsberechtigung auf den unbezahlten Urlaub geltend gemachten Gründe (Gleichstellung der trotz andauerndem Arbeitsverhältnis nur einen Teil des Jahres erwerbstätigen Arbeitnehmenden mit regelmässig in einem kleinen Pensum tätigen Arbeitnehmenden; Vermeidung von Anspruchslücken; Vermeidung von administrativem Mehraufwand) nichts. Denn das BSV hat sich als Aufsichtsbehörde an die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen zu halten.