BGE 132 V 113
 
13. Auszug aus dem Urteil i.S. H. gegen Ausgleichskasse Luzern und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
 
P 1/05 vom 11. Januar 2006
 
Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG; Art. 22 Abs. 4 ELV: Drittauszahlung nachträglich zugesprochener Ergänzungsleistungen an die Sozialhilfebehörde.
 
Mit Bezug auf die in Art. 22 Abs. 4 ELV enthaltene Formulierung "im Hinblick auf Ergänzungsleistungen" gilt die zu den vergleichbaren Wendungen in Art. 50 Abs. 2 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) und Art. 85bis IVV ergangene Rechtsprechung (BGE 131 V 246 ff. Erw. 5) analog. (Erw. 3.2.2)
 
Art. 3 Abs. 1 ELG; Art. 22 Abs. 4 ELV: Drittauszahlung nachträglich gemäss ELG vergüteter Krankheitskosten.
 
Es verstösst nicht gegen das Gebot der sachlichen Kongruenz, wenn die Drittauszahlung von nachträglich gemäss ELG vergüteten Krankheitskosten nicht in einer separaten Krankheitskostenverfügung, sondern im Rahmen einer Verfügung betreffend Nachzahlung jährlicher Ergänzungsleistungen angeordnet wird. (Erw. 3.2.4)
 


BGE 132 V 113 (115):

Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 3
 
Erwägung 3.2
3.2.1 Vor In-Kraft-Treten des ATSG stützte sich die verrechnungsweise Drittauszahlung von Nachzahlungen von Ergänzungsleistungen an die Sozialhilfebehörde auf den am 1. Januar 1990 in Kraft getretenen Art. 22 Abs. 4 ELV, mit welchem der Bundesrat aufgrund der Delegationsnorm des Art. 3 Abs. 6 ELG (in Kraft gestanden bis 31. Dezember 1997) eine besondere und abschliessende Regelung über die Nachzahlung von Ergänzungsleistungen erlassen hat (BGE 123 V 119 Erw. 5a). Gemäss dieser Bestimmung kann einer privaten oder öffentlichen Fürsorgestelle, die "einer Person im Hinblick auf Ergänzungsleistungen Vorschussleistungen für den Lebensunterhalt während einer Zeitspanne gewährt (hat), für die rückwirkend Ergänzungsleistungen ausgerichtet

BGE 132 V 113 (116):

werden, (...) dieser Vorschuss bei der Nachzahlung direkt vergütet werden". Diese Norm enthält eine ausdrückliche materielle Grundlage zur Koordination von Ergänzungsleistungen mit Leistungen der öffentlichen Sozialhilfe, wobei Ziel dieser koordinationsrechtlichen Ordnung primär die Vermeidung eines Doppelbezugs von Leistungen zu Lasten des gleichen Gemeinwesens ist (BGE 121 V 24 f. Erw. 4c/aa). Nach der Rechtsprechung (BGE 123 V 118 ff.) bildet Art. 22 Abs. 4 ELV eine genügende gesetzliche Grundlage für direkte Drittauszahlungen von nachträglich zugesprochenen Ergänzungsleistungen an vorschussleistende Sozialhilfeinstitutionen/-behörden. Hat eine Sozialhilfebehörde in dem von der Nachzahlung betroffenen Zeitraum "im Hinblick auf Ergänzungsleistungen Vorschussleistungen für den Lebensunterhalt" erbracht, hat sie mithin unmittelbar kraft Art. 22 Abs. 4 ELV ein Rückforderungsrecht, und die Zustimmung des Ergänzungsleistungsberechtigten zur verrechnungsweisen Drittauszahlung ist nicht erforderlich (ERWIN CARIGIET, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, Supplement, Zürich 2000, S. 52 mit Anm. 97; vgl. BGE 123 V 120 Erw. 5a in fine).
3.2.2 Hinsichtlich des in Art. 22 Abs. 4 ELV genannten Erfordernisses "im Hinblick auf Ergänzungsleistungen" hat das Eidgenössische Versicherungsgericht im unveröffentlichten Urteil B. vom 23. Februar 1999 (P 64/97) präzisiert, dass der Wortlaut allein hier nicht massgeblich sein kann. Vielmehr erheischen gemäss erwähntem Urteil die übrigen normunmittelbaren Auslegungskriterien ebenso wie der verfassungsrechtliche Gleichheitsgrundsatz eine Anwendung der in Art. 22 Abs. 4 ELV vorgesehenen Rechtsfolge immer dann, wenn die versicherte Person in derjenigen Zeit, da sie nachträglich in den Genuss von Ergänzungsleistungen gelangt, Sozialhilfeleistungen bezogen hat. Diese Rechtsprechung findet indirekt eine Bestätigung in einem am 5. August 2005 ergangenen Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (BGE 131 V 242), welches die Auslegung von Art. 50 Abs. 2 IVG (in der von 1. Januar 1997 bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Fassung) und Art. 85bis IVV (sowohl in der von 1. Januar 1994 bis 31. Dezember 1998 sowie in der ab 1. Januar 1999 geltenden Fassung) betrifft. Darin entschied das Gericht, dass das im Bereich der Invalidenversicherung - analog zu Art. 22 Abs. 4 ELV - geltende Erfordernis, wonach Rentennachzahlungen nur dann mit Vorschussleistungen der Sozialhilfebehörde (sowie der übrigen in Art. 85bis IVV genannten Stellen) verrechnet und an Letztere ausbezahlt werden dürfen,

BGE 132 V 113 (117):

wenn die Sozialhilfeleistungen "im Hinblick auf die Leistung der Invalidenversicherung" (Art. 50 Abs. 2 IVG) bzw. "im Hinblick auf eine Rente der Invalidenversicherung" (Art. 85bis IVV) erbracht wurden, nicht verlangt, dass die Sozialhilfegelder in subjektiver Kenntnis eines bei der Invalidenversicherung gestellten oder noch zu stellenden Leistungsbegehrens ausgerichtet wurden; für die Leistungskoordination zwischen Sozialhilfe und Invalidenversicherung kann es gemäss erwähntem Urteil nur darauf ankommen, dass objektiv für den gleichen Zeitraum Sozialhilfe- und Invalidenversicherungsleistungen fliessen (zeitliche Kongruenz; mit Bezug auf Ergänzungsleistungen vgl. BGE 121 V 25 Erw. 4c/aa) und - nebst der Erfüllung der weiteren, spezifischen Voraussetzungen der Drittauszahlung gemäss Art. 85bis IVV (insb. Bestehen eines "eindeutigen Rückforderungsrechts" der Sozialhilfebehörden bei fehlender Abtretungserklärung; vgl. Art. 85bis Abs. 2 lit. b IVV) - auch die sachliche Kongruenz der miteinander indirekt zu verrechnenden Leistungen gegeben ist; Letztere wird dadurch gewahrt, dass die Drittauszahlung höchstens im Betrag der bevorschussten Sozialhilfeleistungen erfolgen darf (vgl. Art. 85bis Abs. 3 IVV). Ein wörtliches Verständnis des Passus "im Hinblick auf ..." würde ein Einfallstor bieten für Zufälligkeiten, welche je nachdem die Drittauszahlung erlauben oder ihr entgegenstehen, was dem verfassungsmässigen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 8 Abs. 1 BV) zuwider liefe (zum Ganzen BGE 131 V 246 ff. Erw. 5 mit Hinweisen).
Diese Erwägungen zu der in Art. 50 Abs. 2 IVG und Art. 85bis IVV enthaltenen Formulierung "im Hinblick auf..." gelten - wie im erwähnten Urteil B. vom 23. Februar 1999 (P 64/97) vorgezeichnet - grundsätzlich gleichermassen für die entsprechende Wendung in Art. 22 Abs. 4 ELV (vgl. - mit Bezug auf den hier zu beurteilenden Fall - im Übrigen auch § 37 Abs. 3 des Sozialhilfegesetzes des Kantons Luzern vom 24. Oktober 1989, SRL 892).
3.2.3 Die Möglichkeit der Drittauszahlung rückwirkend zugesprochener Ergänzungsleistungen an die Sozialhilfebehörde erstreckt sich gemäss Art. 22 Abs. 4 ELV auf die von dieser erbrachten Vorschussleistungen "für den Lebensunterhalt". Darunter sind nicht nur periodische (Geld-) Leistungen der Sozialhilfe zur Deckung der laufenden Lebenskosten zu verstehen, sondern grundsätzlich sämtliche von der Sozialhilfebehörde in dem vom Ergänzungsleistungs-Nachzahlungsanspruch erfassten Zeitraum ausgerichteten,

BGE 132 V 113 (118):

wirtschaftlichen Unterstützungsleistungen zu subsumieren, d.h. auch einmalige, sozialhilfeseitig übernommene Krankheits- und Behinderungskosten (in diesem Sinne auch Rz 5005 der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherung über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [WEL] in der seit 1. Januar 2002 gültigen Fassung). Das Gebot der sachlichen Kongruenz der indirekt zu verrechnenden Leistungen (vgl. Erw. 3.2.2 hievor; siehe ferner KIESER, ATSG-Kommentar, N 16 f. zu Art. 22) steht dem nicht entgegen: Die Deckung der laufenden Lebenshaltungskosten ebenso wie die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten sollen die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlichen Existenzmittel sicherstellen. Dieser Leistungszweck wird von den - nach dem Grundsatz der Subsidiarität vorrangig zu erbringenden - Ergänzungsleistungen mit umfasst. Die subsidiäre Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers besteht, wenn und soweit die leistungsansprechende Person für ihre elementare Versorgung "nicht hinreichend oder nicht rechtzeitig" (vgl. Art. 2 des Bundesgesetzes über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger [ZUG], SR 851.1) aus eigenen Mitteln, einschliesslich Leistungsverpflichtungen Dritter (z.B: Sozialversicherungen), aufkommen kann (vgl. statt vieler FELIX WOLFFERS, Grundriss des Sozialhilferechts, 2. Aufl., Bern 1999, S. 71 ff.). Vor diesem Hintergrund sind die zeitlich mit nachträglich zugesprochenen Sozialversicherungsleistungen zusammenfallenden wirtschaftlichen Unterstützungen der Sozialhilfe grundsätzlich stets als "Vorschussleistungen" im Sinne des Art. 22 Abs. 4 ELV zu qualifizieren und damit vom Drittauszahlungsanspruch der Sozialhilfebehörde erfasst (vgl. auch - mit Bezug auf Art. 22 ATSG [siehe Erw. 3.3 hernach] - KIESER, a.a.O., N 23 [Abs. 1] zu Art. 22).
3.2.4 Mit Blick auf den übergeordneten koordinationsrechtlichen Zweck der Drittauszahlung sowie das gemeinsame Leistungsziel von Sozialhilfe- und Ergänzungsleistungs-Zahlungen, den nach der jeweiligen ratio legis bemessenen Existenzbedarf sicherzustellen, verstösst es ferner nicht gegen das Gebot der sachlichen Kongruenz, wenn die Drittauszahlung von nachträglich gemäss ELG vergüteten Krankheitskosten - wie hier - nicht in einer entsprechenden Krankheitskostenverfügung (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. b ELG), sondern im Rahmen einer Verfügung betreffend Nachzahlung jährlicher Ergänzungsleistungen gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG angeordnet wird. Die Unterscheidung von jährlichen, in der Regel monatlich ausbezahlten Ergänzungsleistungen einerseits und spezifischen,

BGE 132 V 113 (119):

rechtstechnisch den Sachleistungen zuzuordnenden (vgl. auch Art. 14 ATSG und Art. 3 Abs. 2 ELG [Letzterer in Kraft seit 1. Januar 2003]) Krankheitskostenvergütungen andererseits (Art. 3 Abs. 1 lit. b ELG) hat allein praktische Gründe (Auszahlungsmodus; vgl. Bundesrätliche Botschaft über die 3. Revision des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [3. EL-Revision] vom 20. November 1996, BBl 1997 I 1197 ff. hier: 1211, mit Hinweis auf ZAK 1988 S. 41 f. Erw. 1a und ZAK 1992 S. 440 f. Erw. 2d). Wird darüber separat verfügt, ändert dies nichts daran, dass beide Leistungs"bestandteile" sachlich auf denselben - seinerseits durch die sozialhilfeseitig bevorschussten Lebenshaltungs-, Krankheits- und Behinderungskosten abgedeckten (Erw. 3.2.1 hievor) - Zweck ausgerichtet sind.
 
Erwägung 3.3
3.3.2 Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG hat den Verordnungsgeber zu keiner Änderung von Art. 22 Abs. 4 ELV (wie von Art. 85bis IVV auch) veranlasst. Es sind denn auch weder dem - im Rahmen der Gesetzesauslegung in erster Linie massgebenden (vgl. BGE 129 II 118 Erw. 3.1, BGE 129 V 103 Erw. 3.2, je mit Hinweisen) - Wortlaut von Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG noch den Materialien substantielle Hinweise dafür zu entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der neuen Bestimmung von der im Bereich der Ergänzungsleistungen bisher geltenden Ordnung der Drittauszahlung abweichen wollte. Im Gegenteil ist aus den Materialien zu schliessen, dass mit Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG eine Verallgemeinerung der bis anhin in der Invalidenversicherung und im Ergänzungsleistungsbereich geltenden Rechtslage und eine "Lockerung des Abtretungsverbots" angestrebt wurde (vgl. Parlamentarische Initiative. Allgemeiner Teil Sozialversicherung [85.227], Bericht der Kommission des Ständerates vom 27.

BGE 132 V 113 (120):

September 1990, BBl 1991 II 185 ff., hier: 268; Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht, Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit [SGK-NR] vom 26. März 1999 [85.227], BBl 1999 4523 ff., hier: 4572; Amtl. Bull. 1999 N 1241; Amtl. Bull. 2000 S 179; vgl. auch KIESER, a.a.O., N 21, 30 f., 37 zu Art. 22); letztgenannter Punkt hat im Bereich der Ergänzungsleistungen darin seinen Niederschlag gefunden, dass mit Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG - über den Wortlaut von Art. 22 Abs. 4 ELV hinaus - nunmehr auch die Möglichkeit der Drittauszahlung an einen Vorschusszahlungen leistenden Arbeitgeber besteht.
3.3.3 Der im Bericht der SGK-NR vom 26. März 1999 enthaltene Passus, wonach Art. 22 Abs. 2 ATSG (= Art. 29 Abs. 2 des Entwurfs) die Abtretung von Nachzahlungen an Fürsorgeinstitutionen nur zulasse, "wenn diese Vorschussleistungen erbringen, weil der Versicherungsfall noch nicht erledigt ist", und die direkte Drittauszahlung nur zulässig sei, "wenn eine Abtretungserklärung vorliegt" (BBl 1999 4572), legt keine andere Schlussfolgerung nahe. Die in der erstgenannten Aussage sinngemäss vertretene Auffassung der SGK-NR, "Vorschussleistungen" gemäss Art. 22 Abs. 2 ATSG könnten, gleichsam wesensgemäss, nur für bei der Sozialversicherung "bereits angemeldete", indessen noch nicht erledigte Fälle erbracht werden (vgl. BBl 1999 4572), wird durch den Wortlaut der Bestimmung nicht gestützt und vermag weder die unter Erw. 3.2.2 dargelegte Rechtsprechung noch die Erwägungen unter Erw. 3.2.3. zum Begriff der "Vorschussleistungen" von Sozialhilfebehörden in Frage zu stellen. Sodann formuliert die Aussage der SGK-NR zum Erfordernis der Abtretungserklärung einen Grundsatz, von dem nach den Ausführungen der Kommission vor wie nach In-Kraft-Treten des ATSG Abweichungen zulässig sind: Drittauszahlungen nach Art. 22 Abs. 2 ATSG setzen zwar grundsätzlich eine formelle Abtretungserklärung (Art. 164 ff. OR) voraus; von diesem Erfordernis kann aber - wie im Kommissionsbericht mit Bezug auf Art. 10 MVG (vgl. dazu JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung vom 19. Juni 1992, Bern 2000, N 10 ff. zu Art. 10) konkret verdeutlicht und bisheriger Rechtslage entsprechend - auch unter Herrschaft des ATSG ausnahmsweise abgewichen werden. Wie bis anhin bedarf es keiner Abtretungserklärung der versicherten Person, wenn dem Drittauszahlungsempfänger unmittelbar kraft Gesetz - so etwa aus

BGE 132 V 113 (121):

Art. 10 Abs. 2 MVG oder aus dem entsprechenden (vgl. MAESCHI, a.a.O., N 11 in fine zu Art. 10) Art. 22 Abs. 4 ELV - oder sonst ein normativ eindeutig festgelegtes Rückforderungsrecht zusteht (gleiche Schlussfolgerung KIESER, a.a.O., N 31 zu Art. 22; vgl. Art. 85bis Abs. 2 lit. b IVV und dazu BGE 118 V 88 ff. sowie Erw. 3.2.2 hievor).