BGE 130 V 121
 
20. Auszug aus dem Urteil i.S. R. gegen Winterthur Versicherungen und Verwaltungsgericht des Kantons Bern
 
U 27/02 vom 19. Dezember 2003
 
Regeste
Art. 18 Abs. 1 und 2 UVG, Art. 28 Abs. 1 und 2 IVG (je in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung); Art. 16 ATSG: Bestimmung des Invaliditätsgrades.
 


BGE 130 V 121 (122):

Aus den Erwägungen:
3.1 In BGE 127 V 129 hatte das Eidgenössische Versicherungsgericht in einem die Invalidenversicherung betreffenden Fall darüber zu befinden, ob ein rechnerisch ermittelter Invaliditätsgrad von 65,6 % so weit aufzurunden sei, dass ein Anspruch auf eine ganze Invalidenrente entstehe. Ein solcher ist nach Art. 28 Abs. 1 IVG erst bei einem Invaliditätsgrad von 66 2/3 % gegeben. Das Gericht hat diese Frage unter Berücksichtigung zahlreicher Urteile aus der jüngeren Rechtsprechung verneint. Dabei erwog es, dass die im jeweiligen Einzelfall massgebenden Faktoren zur Bestimmung des Invaliditätsgrades, wie hypothetisches Validen- und Invalideneinkommen, gegebenenfalls der prozentuale Abzug von den Tabellenlöhnen gemäss BGE 126 V 75, mit grosser Sorgfalt festgelegt werden müssen, wobei hier je nach den Umständen des Falles ein Ermessensspielraum vorhanden ist. Stehen aber diese einzelnen Faktoren einmal fest, hat gestützt darauf die Berechnung des Invaliditätsgrades zu erfolgen, deren Ergebnis notwendigerweise ein mathematisch bis auf die Kommastellen exakter Prozentwert ist. An diesem kann anschliessend nicht mehr gerundet werden, auch wenn eine auf Kommastellen genaue Invaliditätsbemessung naturgemäss eine gewisse Scheingenauigkeit beinhaltet. Dieses Rundungsverbot ist selbst dann in Kauf zu nehmen, wenn ein Eckwert für eine höhere Rentenstufe nur knapp verpasst wird und das Ergebnis für die Betroffenen hart erscheint (BGE 127 V 134 f. Erw. 4c in fine).
3.2 An der Absolutheit, in welcher das Rundungsverbot im erwähnten Entscheid formuliert worden ist, kann nicht festgehalten werden. Zwar geht es nach wie vor nicht an, grössere

BGE 130 V 121 (123):

Aufrundungen, wie etwa solche um mehrere Prozente auf die nächste Fünfer- oder Zehnerzahl, vorzunehmen. Bei einem Invaliditätsgrad von 46,5 % (wie in BGE 127 V 131 Erw. 3a/bb als Beispiel erwähnt) besteht weiterhin nur Anspruch auf eine Viertelsrente der Invalidenversicherung. Im Bereich der Dezimalstellen rechts vom Komma erweist sich ein totales Rundungsverbot indes als wenig praktikabel. Denn bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades führt die entsprechende Prozentrechnung fast immer zu Werten mit mehreren Dezimalstellen rechts vom Komma. Wenn die Verwaltungen (z.B. IV-Stellen, Unfallversicherer), wie dies verbreitete Usanz ist, in ihren Rentenverfügungen den Invaliditätsgrad in ganzen Prozentzahlen, allenfalls mit einer, höchstens zwei Dezimalstellen nach dem Komma, beziffern, handelt es sich dabei in der Regel bereits um gerundete Zahlen. Invaliditätsgrade, bestehend aus einer Zahl mit mehreren Dezimalstellen rechts vom Komma, vermitteln den Eindruck von Genauigkeit, was nicht zutrifft. Dies führt zur Einsicht, dass gänzlich ohne Auf- und Abrunden nicht auszukommen ist, weshalb das in BGE 127 V 134 f. Erw. 4c Gesagte insoweit einer Änderung der Rechtsprechung unterzogen werden muss. Dabei fragt sich, ob auf ganze Prozentzahlen oder auf eine, allenfalls zwei Dezimalstellen rechts vom Komma auf- oder abgerundet werden soll. Nach Abwägung der beiden grundsätzlichen Möglichkeiten verdient die Auf- oder Abrundung auf ganze Prozentzahlen den Vorzug. Bei dieser Lösung erübrigt sich die Diskussion darüber, auf wie viele Dezimalstellen rechts vom Komma auf- oder abzurunden ist. Zudem ist die Rundung auf die nächste ganze Prozentzahl leichter einprägsam. Das Auf- oder Abrunden hat nach den anerkannten Regeln der Mathematik zu erfolgen. Demnach ist in Zukunft bei einem Ergebnis bis x,49... % auf x % abzurunden und bei Werten ab x,50... % auf x+1 % aufzurunden, was den Invaliditätsgrad ergibt.
3.3 Wie in BGE 127 V 135 Erw. 4d (siehe nunmehr auch Art. 16 ATSG) ausgeführt wurde, haben in allen Sozialversicherungszweigen mit Einkommensvergleichen dieselben Rundungsregeln zu gelten. Daran ist festzuhalten, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass die Auf- und Abrundungen die grössten Auswirkungen im Grenzbereich gesetzlich festgelegter Eckwerte entfalten, welche erreicht sein müssen, damit der Anspruch auf eine oder die nächsthöhere Leistung entsteht. In der Invalidenversicherung existieren drei derartige Eckwerte: 40 %, 50 % und 66 2/3 % (Art. 28 Abs. 1 IVG),

BGE 130 V 121 (124):

in der beruflichen Vorsorge zwei (50 % und zwei Drittel, Art. 23 und Art. 24 Abs. 1 BVG), in der Unfallversicherung einer (10 %; Art. 18 Abs. 1 UVG in der seit 1. Juli 2001 gültigen Fassung), ferner (wenn auch nicht laut Gesetz, sondern praxisgemäss) in der Militärversicherung einer (5 %; JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni 1992, Bern 2000, S. 316). Nach der soeben dargelegten Rundungsregel liegt beispielsweise in der Invalidenversicherung bei einem Ergebnis von 39,5 % mathematisch gerundet ein Invaliditätsgrad von 40 % vor, was den Anspruch auf eine Viertelsrente begründet. In gleicher Weise besteht Anspruch auf eine halbe Rente der IV bei einem ab 49,50 % auf 50 % gerundeten Invaliditätsgrad und auf eine ganze Rente der IV bei einem Ergebnis von mindestens 66,50 %. In der Unfallversicherung bedeutet das Auf- oder Abrunden auf ganze Zahlen hingegen (abgesehen vom erwähnten Eckwert von 10 %) einen rundungsbedingten Verlust oder Gewinn von wenigen Franken auf dem monatlichen Rentenbetrag. Dies ist um so eher hinzunehmen, als sowohl gerundete wie nicht gerundete Ergebnisse ohnehin eine gewisse Scheingenauigkeit beinhalten.