BGE 135 V 94
 
13. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen GastroSocial Ausgleichskasse (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
8C_449/2008 vom 16. Dezember 2008
 
Regeste
Art. 59 AsylG; Art. 24 Ziff. 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge; Art. 1 Abs. 5 des bernischen Gesetzes vom 5. März 1961 über Kinderzulagen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; kantonale Familienzulagen.
 
Sachverhalt


BGE 135 V 94 (95):

A. A., geboren 1972, stammt aus der Volksrepublik China. Er reiste am 29. September 2002 in die Schweiz ein und ersuchte um Asyl. Am 11. April 2006 zog das Bundesamt für Migration (BFM) seine Verfügung vom 30. Juni 2004 in Wiedererwägung und nahm A. als Flüchtling vorläufig auf. A. war vom 1. November 2005 bis 31. März 2007 als Mitarbeiter im Restaurant K. angestellt. Am 4. Dezember 2006 bewilligte das BFM seiner Ehefrau und seinen beiden Söhnen (geboren 1997 und 2000) die Einreise in die Schweiz zwecks Familienvereinigung. Diese erfolgte am 19. Januar 2007. Mit Verfügung vom 5. November 2007 lehnte die GastroSocial Ausgleichskasse seinen Anspruch auf Kinderzulagen für die Zeit vom 1. November 2005 bis 18. Januar 2007 ab, sprach ihm hingegen vom 19. Januar bis 31. März 2007 Kinderzulagen zu.
B. Mit Entscheid vom 23. April 2008 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die hiegegen erhobene Beschwerde ab.
C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Ausgleichskasse sei zu verpflichten, ihm die Kinderzulagen auch für die Zeit vom 1. November 2005 bis 18. Januar 2007 zuzüglich Verzugszins auszurichten. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das BFM beantragt die teilweise Gutheissung der Beschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
 
Aus den Erwägungen:
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit a BGG). Soweit sich der angefochtene Entscheid auf Quellen des kantonalen Rechts stützt, welche nicht in Art. 95 lit. c-e BGG genannt werden, beschränkt sich die Überprüfung durch das Bundesgericht demgegenüber thematisch auf die erhobenen und begründeten Rügen (Art. 106 Abs. 2 BGG) und inhaltlich auf die Frage, ob die Anwendung des kantonalen Rechts zu einer Bundesrechtswidrigkeit führt. Im Vordergrund steht dabei eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte, insbesondere des Willkürverbots nach Art. 9 BV. Was die Feststellung des Sachverhalts anbelangt, kann gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG nur gerügt werden, diese sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung nach Art. 95 BGG (BGE 133 I 201 E. 1 S. 203 mit Hinweisen).


BGE 135 V 94 (96):

2. Die Vorinstanz bestätigte die Ablehnung des Anspruchs auf Kinderzulagen durch die Ausgleichskasse, da der Beschwerdeführer als Staatsbürger der Volksrepublik China nach Art. 1 Abs. 5 des kantonalen Gesetzes vom 5. März 1961 über Kinderzulagen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (KZG; BSG 832.71) nur dann Anspruch auf Kinderzulagen habe, wenn er mit seinen Kindern in der Schweiz wohne oder sich auf ein Sozialversicherungsabkommen berufen könne. Art. 84 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG; SR 142.31) stelle keine Anspruchsgrundlage dar, sondern regle lediglich die Auszahlungsmodalitäten resp. die Fälligkeit; ob ein Anspruch bestehe, richte sich aber nach kantonalem Recht.
Vor Bundesgericht beruft sich der Beschwerdeführer nicht mehr auf Art. 84 AsylG. Er rügt hingegen, die Ausgleichskasse hätte ihm angesichts seiner Rechtsstellung als anerkannter Flüchtling Kinderzulagen wie einem schweizerischen oder privilegierten ausländischen Arbeitnehmer zusprechen müssen und die kantonale Regelung missachte das verfassungsmässige Gebot der Rechtsgleichheit sowie Völkerrecht, indem sie die besondere Rechtsstellung der Flüchtlinge nicht berücksichtige.
3. Art. 59 AsylG besagt, dass Personen, denen die Schweiz Asyl gewährt hat oder die als Flüchtlinge vorläufig aufgenommen wurden, gegenüber allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtlinge im Sinne des Asylgesetzes sowie des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention; SR 0.142.30) gelten. Gemäss Art. 24 Ziff. 1 der Flüchtlingskonvention gewähren die vertragsschliessenden Staaten den auf ihrem Gebiet rechtmässig sich aufhaltenden Flüchtlingen die gleiche Behandlung wie Einheimischen mit Bezug u.a. auf die Entlöhnung mit Einschluss der Familienzulagen, die Bestandteil des Lohnes sind (lit. a), und auf die soziale Sicherheit, einschliesslich der gesetzlichen Bestimmungen über Familienlasten, sofern diese Leistungen nicht ausschliesslich aus öffentlichen Mitteln vorgesehen sind (lit. b). Nach der Rechtsprechung kommt eine Person erst dann in den vollen Genuss der erweiterten Konventionsrechte, wenn der Staat nach Massgabe seines nationalen Rechts sie als Flüchtling anerkannt hat; zu diesen Konventionsrechten gehören namentlich die Ausgestaltung der Fürsorge, der sozialen Sicherheit und der Arbeitsgesetzgebung nach Art. 23 und 24 der Flüchtlingskonvention (Entscheid des Eidg. Justiz- und Polizeidepartementes vom

BGE 135 V 94 (97):

19. November 1998 E. 11, in: VPB 63/1999 Nr. 3 S. 34 mit Hinweisen).
4. Der Beschwerdeführer ist vorläufig aufgenommener Flüchtling und hat deshalb gegenüber allen kantonalen und Bundesbehörden dieselbe Rechtsstellung wie eine Person mit Schweizer Bürgerrecht (Art. 59 AsylG). Diese Gleichstellung gilt kraft internationalem Recht ausdrücklich auch für den hier strittigen Bereich der Familienzulagen (Art. 24 Ziff. 1 lit. a Flüchtlingskonvention; vgl. etwa zum Bereich der Krankenversicherung RKUV 2005 S. 25, K 22/04 und zum Bereich der Arbeitslosenversicherung ARV 1981 S. 53, C 162/79). Allerdings gilt sie nicht rückwirkend auf den Tag der Einreise in die Schweiz oder den Tag der Erfüllung des Flüchtlingsbegriffs, sondern erst mit der Anerkennung als Flüchtling durch die Behörden. Dies bedeutet, dass der Beschwerdeführer von den eidgenössischen und kantonalen Behörden seit Erlass der Verfügung vom 11. April 2006 wie eine Person mit Schweizer Bürgerrecht zu behandeln ist und auch dieselben Ansprüche wie eine Person mit Schweizer Bürgerrecht hat. Abs. 5 von Art. 1 KZG ist somit auf ihn nicht anwendbar, und es ist unzulässig, wenn Verwaltung und Vorinstanz ihm für die Zeit vom 11. April 2006 bis 18. Januar 2007 Kinderzulagen absprechen, weil er eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzt. Demnach sind die Verfügung vom 5. November 2007 sowie der kantonale Entscheid vom 23. April 2008 aufzuheben und die Sache ist an die Ausgleichskasse zurückzuweisen, damit sie den Anspruch des Beschwerdeführers auf Kinderzulagen ab 11. April 2006 prüfe, wie wenn dieser das Schweizer Bürgerrecht besitzen würde.