BGE 107 V 39
 
8. Urteil vom 6. April 1981 i.S. F. gegen Schweizerische Krankenkasse Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons Zürich.
 
Regeste
Art. 3 Abs. 5 alt KUVG und Art. 128 OG.
 
Sachverhalt


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A.- Die Schweizerische Krankenkasse Helvetia führte auf Juli 1975 die sogenannte automatische und die zusätzliche Risiko-Lebensversicherung ein und schloss zugleich mit der COOP-Lebensversicherungs-Genossenschaft in Basel einen Kollektivversicherungsvertrag für das Todesfallrisiko ihrer krankengeldversicherten Mitglieder ab. Die Leistungen der Risiko-Lebensversicherung werden bei Ableben infolge Unfalls oder Krankheit fällig. Bei Tod infolge Selbstmordes gilt eine reglementarische Karenzfrist; sie betrug ursprünglich zwei Jahre und wurde im März 1977 auf drei Jahre ausgedehnt.
Manfred F. war der zusätzlichen Risiko-Lebensversicherung auf den 1. Februar 1976 beigetreten Am 7. Juli 1978 starb er infolge Suizids. Die Kasse anerkannte ihre Leistungspflicht aus der

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automatischen Risiko-Lebensversicherung (Fr. 2'430.-). Dagegen lehnte sie mit Verfügung vom 28. August 1978 die Leistungspflicht aus der zusätzlichen Risiko-Lebensversicherung mit der Begründung ab, dass am 7. Juli 1978 die dreijährige Karenzfrist laut der in ihrem Organ Nr. 3/1977 publizierten Reglementsänderung noch nicht abgelaufen gewesen sei.
B.- Die von der Ehefrau des Versicherten gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Zürich am 9. März 1979 ab. Die Begründung des Entscheides geht im wesentlichen dahin, dass hinsichtlich der Risiko-Lebensversicherung kein Versicherungsvertrag im Sinne des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) vorliege. Ein Versicherungsvertrag zwischen der Kasse und ihren Mitgliedern sei schon deshalb nicht möglich, weil die Kasse keine Bewilligung zum Geschäftsbetrieb im Sinne von Art. 3 Abs. 2 alt VAG besessen habe. Die Krankenkassen könnten nur in ihrer eigenen Form der Sozialversicherung tätig werden. Dies gelte auch dort, wo sie selbständig Deckung gewährten, die normalerweise zur Privatversicherung gehöre, was ihnen aber nur akzessorisch zur Krankenversicherung erlaubt sei (Art. 5 neu VAG). Es handle sich hier demnach um eine Versicherung im Rahmen des Mitgliedschaftsverhältnisses. Für die Beziehungen der Kasse zu ihren Mitgliedern seien somit auch bezüglich der Risiko-Lebensversicherung die Statuten und Reglemente massgebend. Auch deren Änderung könne die Kasse grundsätzlich autonom regeln. Geändert werden könnten auch die reglementarischen Bestimmungen für bereits bestehende Versicherungsverhältnisse. Damit eine dem Versicherten nachteilige Reglementsänderung diesem entgegengehalten werden könne, sei einzig deren gehörige Bekanntmachung erforderlich. Die Publikation der neuen Karenzfrist im Mitteilungsblatt Nr. 3/77 der Kasse an die Mitglieder genüge den Anforderungen.
C.- Die Ehefrau des Versicherten lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, es sei die Kasse ihr gegenüber zur Bezahlung von Fr. 102'856.- zuzüglich 5% Verzugszins ab 28. August 1978 unter dem Titel der Risiko-Lebensversicherung zu verpflichten. Zur Begründung wird im wesentlichen ausgeführt, dass zwischen den seinerzeitigen Parteien ein privatrechtlicher Versicherungsvertrag abgeschlossen worden sei, der eine lediglich zweijährige Karenzfrist vorsehe; diese habe mangels Zustimmung des Versicherten nicht in eine

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dreijährige Frist umgewandelt werden können. Eventualiter sei die Verwaltungsgerichtsbeschwerde aber auch unter rein sozialversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten gutzuheissen, weil sich der Versicherte auf das ihm seinerzeit vorgelegte ursprüngliche Reglement habe verlassen dürfen und weil die für ihn nachteilige Neuerung in völlig ungenügender Weise publiziert worden sei.
Die Kasse beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, im wesentlichen unter Hinweis auf die Begründung des Versicherungsgerichts des Kantons Zürich. Auf die Stellungnahmen des Bundesamtes für Sozialversicherung und des Bundesamtes für Privatversicherungswesen, welches ebenfalls zur Vernehmlassung eingeladen wurde, wird in den nachstehenden Erwägungen zurückzukommen sein.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
a) Nach dem hier anwendbaren Art. 3 Abs. 5 alt KUVG (gültig bis 31. Dezember 1978) stand es den anerkannten Krankenkassen "frei, neben der Krankenversicherung noch andere Versicherungsarten zu betreiben". Dieser Wortlaut wurde mit dem Bundesgesetz betreffend die Aufsicht über die privaten Versicherungseinrichtungen vom 23. Juni 1978 (Versicherungsaufsichtsgesetz/VAG) dahin erweitert, es stehe den Krankenkassen

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frei, "neben der Kranken- und Mutterschaftsversicherung im Rahmen der vom Bundesrat festgelegten Bedingungen und Höchstgrenzen noch andere Versicherungsarten zu betreiben".
Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 5 alt KUVG enthielt keine Beschränkung für die Betätigung der Kassen in Versicherungszweigen ausserhalb der sozialen Krankenversicherung. Auch aus den Materialien ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass den anerkannten Krankenkassen der Betrieb bestimmter Versicherungszweige nicht gestattet gewesen wäre (vgl. BBl 1906 VI 268f.; die KUVG-Revision von 1964 erwähnt diesen Artikel nicht). Nichts anderes resultiert aus der Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts. Dieses hat zugelassen, dass anerkannte Krankenkassen Sterbegeldversicherungen sowie Unfall- oder Lähmungsversicherungen führen (BGE 106 V 29, BGE 97 V 65, BGE 98 V 8, RSKV 1973 Nr. 168 S. 68). Es hat es den Krankenkassen auch nicht verwehrt, eine kantonale Schülerunfallversicherung zu betreiben (RSKV 1977 Nr. 281 S. 67; unveröffentlichte Urteile Deschenaux vom 9. Oktober 1975 und 23. Juni 1977), und einem Rückversicherungsverband gemäss Art. 27 Abs. 1 KUVG das Recht zur Aufnahme ausländischer Krankenkassen zugebilligt (BGE 105 V 294).
Daraus folgt, dass auch das Eidg. Versicherungsgericht das Recht der anerkannten Krankenkassen zum Betrieb anderer Versicherungsarten neben der sozialen Krankenversicherung nicht beschränkt hat. Allerdings hat es nicht alle der angeführten Versicherungszweige dem Sozialversicherungsrecht des Bundes und damit seiner richterlichen Zuständigkeit unterstellt. Die genannte Schülerunfallversicherung, welche auf kantonalem Recht basierte, schloss es davon ebenso aus wie das erwähnte Rückversicherungsverhältnis, welches dem Bundesprivatrecht zugeordnet wurde. Die Abgrenzungskriterien werden in den folgenden Erwägungen zu erörtern sein.
b) Zusammengefasst ergibt sich somit, dass weder der Wortlaut von Art. 3 Abs. 5 alt KUVG noch die Materialien noch die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts einen Hinweis darauf enthalten, dass die Berechtigung der anerkannten Krankenkassen, neben der sozialen Krankenversicherung andere Versicherungsarten zu betreiben, eingeschränkt gewesen wäre. Dass die Krankenkasse Helvetia (als Versichererin und nicht bloss als Vermittlerin eines Versicherungsabschlusses bei einer

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privaten Lebensversicherungsgesellschaft) auch das Todesfallrisiko versichert, erweist sich daher aus der Sicht des KUVG als zulässig.
a) Art. 102 Abs. 1 bis 3 der Statuten regeln die Sterbegeldversicherung, die nach dem Gesagten dem Bundessozialversicherungsrecht untersteht. Abs. 4 des gleichen Artikels räumt der Zentralverwaltung der Kasse die Kompetenz ein, eine freiwillige Sterbegeld- oder Todesfallversicherung mit besondern Prämien sowie eine besondere zusätzliche Versicherung mit Kapitalleistungen bei Tod und Invalidität einzuführen. Gestützt auf diese Regelung schuf der Zentralvorstand die Abteilung der Risiko-Lebensversicherung und führte in Art. 1 von deren Reglement aus:
"Die Schweizerische Krankenkasse Helvetia (nachstehend Helvetia genannt) hat mir der COOP Lebensversicherungs-Genossenschaft in Basel einen Kollektivversicherungsvertrag für das Todesfallrisiko ihrer krankengeldversicherten Mitglieder abgeschlossen. Dieser Vertrag regelt ausschliesslich die Rechtsbeziehungen zwischen den vorgenannten Vertragsparteien."
Daraus erhellt, dass dieser Kollektivversicherungsvertrag die Rechtsbeziehungen zwischen der Kasse und den versicherten Mitgliedern hinsichtlich der Risiko-Lebensversicherung (Abteilung RL) nicht beschlägt. Die weiteren Bestimmungen des Reglements ordnen der äussern Form nach die Risiko-Lebensversicherung so, wie wenn es sich um eine der sozialen Krankenversicherung gleichgestellte "andere Versicherungsart" handeln würde. Immerhin wird in Art. 14 des Reglements nicht nur auf die subsidiäre Anwendbarkeit des KUVG, sondern auch des VVG (im Nachgang zum KUVG) verwiesen.
b) Die Vorinstanz hat denn auch angenommen, es liege eine (Sozial-)Versicherung im Rahmen des durch Statuten und Reglement geordneten Mitgliedschaftsverhältnisses vor, und sie hat daher Bundessozialversicherungsrecht zur Anwendung gebracht. Als massgebliches Kriterium für die Annahme einer Versicherung im Rahmen des Mitgliedschaftsverhältnisses erachtete sie, dass die Kasse keine Bewilligung zum Geschäftsbetrieb im Sinne von Art. 3 Abs. 2 alt VAG habe. Krankenkassen

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könnten nur in ihrer eigenen Form der Sozialversicherung tätig werden. Dies gelte auch dort, wo von ihnen selbständig Deckungen gewährt würden, die normalerweise zum Kreis der Privatversicherungen gehörten. Dem ist gemäss den vorstehenden Erwägungen entgegenzuhalten, dass die anerkannten Krankenkassen auch Versicherungsarten betreiben dürfen, die nicht dem Bundessozialversicherungsrecht unterstehen. Neben der sozialen Krankenversicherung geführte andere Versicherungsarten sind daher nicht schon deshalb dem Bundessozialversicherungsrecht zugehörig, weil sie zum Versicherungsangebot einer anerkannten Krankenkasse zählen.
Ein wesentliches Kriterium für die Abgrenzung der (bundes-)sozialversicherungsrechtlichen Versicherungsarten einer Kasse von ihren übrigen Versicherungszweigen lässt sich auch nicht aus der Stellungnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung gewinnen, welche sich im wesentlichen auf die Feststellung beschränkt, dass nach Massgabe der reglementarischen Bestimmungen und nach der Art des Abschlusses der zusätzlichen Risiko-Lebensversicherung, ferner im Hinblick auf die dem eigentlichen Tätigkeitsbereich einer anerkannten Krankenkasse fremde Versicherungsart eher ein privatrechtlicher Versicherungsvertrag gegeben sein dürfte.
Das Bundesamt für Privatversicherungswesen geht davon aus, dass der Kollektivversicherungsvertrag habe abgeschlossen werden müssen, weil die Krankenkasse Helvetia in ihrer Eigenschaft als anerkannte Krankenkasse nicht ermächtigt sei, die Lebensversicherung zu betreiben. Die Helvetia sei als Versicherungsnehmerin und die für das Lebensversicherungsgeschäft konzessionierte COOP-Versicherungs-Genossenschaft als Erstversicherer zu betrachten, welche die Verpflichtungen aus dem Vertrag materiell zu garantieren habe. Nicht Stellung genommen wird jedoch zur entscheidenden Frage, ob es sich bei der Rechtsbeziehung zwischen Kasse und Versichertem im Rahmen der hier fraglichen Risiko-Lebensversicherung um ein sozialversicherungsrechtliches Verhältnis oder um einen privatversicherungsrechtlichen Vertrag handelt.
Auch die Rechtspraxis im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 5 alt KUVG lässt kein eindeutiges Abgrenzungsprinzip erkennen. Bei der - faktisch ohnehin wenig bedeutenden - Sterbegeldversicherung war für die Unterstellung unter Bundessozialversicherungsrecht wohl die historische Tatsache massgebend,

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dass diese Versicherungsart schon vor Erlass des KUVG zum klassischen Tätigkeitsbereich vieler (kombinierter) Kassen gehörte. Bei der Unfallversicherung dürfte die enge innere Beziehung zur sozialen Krankenversicherung im Vordergrund gestanden haben. Demgegenüber besteht die offenbar erst in jüngster Zeit in Erscheinung getretene Tatsache, dass eine anerkannte Krankenkasse als Versichererin (und nicht bloss als Vermittlerin eines Versicherungsabschlusses bei einer privaten Lebensversicherungsgesellschaft) für das Todesfallrisiko auftritt, nicht auf historisch erklärbaren Gründen. Auch besteht zwischen der Krankenversicherung und der Risiko-Lebensversicherung keine unmittelbare innere Beziehung. Die aus der bisherigen Rechtspraxis ableitbaren Kriterien für die Unterstellung einer neben der Krankenversicherung betriebenen andern Versicherungsart unter das Sozialversicherungsrecht des Bundes sind daher im vorliegenden Fall nicht gegeben.
c) Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass es zur Ausübung öffentlich-rechtlicher Funktionen - sei es durch öffentliche Organe oder auch durch Privatrechtssubjekte - einer entsprechenden rechtlichen Grundlage bedarf, welche diese Kompetenz begründet. Demzufolge kann eine anerkannte Krankenkasse nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis bestimmen, dass sie eine neben der sozialen Krankenversicherung betriebene andere Versicherungsart als bundessozialversicherungsrechtlich führen wolle. Vielmehr müsste ihr dieses Recht durch das Gesetz oder allenfalls (wie etwa bei der Unfallversicherung) durch die verwaltungsgerichtliche Praxis verliehen werden. Eine solche gesetzliche Kompetenzzuweisung besteht ebensowenig wie eine solche durch verwaltungsrechtliche bzw. verwaltungsgerichtliche Praxis. Demzufolge fehlt im vorliegenden Falle eine Rechtsgrundlage, welche die Zuordnung der in Frage stehenden Risiko-Lebensversicherung zum Bundessozialversicherungsrecht zu begründen vermöchte.


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Trotz materieller Unzuständigkeit hat das Eidg. Versicherungsgericht jedoch auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten. Denn auf dem Beschwerdeweg kann auch gerügt werden, dass zu Unrecht Bundessozialversicherungsrecht angewendet worden sei (BGE 105 V 296 Erw. 1b). Diesbezüglich erweist sich die Rüge der Beschwerdeführerin als begründet. Gemäss den vorstehenden Erwägungen hat jedoch das Eidg. Versicherungsgericht die materielle Seite nicht zu prüfen, sondern sich darauf zu beschränken, die zu Unrecht in Anwendung von Bundessozialversicherungsrecht ergangenen Entscheide von Kasse und Vorinstanz aufzuheben und die Beschwerdeführerin mit ihrer Forderung auf den Zivilweg zu verweisen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 9. März 1979 und die Verfügung der Schweizerischen Krankenkasse Helvetia vom 28. August 1978 aufgehoben werden. Es wird festgestellt, dass die zusätzliche Risiko-Lebensversicherung der Krankenkasse Helvetia nicht dem Bundessozialversicherungsrecht untersteht.