BGE 111 V 337
 
63. Urteil vom 6. Dezember 1985 i.S. Koller gegen Schweizerische Krankenkasse Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons Aargau
 
Regeste
Art. 15 und 16 KUVG, Art. 20 Vo III.
- Das Wahlrecht des Versicherten in Art. 20 Abs. 2 Vo III ist auf die nächstgelegene geeignete spezialärztliche Praxis beschränkt (Erw. 2b).
- Die örtliche Einschränkung in Art. 15 Abs. 1 KUVG gilt auch im Rahmen von Art. 16 Abs. 1 KUVG (Erw. 2b).
 
Sachverhalt


BGE 111 V 337 (337):

A.- Die in Mellingen AG wohnhafte Margreth Koller ist bei der Schweizerischen Krankenkasse Helvetia für Krankenpflege versichert. Sie liess sich ab 1975 in der Augenklinik B. in St. Gallen von Dr. med. S. behandeln, wobei die Kosten von der Kasse übernommen wurden. Seit 1983 ist Dr. S. Chefarzt in der Klinik am Rosenberg in Heiden AR und weiterhin behandelnder Arzt der Versicherten. Mit Verfügung vom 13. Januar 1984 teilte die Kasse Margreth Koller mit, Leistungen für Behandlungen durch Dr. S. würden inskünftig nicht mehr erbracht, da dieser nicht Vertragsarzt der Krankenkassen sei.
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 8. Juni 1984 ab.
C.- Margreth Koller lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Anträgen, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass die Kasse die Kosten für die Behandlungen durch Dr. S. zu übernehmen habe.


BGE 111 V 337 (338):

Die Kasse beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst ebenfalls auf Abweisung, sofern sich nach ergänzenden Abklärungen herausstelle, dass sich das Wahlrecht nach Art. 15 bzw. 16 KUVG beurteile.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
Bedarf der Versicherte einer spezialärztlichen Behandlung, die keiner der an seinem Wohnort oder in dessen Umgebung praktizierenden Ärzte zu gewähren in der Lage ist, so erstreckt sich das Wahlrecht auf auswärtige Spezialärzte (Art. 20 Abs. 1 Vo III [SR 832.140]). Bei gleicher Eignung mehrerer Spezialisten hat die Kasse nur die Kosten zu übernehmen, die sich aus der Zuziehung des nächstwohnenden ergeben würden (Art. 20 Abs. 2 Vo III).
b) Dem Versicherten steht gemäss Art. 19bis die Wahl unter den inländischen Heilanstalten frei (Abs. 1). Begibt sich der Versicherte in eine Heilanstalt an seinem Wohnort oder in dessen Umgebung, mit welcher die Kasse einen Vertrag abgeschlossen hat, so hat diese ihre Leistung mindestens nach den Taxen der allgemeinen Abteilung dieser Heilanstalt zu bemessen (Abs. 2). Begibt sich der Versicherte in eine andere Heilanstalt, so kann die Kasse ihre Leistungen nach den Taxen der allgemeinen Abteilung der nächstgelegenen Heilanstalt am Wohnort des Versicherten oder in dessen Umgebung bemessen, mit der sie einen Vertrag abgeschlossen hat (Abs. 3).
2. a) Die Vorinstanz ging davon aus, dass Dr. S. im Falle der Beschwerdeführerin in der Art eines freiberuflichen Arztes tätig geworden sei und als solcher auch persönlich Rechnung gestellt habe. Sie erkannte, dass die Kasse damit berechtigt gewesen sei, die Übernahme künftiger Kosten für Behandlungen durch Dr. S. zu verweigern, da dieser ausserhalb der örtlichen Begrenzung gemäss

BGE 111 V 337 (339):

Art. 15 Abs. 1 KUVG praktiziere. Dieser Würdigung ist beizupflichten, wenn angenommen wird, dass ein Arzt in der Wohnortsregion der Beschwerdeführerin die benötigte spezialärztliche Behandlung zu gewähren in der Lage wäre. Dann müsste sich die Beschwerdeführerin an diesen Arzt wenden, um Anspruch auf Kassenleistungen erheben zu können. Ein Recht auf die Wahl eines auswärtigen Spezialarztes nach Art. 20 Vo III bestünde nicht.
b) Ist dagegen anzunehmen, dass sich die Beschwerdeführerin aus medizinischen Gründen ausserhalb ihrer Wohnsitzregion behandeln lassen muss, so kommt Art. 20 Vo III zum Zuge. Dabei würde sich die von der Vorinstanz nicht geprüfte und in BGE 97 V 11 (und im nichtveröffentlichten Urteil Butikofer vom 29. August 1984) offengelassene Frage stellen, ob Abs. 2 dieser Bestimmung das Wahlrecht des Versicherten auf die nächstgelegene ärztliche Praxis einschränkt und die Kasse nur für die dort erbrachten Leistungen aufzukommen hat oder ob die Wahl an sich frei ist und der nächstwohnende geeignete Spezialarzt nur für die Bemessung der Leistungen massgebend ist. Für letzteres spricht der deutsche Verordnungstext ("Bei gleicher Eignung mehrerer Spezialisten hat die Kasse nur die Kosten zu übernehmen, die sich aus der Zuziehung des nächstwohnenden ergeben würden"); die erstgenannte Lösung hat den französischen und italienischen Verordnungstext für sich ("A valeur égale de plusieurs spécialistes, la caisse n'est tenue de supporter que les frais résultant du traitement de celui qui est le plus rapproché"; "Nel caso di più specialisti di ugual valore, la cassa è tenuta a sopportare soltanto le spese derivanti dal trattamento dello specialista più vicino").
Der Auslegung gemäss dem französischen und italienischen Text ist der Vorzug zu geben. Das Gesetz kennt kein Recht auf eine örtlich freie Wahl des Arztes. Art. 15 Abs. 1 KUVG begrenzt die Wahl des Versicherten auf die an seinem Aufenthaltsort oder in dessen Umgebung praktizierenden Ärzte, was auch im Rahmen von Art. 16 Abs. 1 KUVG gilt, jedoch mit der weiteren Einschränkung, dass sich das Wahlrecht nur auf die Vertragsärzte bezieht (SCHÄREN, Die Stellung des Arztes in der sozialen Krankenversicherung, Diss. Zürich 1973, S. 205; BONER, Das Rechtsverhältnis zwischen den Ärzten und den Krankenkassen nach dem revidierten Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung, in SZS 1966 S. 187). Der Verordnungsgeber hatte sich im Rahmen des Art. 20 Vo III, der ja nur eine gesetzliche Lücke füllt (BGE 97 V 10; EVGE 1968 S. 183), an diese Grundordnung zu halten.


BGE 111 V 337 (340):

Besondere Verhältnisse, die ein Abweichen hievon zu rechtfertigen vermocht hätten, liegen nicht vor. Wohl mag es als wünschenswert erscheinen, dass ein Versicherter unter mehreren auswärtigen Spezialisten soll wählen können. Doch garantiert das Gesetz auch im Normalfall grundsätzlich keinen Anspruch auf eine Auswahl unter verschiedenen Ärzten. Es findet sich kein hinreichendes Motiv, weshalb der Versicherte bei der Wahl eines auswärtigen Spezialisten gemäss Art. 20 Vo III bessergestellt sein soll. Schliesslich fehlt eine Begründung dafür, dass Art. 20 Abs. 2 Vo III im Sinne der deutschen Fassung verstanden werden müsste, bzw. weshalb bei örtlich freier Spezialistenwahl die Vergütungen der Kasse nach den Kosten bemessen werden sollten, welche bei der Behandlung durch den nächstwohnenden geeigneten Spezialarzt entstanden wären. Sinn hätte eine solche Regelung wohl nur dann, wenn dadurch in geeigneter Weise die Kassenausgaben begrenzt werden könnten, wie das etwa mit dem System der Referenztaxen gemäss Art. 19bis Abs. 3 und 4 KUVG angestrebt wird (BBl 1961 I 1428; BONER/HOLZHERR, Die Krankenversicherung, 1969, S. 49). Eine solche Absicht dürfte Art. 20 Vo III schwerlich zugrunde gelegt worden sein, da die Zuziehung des nächstwohnenden Spezialarztes nicht immer auch eine kostengünstigere Lösung darstellt. Auch im Rahmen von Art. 20 Vo III steht Dr. S. mithin nicht im Wahlrecht der Beschwerdeführerin.
c) Aus dem Gesagten folgt, dass die Beschwerdeführerin unter der Annahme, dass Dr. S. freiberuflich tätig ist, keinen gesetzlichen Anspruch darauf hat, sich auf Kosten der Kasse durch diesen Arzt medizinisch betreuen zu lassen, und zwar sowohl dann, wenn in ihrer Wohnortsregion eine Behandlungsmöglichkeit besteht, als auch dann, wenn sie gemäss Art. 20 Vo III zum Beizug eines auswärtigen Spezialisten berechtigt ist.


BGE 111 V 337 (341):

b) Im Urteil F. vom 9. Oktober 1984 (RKUV 1985 Nr. K 620 S. 76 Erw. 2) hat das Eidg. Versicherungsgericht erkannt, dass sich Art. 16 Abs. 1 KUVG grundsätzlich allein auf die freipraktizierenden Ärzte beziehe und Art. 19bis Abs. 1 KUVG einzig das Wahlrecht des Versicherten hinsichtlich stationärer Behandlung regle. Ambulatorien von Heilanstalten würden in diesem Zusammenhang nicht unter Art. 16 Abs. 1 oder 19bis Abs. 1 KUVG fallen. Für das Wahlrecht mit Bezug auf Ambulatorien bestehe eine Gesetzeslücke, die vom Richter zu füllen sei, und zwar dahingehend, dass diesbezüglich grundsätzlich ebenfalls ein freies Wahlrecht wie in Art. 15 Abs. 1 und 19bis Abs. 1 KUVG anzunehmen sei. Offengeblieben ist dagegen u.a., ob die Ambulatoriumswahl in gleicher Weise wie in Art. 15 Abs. 1 KUVG und auch im Rahmen von Art. 20 Vo III örtlich zu begrenzen sei. Die Frage ist zu bejahen. Wie oben dargelegt, ist nach dem Gesetz im Bereiche der ambulanten Krankenpflege die Wahl des Arztes ausnahmslos nur innerhalb bestimmter örtlicher Grenzen frei. Das hat auch für Ambulatorien zu gelten. Denn es wäre nicht einzusehen, weshalb ein Versicherter für ambulante Behandlung auf das Angebot an Arztpraxen an seinem Aufenthaltsort oder dessen Umgebung beschränkt wird, anderseits aber in seiner Wahl gänzlich frei sein soll, wenn er die gleiche Behandlung in einem Ambulatorium durch angestellte Spitalärzte ausführen lässt. Entsprechend ist im Rahmen von Art. 20 Vo III die Wahl auf das nächstgelegene geeignete Ambulatorium zu beschränken.
4. Die Beschwerdeführerin hat sowohl im vorinstanzlichen wie im vorliegenden Verfahren eingewendet, die Kasse habe während Jahren die Kosten für die Behandlungen durch Dr. S. übernommen, weshalb die Verweigerung künftiger Leistungen gegen Treu und Glauben verstosse. Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Die Kasse hat das Recht und die Pflicht, eine von ihr geschaffene unzulässige Rechtslage zu berichtigen und die reguläre Ordnung wiederherzustellen, soweit dem nicht das Vertrauensprinzip entgegensteht (RKUV 1984 Nr. K 564 S. 20 Erw. 3). Da die Kasse ihre Leistungsverweigerung auf künftige Behandlungen bezieht und sie der Beschwerdeführerin eine angemessene Übergangszeit einräumte (siehe hiezu BGE 101 V 75; RSKV 1979 Nr. 374 S. 163 und 1982 Nr. 485 S. 97 Erw. 3), hält ihr Vorgehen unter dem Blickwinkel des Vertrauensschutzes stand; denn der Beschwerdeführerin kann zugemutet werden, die

BGE 111 V 337 (342):

Behandlung durch einen Augenarzt fortsetzen zu lassen, der in ihrem Wahlrecht steht.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.