BGE 121 V 190
 
30. Auszug aus dem Urteil vom 13. November 1995 i.S. S. gegen Ausgleichskasse des Kantons Zug und Verwaltungsgericht des Kantons Zug
 
Regeste
Art. 28 Abs. 1 und 2, Art. 22 und 29 Abs. 2, Art. 48 Abs. 2 IVG, Art. 18, Art. 20ter Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 IVV.
Die in BGE 100 V 191 Erw. 5 genannten Ausnahmen vom Grundsatz "Eingliederung vor Rente" sind durch die seit 1. Januar 1985 gültige neue Fassung von Art. 18 und Art. 28 IVV obsolet geworden.
 


BGE 121 V 190 (190):

Aus den Erwägungen:
3. a) Dem Beschwerdeführer ist darin beizupflichten, dass Art. 28 Abs. 1 IVV (in der seit 1. Januar 1985 geltenden Fassung) die Koordination mit Art. 18 IVV bezweckt (ZAK 1984 S. 415), dies in Übereinstimmung mit dem grundsätzlichen Vorrang der Eingliederung und des Taggeldes vor der Rente (BGE 116 V 92). Nach Art. 18 IVV (dessen Abs. 1 und 2 ebenfalls auf den 1. Januar 1985 geändert worden sind) hat der Versicherte, der mindestens 50% arbeitsunfähig ist und auf den Beginn bevorstehender Eingliederungsmassnahmen warten muss, für die Wartezeit Anspruch auf das sog. Wartetaggeld (Abs. 1). Dieser Anspruch beginnt im Zeitpunkt, in welchem die IV-Stelle (resp. vorher die Invalidenversicherungs-Kommission) aufgrund ihrer Abklärungen feststellt, dass Eingliederungsmassnahmen angezeigt sind, spätestens aber vier Monate nach Eingang der Anmeldung (Abs. 2). Dabei haben Rentenbezüger, die sich einer Eingliederungsmassnahme

BGE 121 V 190 (191):

unterziehen, keinen Anspruch auf ein Taggeld für die Wartezeit (Abs. 3). Mit dieser Neuregelung sollte verhindert werden, dass der Versicherte - anders als nach der früheren Fassung von Art. 18 IVV - in der Zwischenzeit, d.h. bis zur Anordnung einer konkreten Eingliederungsmassnahme, ohne finanzielle Leistungen der Invalidenversicherung bleibt, sofern nicht bereits ein Rentenanspruch entstanden ist. Ferner soll verhindert werden, dass in dieser ungeklärten Situation ein solcher Anspruch entsteht (ZAK 1984 S. 412 f.).
b) Der Beschwerdeführer verkennt indessen, dass es im vorliegenden Rechtsstreit nicht um ein Problem der Koordination zwischen Rente und Wartetaggeld geht. Wie er in der Beschwerde an die Vorinstanz selber zugegeben hat, besteht kein Anspruch auf ein Wartetaggeld. Der Beschwerdeführer hat sich am 15. Februar 1990 bei der Invalidenversicherung angemeldet. Am 7. Mai 1990 hat er die Ausbildung an der Handelsschule X angetreten, welche im nachhinein - entsprechend dem Vorschlag der Regionalstelle vom 3. Januar 1991 - von der Invalidenversicherung als Umschulung übernommen wurde (Verfügungen vom 29. Januar 1991), dies unter Zusprechung von Taggeldern für die Zeit vom 7. Mai 1990 bis 26. Februar 1992 (Verfügungen vom 14. Februar 1991).
a) Aus dem Vorrang der Eingliederung folgt, dass vor der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen vorübergehend eine Rente nur gewährt werden darf, wenn der Versicherte wegen seines Gesundheitszustandes noch nicht eingliederungsfähig ist (BGE 100 V 189 Erw. 3; ferner ZAK 1971 S. 459 Erw. 1 mit weiteren Hinweisen). In ZAK 1971 S. 460 Erw. 2 ist die Frage aufgeworfen worden, ob in Abweichung des Grundsatzes des Vorrangs der Eingliederung dann - trotz Eingliederungsfähigkeit - eine Rente zugesprochen werden kann, wenn zufolge eines offensichtlichen Fehlers der Verwaltung die Eingliederung verzögert wird und ein besonderer Härtefall vorliegt. Sie konnte indessen wegen des passiven Verhaltens des damaligen Versicherten offengelassen werden, welcher selber eine Anstrengung hätte

BGE 121 V 190 (192):

unternehmen oder wenigstens bei der Versicherung auf Beschleunigung der Durchführung der beruflichen Eingliederungsmassnahmen hätte drängen sollen. In BGE 100 V 191 Erw. 5 wurde die offengelassene Frage schliesslich in dem Sinne beantwortet, dass eine Rente auch dann gewährt werden könne, wenn die Verwaltung durch einen offensichtlichen Fehler das Eingliederungsverfahren verzögert oder wenn sich der Versicherte in einer finanziellen Notlage befindet.
b) Es fragt sich, ob diese Ausnahmen auch heute noch Gültigkeit haben. Bejahendenfalls würde sich weiter fragen, ob dem Beschwerdeführer unter dem Aspekt einer finanziellen Notlage (für das Abklärungs- und das vorinstanzliche Beschwerdeverfahren ist ihm die unentgeltliche Verbeiständung gewährt worden) für die Zeit bis zum Beginn der Umschulung eine Rente zusteht.
c) In ZAK 1986 S. 603 Erw. 2a wird - ohne auf die in BGE 100 V 191 Erw. 5 erwähnten Ausnahmen hinzuweisen - festgehalten, dass Renten in der Regel erst dann ausgerichtet werden, wenn die Möglichkeit einer Eingliederung nicht oder nur in ungenügendem Masse (d.h. in einem nicht rentenausschliessenden Umfang) gegeben ist. Dieses Urteil knüpft damit an die ursprüngliche Rechtsprechung an, wonach eine Rente vor Durchführung von Eingliederungsmassnahmen nur in Betracht kommt, wenn der Versicherte nicht oder noch nicht eingliederungsfähig ist. Wohl war in diesem Urteil noch die alte Fassung von Art. 28 Abs. 1 IVV (gültig gewesen bis Ende 1984) massgebend, welche in Verbindung mit Art. 18 Abs. 2 IVV (ebenfalls in der bis Ende 1984 gültig gewesenen Fassung) ein Wartetaggeld erst ab Anordnung einer Eingliederungsmassnahme vorsah. Diese frühere Regelung hatte - wie bereits erwähnt - dazu geführt, dass Versicherte in einer unter Umständen verhältnismässig langen Zeit (zwischen IV-Anmeldung und späterer Anordnung der Eingliederungsmassnahme) ohne jede finanzielle Leistung der Invalidenversicherung blieben, wenn nicht (nach Massgabe von BGE 100 V 189 Erw. 3) ein Rentenanspruch entstanden war (vgl. ZAK 1984 S. 412; vgl. auch BGE 116 V 89 Erw. 2b f. und ZAK 1990 S. 215 Erw. 2b). Mit der Novellierung von Art. 28 IVV (und Art. 18 IVV) ab 1. Januar 1985 stellt sich das Problem einer vom Versicherten zu tragenden Verzögerung bei der Abklärung der Eingliederungsmöglichkeiten und/oder einer finanziellen Notlage aber nicht mehr, weil nun bei bestehender Eingliederungsfähigkeit (BGE 117 V 278 Erw. 2b) spätestens vier Monate nach der Anmeldung Wartetaggelder einsetzen (Art. 18 Abs. 2 IVV neue Fassung). Diese Lösung lässt sich mit dem

BGE 121 V 190 (193):

Grundsatz der "Eingliederung vor Rente" besser vereinbaren als die frühere (BGE 116 V 89 Erw. 2b, ZAK 1990 S. 215 Erw. 2b). Bei dieser neuen Rechtslage sind die beiden in BGE 100 V 191 Erw. 5 bejahten Ausnahmen (vgl. ZAK 1971 S. 460 oben Erw. 2) vom erwähnten Grundsatz (Rente im Falle der Verzögerung durch die Verwaltung und/oder bei finanzieller Notlage des Versicherten) obsolet geworden. Demzufolge kann eine Rente vor der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen nur noch in Betracht kommen, wenn der Versicherte nicht oder noch nicht eingliederungsfähig ist.
d) Dies ist denn auch der Inhalt der vom Beschwerdeführer gegenüber Ausgleichskasse und Vorinstanz angerufenen Rz. 1881 der vom BSV herausgegebenen IV-Mitteilungen Nr. 288 vom 14. Juli 1989. Weil der eingliederungsfähige Versicherte während der Warte- und Eingliederungszeit Taggelder erhält, kann ein Rentenanspruch frühestens ab dem Zeitpunkt der Beendigung der Eingliederungsmassnahme entstehen, und zwar selbst dann, wenn diese nur einen Teilerfolg brachte oder scheiterte (Rz. 1881 Abs. 2). Hingegen kann bei Abklärungsmassnahmen (welche zwar einen Taggeld-, aber keinen Wartetaggeldanspruch auslösen: ZAK 1991 S. 178), die zeigen sollen, ob der Versicherte überhaupt eingliederungsfähig ist, und die dann ergeben, dass dies nicht zutrifft, eine Rente rückwirkend zugesprochen werden (Rz. 1881 Abs. 3). Und schliesslich kann ein Rentenanspruch dann vor der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen entstehen, wenn der Versicherte noch nicht eingliederungsfähig ist (Rz. 1881 Abs. 4).
Um Auskunft zur Tragweite dieser Verwaltungsweisung gebeten, hat das BSV im Fall D. (BGE 116 V 86) ausgeführt, man habe damit vermeiden wollen, dass eine Invalidenversicherungs-Kommission vorderhand auf einen Beschluss über den Rentenanspruch verzichte, um hernach den Versicherten in den Genuss von Taggeldern während einer allenfalls mehrmonatigen Wartezeit kommen zu lassen und ihm später, nach abgeschlossener Eingliederung, rückwirkend für einen Zeitraum vor Beginn der Wartezeit eine Rente zuzusprechen. Es sei aber klar, dass ein Versicherter, der nach Ablauf der einjährigen Wartezeit nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG immer noch arbeitsunfähig und nicht (oder noch nicht) eingliederungsfähig sei, einen Rentenanspruch habe, auch wenn Eingliederungsmassnahmen ins Auge gefasst würden (vgl. BGE 116 V 94 Erw. 5).
Dazu hat das Eidg. Versicherungsgericht am angegebenen Ort festgehalten, dass allein diese Auslegung sich mit Art. 48 Abs. 2 IVG vereinbaren lasse,

BGE 121 V 190 (194):

weil diese Bestimmung ausdrücklich Rentenleistungen für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate (eventuell sogar länger) vorsehe, und zwar ohne Rücksicht auf künftige Eingliederungsmöglichkeiten. Beginne der Rentenanspruch, bevor die Auszahlung von Wartetaggeldern in Betracht komme, müsse die Rente grundsätzlich ohne Verzug zugesprochen werden. Der Grundsatz "Eingliederung vor Rente" spiele in diesem Zusammenhang nicht. Er komme erst dann zum Tragen, wenn vor dem Beginn des Anspruchs auf Wartetaggelder kein Rentenanspruch entstehe; in diesem Falle erhalte der Versicherte in erster Linie Wartetaggelder, und die Frage einer rückwirkenden Rente für den Zeitraum vor der Eingliederung stelle sich nicht (Art. 28 Abs. 1 IVV).
e) Es fragt sich, wie der Hinweis in BGE 116 V 94 Erw. 5 zu verstehen ist, dass Art. 48 Abs. 2 IVG Rentenleistungen "sans égard aux possibilités d'une future réadaptation" vorsieht. Ist damit gemeint, dass ein sich verspätet anmeldender Versicherter auch dann Anspruch auf eine Rente hat, wenn er bei Ablauf der einjährigen Wartezeit zwar noch arbeitsunfähig, aber bereits eingliederungsfähig war? Wenngleich er sich nicht ausdrücklich auf BGE 116 V 94 Erw. 5 beruft, bejaht dies der Beschwerdeführer, indem er geltend macht, der grundsätzliche Vorrang von Eingliederungsmassnahmen bedeute nicht, dass ein Versicherter, der zwar eingliederungsfähig sei, sich aber vorerst selber einzugliedern versuche und erst später an die Invalidenversicherung gelange, für die Zeit bis zur tatsächlichen Durchführung von Eingliederungsmassnahmen keine Rente beanspruchen könne.
Dem kann nicht beigepflichtet werden. Art. 48 Abs. 2 IVG betrifft nur die zeitliche (Rück-)Wirkung einer Anmeldung, ändert aber an dem in Art. 28 Abs. 2 IVG verankerten Grundsatz des Vorrangs der Eingliederung nichts. Wenn in BGE 116 V 94 Erw. 5 ausgeführt wird, der Grundsatz "Eingliederung vor Rente" spiele "dans ce contexte" nicht, so bezieht sich dies allein auf den Fall, wo zufolge nicht oder noch nicht gegebener Eingliederungsfähigkeit zunächst der Anspruch auf eine Rente entsteht. Ist der Versicherte aber von Anfang an (resp. nach Ablauf der einjährigen Wartezeit nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG) eingliederungsfähig, so bleibt es beim Vorrang der Eingliederung, und er erhält, wenn die Eingliederung nicht sofort angetreten werden kann, nach Massgabe von Art. 18 IVV ein Wartetaggeld (das seinerseits Eingliederungsfähigkeit voraussetzt: BGE 117 V 278 Erw. 2b; Rz. 1044 des Kreisschreibens über die Taggelder [KSTG]). Dass

BGE 121 V 190 (195):

ein Versicherter sich im Rahmen der Schadenminderungspflicht zunächst selber um eine zumutbare Erwerbstätigkeit bemüht und sich erst später bei der Invalidenversicherung anmeldet, führt zu keiner andern Betrachtungsweise. Eine rückwirkende Rente entfällt zufolge schon bestehender Eingliederungsfähigkeit. Und ein Wartetaggeld kann frühestens nach erfolgter Anmeldung in Betracht kommen, weil ein Versicherter erst dann auf Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung "wartet" (vgl. EVGE 1963 S. 153 Erw. 2).