BGE 103 V 63
 
16. Auszug aus dem Urteil vom 25. Oktober 1977 i.S. Kuni gegen Ausgleichskasse Basel-Stadt und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel
 
Regeste
Art. 16 Abs. 1 und Art. 84 Abs. 1 AHVG.
- Wenn es - wegen drohender Verwirkung oder aus anderen Gründen - auf den genauen Zustellungszeitpunkt ankommt, drängt sich die Zustellung einer Verfügung in eingeschriebener Sendung oder auf eine andere geeignete und nachweisbare Art auf.
 
Sachverhalt


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Aus dem Tatbestand:
A.- Die Ausgleichskasse Basel-Stadt erliess mit Datum vom 28. Dezember 1976 für Ruth Kuni eine Verfügung über die Festlegung der persönlichen Sozialversicherungsbeiträge für das Jahr 1971 und mit Datum vom 30. Dezember 1976 eine Unterstellungsverfügung mit Wirkung ab 1. Januar 1971. Die beiden Verfügungen wurden Ruth Kuni mit gewöhnlicher Post zugestellt.
B.- Ruth Kuni liess gegen die Beitragsverfügung bei der Kantonalen Rekurskommission für die Ausgleichskassen Beschwerde erheben und geltend machen, beide Verfügungen seien in einen Briefumschlag verpackt worden, der den Poststempel "31.12.76 - 10, Briefannahme 4000 Basel" trage. Es sei ausgeschlossen, dass sie noch am gleichen Tag im Besitze der Postsendung gewesen sei, somit sei die Beitragsforderung verjährt. - Die Rekurskommission wies die Beschwerde mit Entscheid vom 21. April 1977 ab.
C.- Die Versicherte lässt rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde einreichen und die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sowie der Beitragsverfügung beantragen. Zur Begründung Wird im wesentlichen geltend gemacht, die Behauptung der Ausgleichskasse, wonach die Beitragsverfügung am 28. Dezember 1976 und die Unterstellungsverfügung am 30. Dezember 1976 versandt worden sei, stimme nicht, weil nach dem bei den Akten liegenden Briefumschlag der Postversand am 31. Dezember 1976, vormittags 10.00 Uhr, erfolgt sei. Dass beim Versand der Beitragsverfügung bereits aus irgend einem Grunde eine Verzögerung eingetreten sei, gehe daraus hervor, dass das ursprüngliche Datum der Verfügung

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(27. Dezember 1976) nachträglich von Hand auf den 28. Dezember 1976 korrigiert worden sei. Es liege der Schluss nahe, dass eine weitere Verzögerung eingetreten sei; dies insbesondere auch deshalb, weil die Unterstellungsverfügung Grundlage der Beitragsverfügung bilde. Die Ausgleichskasse habe jedenfalls den nötigen Nachweis der fristgerechten Zustellung nicht erbracht.
Die Ausgleichskasse beruft sich in ihrer Vernehmlassung auf die Aussagen der Beamten, die organisatorischen Abläufe sowie die gesamten Umstände und Indizien. Eine eingeschriebene Zustellung von Verfügungen sei weder vorgeschrieben noch üblich. In einer weiteren Eingabe belegt die Ausgleichskasse, dass eine am 28. Dezember 1976 versandte Verfügung bereits am 29. Dezember beim Adressaten eingetroffen war.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. a) Gemäss Art. 16 Abs. 1 AHVG können Beiträge, die nicht innert 5 Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, für welches sie geschuldet sind, durch Verfügung geltend gemacht werden, nicht mehr eingefordert oder entrichtet werden. Nach ständiger Rechtsprechung zeitigt diese Frist Verwirkungsfolgen. Mit ihrem Ablauf erlischt die Beitragsschuld, ohne dass ein der Naturalobligation entsprechendes Rechtsverhältnis bestehen bleibt, das freiwillig erfüllt werden könnte (BGE 100 V 154 mit Verweisungen, BGE 97 V 144). b) Die Eröffnung einer Verfügung ist eine empfangsbedürftige, nicht aber eine annahmebedürftige einseitige Rechtshandlung; sie entfaltet daher ihre Rechtswirkungen vom Zeitpunkt ihrer ordnungsgemässen Zustellung an; ob der Betroffene vom Verfügungsinhalt Kenntnis nimmt oder nicht, hat keinen Einfluss (IMBODEN/RHINOW, Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Band I, Nr. 84 B Ia, S. 527).
2. a) Entscheidend ist somit im vorliegenden Fall, ob die Beitragsverfügung der Beschwerdeführerin bis spätestens am 31. Dezember 1976 ordnungsgemäss eröffnet war; denn am 1. Januar 1977 war die Beitragsforderung gemäss Art. 16 Abs. 1 AHVG verwirkt. Der Beweis der Tatsache sowie des Zeitpunktes der Zustellung obliegt der Verwaltung (vgl. dazu die Zusammenfassung der Rechtsprechung in BGE 99 Ib 356). Weil der Sozialversicherungsprozess von der Untersuchungsmaxime

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beherrscht wird, handelt es sich dabei nicht um die subjektive Beweisführungslast (Art. 8 ZGB), sondern in der Regel nur um die sogenannte objektive Beweislast in dem Sinne, dass im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte (BGE 96 V 95).
Wird die Tatsache oder das Datum der Zustellung uneingeschriebener Sendungen bestritten, muss daher im Zweifel auf die Darstellung des Empfängers abgestellt werden (IMBODEN/RHINOW, a.a.O., Nr. 91 B I, S. 560).
b) Es ist der Ausgleichskasse beizupflichten, dass keine Vorschrift besteht, Verfügungen in eingeschriebener Sendung dem Adressaten zuzustellen. Eine solche Regelung wäre denn auch bei der Menge der zu versendenden Verfügungen einer Ausgleichskasse unpraktikabel und der Aufwand sowohl für die Kasse wie auch für die Postbetriebe zu gross. Im Hinblick auf die dargelegte Beweislast der Kasse drängt sich jedoch die Zustellung einer Verfügung in eingeschriebener Sendung oder auf andere, geeignete und nachweisbare Art stets dann auf, wenn es - wegen drohender Verwirkung oder aus ähnlichen Gründen - auf den genauen Zeitpunkt der Zustellung ankommt. Der normale, organisatorische Ablauf bei der Verwaltung im Versand der Verfügungen ist nicht geeignet, den erforderlichen Nachweis zu erbringen (vgl. BGE 99 Ib 360 Erw. 3). Einerseits kann sich beim Versand aus irgendwelchen Gründen eine Verzögerung ergeben - der Versand der Unterstellungsverfügung vom 30. Dezember 1976 erfolgte nicht am gleichen Tag, wie es nach der Praxis der Ausgleichskasse üblich sein soll, sondern erst am 31. Dezember 1976 vormittags -, anderseits kann es angesichts der Zunahme des Postverkehrs, insbesondere aber in Spitzenzeiten des Postverkehrs wie über Weihnacht/Neujahr zu Verspätungen in der Zustellung kommen.
3. Nach Darstellung der Ausgleichskasse wurden die beiden Verfügungen mit separater Post verschickt. Die Beschwerdeführerin legt jedoch nur einen Briefumschlag zu den Akten, in dem beide Verfügungen gleichzeitig zugestellt Worden seien. Ob ein allfälliger weiterer Briefumschlag aus Unachtsamkeit der Beschwerdeführerin verlorenging, kann dahingestellt bleiben. Zunächst kann dem Bürger nicht zugemutet

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werden, alle eine amtliche Mitteilung enthaltenden Umschläge aufzubewahren, um für allfällige künftige Streitigkeiten über die Wahrung einer Frist gewappnet zu sein. Sodann würde mit der Vorlegung des für die Eröffnung der Beitragsverfügung verwendeten Umschlags bloss bewiesen, dass die Sendung die Aufgabepoststelle in einem bestimmten Zeitpunkt passiert hat und damit ein blosses Indiz dafür geliefert, dass es zur Zustellung binnen einer normalen Zeitspanne zwischen dem Abgang von der Aufgabepoststelle und der Verteilung gekommen ist; die Möglichkeit von Verspätungen oder Fehlleitungen im Postbetrieb würde durch solche Beweisführung nicht ausgeschlossen. Schliesslich ist es, wie dargelegt, nicht Sache des Empfängers einer amtlichen Mitteilung, sondern der Verwaltung, den Nachweis der ordnungsgemässen Eröffnung zu erbringen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der vorinstanzliche Entscheid vom 21. April 1977 sowie die Kassenverfügung vom 28. Dezember 1976 im Restbetrag von Fr. 131.-- aufgehoben.