BGE 147 IV 36
 
5. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen A. (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_895/2019 vom 15. September 2020
 
Regeste
Art. 400 Abs. 3 lit. b und Art. 401 StPO; Art. 15 Abs. 2 StBOG; Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung.
 
Sachverhalt


BGE 147 IV 36 (37):

A. Das Bezirksgericht Laufenburg sprach A. im Zusammenhang mit der B. AG mit Urteil vom 15. Dezember 2016 und 31. März 2017 des gewerbsmässigen Betrugs gemäss Art. 146 Abs. 1 und 2 StGB (G. und Fund H.), der mehrfachen qualifizierten ungetreuen Geschäftsbesorgung gemäss Art. 158 Ziff. 1 Abs. 1 und 3 StGB (J., Retrozessionen), der mehrfachen Unterdrückung von Urkunden gemäss Art. 254 Abs. 1 StGB (G. und Fund H.), der mehrfachen Urkundenfälschung gemäss Art. 251 Ziff. 1 StGB (G.), der mehrfachen Falschbeurkundung gemäss Art. 251 Ziff. 1 StGB (Steuerbescheinigungen J.), der qualifizierten Geldwäscherei gemäss Art. 305bis Ziff. 1 und 2 lit. c StGB (Retrozessionen) und der Misswirtschaft gemäss Art. 165 Ziff. 1 i.V.m. Art. 29 StGB schuldig. Es bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von neun Jahren sowie einer unbedingten Geldstrafe von 360 Tagessätzen zu Fr. 30.-und verpflichtete ihn in Anwendung von Art. 71 Abs. 1 StGB zur Bezahlung einer Ersatzforderung von Fr. 2'940'597.50 an den Staat. Weiter zog es Grundstücke/Wohnungen von A. in Thailand ein. Vom Vorwurf der qualifizierten Geldwäscherei gemäss Art. 305bis Ziff. 1 und 2 lit. c StGB (Alternativinvestments) sprach es ihn frei.
B.
B.a A. und diverse Privatkläger meldeten gegen das Urteil des Bezirksgerichts Laufenburg Berufung an. In der Berufungserklärung vom 22. Mai 2017 erklärte A., vier Schuldsprüche, das Strafmass, die Ersatzforderung, die Einziehung seiner Vermögenswerte in Thailand sowie die Kosten- und Entschädigungsfolgen anzufechten. Die Privatkläger beantragten in ihrer Berufungserklärung vom 29. Mai

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2017 u.a., A. sei auch bezüglich der Alternativinvestments der qualifizierten Geldwäscherei schuldig zu sprechen.
B.b Die Staatsanwaltschaft erklärte am 16. August 2017 Anschlussberufung zur Berufung von A. bezogen auf die Strafzumessung und die Höhe der staatlichen Ersatzforderung.
B.c Mit Eingabe vom 21. August 2017 erklärte A. Anschlussberufung zur Berufung der Privatkläger vom 29. Mai 2017, wobei die Anträge mit denjenigen in der Berufungserklärung vom 22. Mai 2017 deckungsgleich waren. Die Anschlussberufung erfolgte "vorsorglich und ausdrücklich unter Aufrechterhaltung der (Haupt-)Berufungserklärung vom 22. Mai 2017".
B.d Mit Schreiben vom 6. Dezember 2017 erklärte A., seine Berufung vollumfänglich und seine Anschlussberufung bezüglich Dispositiv-Ziff. 4.29 des erstinstanzlichen Urteils (Einziehung der Vermögenswerte in Thailand) zurückzuziehen. Im Übrigen hielt er im Schreiben vom 6. Dezember 2017 an seiner Anschlussberufung vom 21. August 2017 fest.
B.e Die Staatsanwaltschaft beantragte am 18. Dezember 2017, auf die Anschlussberufung von A. sei nicht einzutreten.
B.f Das Obergericht des Kantons Aargau entschied mit Beschluss vom 13. März 2018, die Berufung von A. vom 22. Mai 2017 sei infolge Rückzugs gegenstandslos geworden, die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft vom 16. August 2017 sei hinsichtlich der Berufung von A. dahingefallen und die Anschlussberufung von A. vom 21. August 2017 sei bezüglich Dispositiv-Ziff. 4.29 des erstinstanzlichen Urteils infolge Rückzugs gegenstandslos geworden.
Im Übrigen trat das Obergericht des Kantons Aargau im Urteil vom 1. Februar 2019 auf die Anschlussberufung von A. ein. Es hiess diese teilweise gut, sprach A. vom Vorwurf der mehrfachen Falschbeurkundung gemäss Art. 251 Ziff. 1 StGB (Steuerbescheinigungen J.) frei, erklärte ihn im Sachverhaltskomplex G. anstelle des gewerbsmässigen Betrugs der mehrfachen qualifizierten ungetreuen Geschäftsbesorgung schuldig und bestätigte die übrigen erstinstanzlichen Schuldsprüche. Vom Vorwurf der qualifizierten Geldwäscherei (Alternativinvestments; Berufung der Privatkläger) sprach es ihn ebenfalls frei. Es verurteilte A. zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und bestätigte die Ersatzforderung von Fr. 2'940'597.50 unter Hinweis auf das Verbot der reformatio in peius.


BGE 147 IV 36 (39):

C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Entscheid vom 1. Februar 2019 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass die Anschlussberufung von A. unzulässig gewesen sei und das erstinstanzliche Urteil in den von diesem angefochtenen Punkten in Rechtskraft erwachsen sei.
D. Die Vorinstanz und A. stellen Antrag auf Abweisung der Beschwerde. A. ersucht zudem um unentgeltliche Rechtspflege.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 382 Abs. 1 und Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO. Sie argumentiert, für die Einlegung eines Rechtsmittels bedürfe es eines Rechtsschutzinteresses. Eine Anschlussberufung im selben Verfahren, in welchem die betreffende Partei bereits Berufung eingelegt habe, könne daher nur noch diejenigen Teile des Urteils abdecken, bezüglich welcher nicht bereits Berufung erhoben worden sei. Dieselben Punkte mit Berufung und Anschlussberufung anzufechten, sei sinnlos und verdiene keinen Rechtsschutz. Die Anschlussberufung des Beschwerdegegners sei daher unzulässig gewesen, weshalb darauf nicht hätte eingetreten werden dürfen. Ergebe sich ein Rechtsschutzinteresse für die Einlegung einer Anschlussberufung erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist, sei eine Anschlussberufung infolge Fristablaufs nicht mehr möglich. Auch die Umwandlung einer Berufung in eine Anschlussberufung sei nach Ablauf der Frist für die Anschlussberufung daher nicht mehr möglich. Vorliegend seien die Berufung sowie die identische und damit unzulässige Anschlussberufung des Beschwerdegegners während mehreren Monaten parallel geführt worden, dies obschon die Vorinstanz die Zulässigkeit der Anschlussberufung von Amtes wegen hätte prüfen müssen. Eine anfänglich unzulässige Anschlussberufung könne nicht Monate nach Ablauf der Rechtsmittelfrist rückwirkend mit dem Rückzug der Berufung doch noch für zulässig erklärt werden.
2.2 Die Vorinstanz verweist in ihrer Vernehmlassung auf ihren Beschluss vom 13. März 2018. Sie erwägt darin zusammengefasst, es sei nicht zulässig, neben der eigenen Hauptberufung eine Anschlussberufung zu führen, die mit ihren Anträgen nicht über die eigenen Berufungsanträge hinausgehe. Entsprechend sei bei parallel

BGE 147 IV 36 (40):

geführten, identischen Rechtsmitteln auf die Anschlussberufung nicht einzutreten. Da der Beschwerdegegner seine Hauptberufung mittlerweile jedoch zurückgezogen habe, wäre ein Nichteintreten auf die Anschlussberufung angesichts der derzeitigen Ausgangslage jedoch nicht mehr sachgerecht. Bei der Ausgangslage, wie sie sich derzeit präsentiere, könne ihm ein Interesse an deren Behandlung nicht mehr abgesprochen werden.
2.3 Der Beschwerdegegner macht in seiner Stellungnahme vor Bundesgericht im Wesentlichen geltend, Haupt- und Anschlussberufung seien angesichts der Akzessorietät der Anschlussberufung (Art. 401 Abs. 3 StPO) und der Einschränkung der Anschlussberufung in Bezug auf die Parteien (Art. 401 Abs. 2 StPO) trotz ähnlich formulierter Anträge nicht identisch. Eine Anschlussberufung zusätzlich zur eigenen Hauptberufung sei nicht sinnlos. Das eigene Prozessverhalten hänge im Berufungsverfahren stark von demjenigen der übrigen Parteien ab. Wie sich die übrigen Parteien positionieren, werde einer Partei jedoch regelmässig mit Verspätung zur Kenntnis gebracht, da sie erst nach Ablauf der eigenen Rechtsmittelfrist erfahre, ob die übrigen Parteien Berufung bzw. Anschlussberufung erklärt hätten. Auch über die Frage des Eintretens auf die Berufung werde regelmässig erst nach Ablauf der Frist für die Anschlussberufung entschieden. Dass er zusätzlich zur Hauptberufung auch Anschlussberufung erhoben habe, habe daher einen praktischen Nutzen gehabt. Dies habe sich auch aus Gründen der anwaltlichen Sorgfaltspflicht aufgedrängt, da nachträglich bezüglich der Hauptberufung ein Nichteintretensentscheid z.B. infolge Verspätung hätte ergehen können. Ein Nichteintreten auf seine Anschlussberufung wäre überspitzt formalistisch. Es würde zudem gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstossen, da die Beschwerdeführerin, nachdem ihr die Anschlussberufung zur Kenntnis gebracht worden sei, darauf verzichtet habe, in ihrer Eingabe vom 18. September 2017 in Anwendung von Art. 400 Abs. 3 lit. a StPO einen Antrag auf Nichteintreten zu stellen. Die Beschwerdeführerin verhalte sich daher widersprüchlich, wenn sie nach dem Rückzug der Hauptberufung vehement einen solchen Nichteintretensentscheid fordere. Da weder die Beschwerdeführerin noch die Vorinstanz irgendwelche Vorbehalte in Bezug auf seine Anschlussberufung erhoben hätten, habe er auf deren Zulässigkeit vertrauen dürfe. Alleine vor diesem Hintergrund habe er schliesslich seine Hauptberufung zurückgezogen. Selbst wenn seiner Argumentation nicht gefolgt würde, wäre von einer

BGE 147 IV 36 (41):

zulässigen Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung auszugehen, wie sie in Art. 15 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 19. März 2010 über die Organisation der Strafbehörden des Bundes (Strafbehördenorganisationsgesetz, StBOG; SR 173.71) ausdrücklich vorgesehen sei. Im Mehrparteienverhältnis habe eine solche Umwandlung entgegen der Lehre durchaus Vorteile, da damit allfällige Anschlussberufungen anderer Parteien zur eigenen Hauptberufung zum Dahinfallen gebracht werden könnten. Diese Rechtsfolge sei gesetzlich vorgesehen und führe zu keiner Benachteiligung, zumal es jeder Partei freistehe, allfällige eigene Berufungsziele mit einer eigenen Berufung zu verfolgen. Dem Antrag der Beschwerdeführerin, das erstinstanzliche Urteil sei für rechtskräftig zu erklären, könne auch deshalb nicht stattgegeben werden, weil die Berufung des Mitbeschuldigten C. gutgeheissen worden sei, was sich gemäss Art. 392 StPO auch auf seine Strafbarkeit auswirke.
 
Erwägung 2.4
2.4.1 Gemäss Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO können die anderen Parteien innert 20 Tagen seit Empfang der Berufungserklärung schriftlich Anschlussberufung erklären. Die Anschlussberufung richtet sich sinngemäss nach Art. 399 Abs. 3 und 4 StPO (Art. 401 Abs. 1 StPO). Sie ist nicht auf den Umfang der Hauptberufung beschränkt, es sei denn, diese beziehe sich ausschliesslich auf den Zivilpunkt des Urteils (Art. 401 Abs. 2 StPO; BGE 142 IV 234 E. 1.2 S. 236 f.; Urteil 6B_6/2019 vom 22. Februar 2019 E. 1). Wird die Berufung zurückgezogen oder wird auf sie nicht eingetreten, so fällt auch die Anschlussberufung dahin (Art. 401 Abs. 3 StPO). Mit der Anschlussberufung wird der Partei, die sich mit einem erstinstanzlichen Urteil im Ergebnis, wenn auch nicht in allen Einzelpunkten, abfinden kann und daher auf die selbstständige Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet hat, ermöglicht, die von ihr als unbefriedigend empfundenen Punkte doch noch der Berufungsinstanz zur Prüfung zu unterbreiten, wenn eine andere Partei gegen das Urteil Berufung erhoben hat (LUZIUS EUGSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 1 zu Art. 401 StPO; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar [nachfolgend: Praxiskommentar], 3. Aufl. 2018, N. 1 zu Art. 401 StPO). Damit soll die Berufungsinstanz in die Lage versetzt werden, eine umfassende Würdigung des Anklagesachverhalts und insb. auch der Rechtsfolgen vorzunehmen (EUGSTER, a.a.O., N. 3 zu Art. 401 StPO).


BGE 147 IV 36 (42):

2.4.2 In der Lehre wird die Auffassung vertreten, die gleichen Anträge einer Partei könnten nicht parallel Gegenstand einer Berufung und einer Anschlussberufung zur Berufung einer anderen Partei sein (HUG/SCHEIDEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 6 zu Art. 401 StPO) bzw. eine Anschlussberufung sei nur in den Punkten möglich, die nicht bereits Gegenstand der Berufung dieser Partei seien (MOREILLON/PAREIN-REYMOND, CPP, Code de procédure pénale, 2. Aufl. 2016, N. 14 zu Art. 401 StPO; SCHMID/JOSITSCH, Praxiskommentar, a.a.O., N. 2 und 8 zu Art. 401 StPO; MARLÈNE KISTLER VIANIN, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 9 zu Art. 401 StPO; offengelassen in BGE 141 III 302 E. 2.5 in fine S. 311 für die Anschlussberufung im Sinne von Art. 313 ZPO). Dem ist beizupflichten. Das Gericht kann nicht zweimal über den gleichen Antrag befinden, d.h. sowohl im Rahmen einer Hauptberufung als auch einer Anschlussberufung, da der Antrag mit der Behandlung der Hauptberufung als erledigt zu gelten hat. Ist ein gültiger Berufungsantrag hängig, bleibt kein Raum für eine Anschlussberufung im gleichen Punkt (vgl. auch HUG/SCHEIDEGGER, a.a.O., N. 6 zu Art. 401 StPO, wonach das Berufungsverfahren unnötig kompliziert würde, wenn die gleichen Anträge parallel Gegenstand der Berufung und der Anschlussberufung der gleichen Partei sein könnten). Auf die Anschlussberufung ist in analoger Anwendung von Art. 403 StPO daher nicht einzutreten, wenn das damit gestellte Rechtsbegehren bereits Gegenstand einer gültigen Berufung der betreffenden Partei bildet.
2.4.3 Zulässig ist es hingegen, die eigene Hauptberufung in eine Anschlussberufung umzuwandeln, wenn dies rechtzeitig innert der Frist für die Anschlussberufung gemäss Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO geschieht (HUG/SCHEIDEGGER, a.a.O., N. 6 zu Art. 401 StPO). Nach Ablauf der Frist von 20 Tagen seit Empfang der gegnerischen Berufungserklärung (vgl. Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO) ist eine solche Umwandlung indes nicht mehr möglich (HUG/SCHEIDEGGER, a.a.O., N. 6 zu Art. 401 StPO; in diesem Sinne auch SCHMID/JOSITSCH, Praxiskommentar, a.a.O., N. 3 zu Art. 401 StPO; dies., Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts[nachfolgend: Handbuch], 3. Aufl. 2017, S. 697 Fn. 294), da in diesem Zeitpunkt nicht mehr gültig Anschlussberufung erhoben werden kann. Die Möglichkeit, eine Berufung auch nach Ablauf der Frist im Sinne von Art. 400

BGE 147 IV 36 (43):

Abs. 3 lit. b StPO in eine Anschlussberufung umzuwandeln, ist in der StPO nicht vorgesehen. Den Parteien bleibt es jedoch auch nach diesem Zeitpunkt unbenommen, sich auf einen gegenseitigen Rückzug ihrer Rechtsmittel zu einigen.
 
Erwägung 2.5
2.5.1 Was der Beschwerdegegner dagegen vorträgt, vermag nicht zu überzeugen. Insbesondere ist kein schützenswertes Interesse ersichtlich, eine Berufung jederzeit bzw. solange in eine Anschlussberufung umwandeln zu können, als gemäss Art. 386 Abs. 2 lit. a und b StPO ein Rückzug der Berufung möglich ist. Der Beschwerdegegner macht geltend, damit könne die Anschlussberufung zur eigenen Berufung zum Dahinfallen gebracht werden, wobei eine Anschlussberufung zur Anschlussberufung nicht möglich sei. Fraglich ist indes bereits, ob bei einer Umwandlung einer Hauptberufung in eine Anschlussberufung überhaupt von einem Rückzug der Berufung im Sinne von Art. 401 Abs. 3 StPO gesprochen werden kann, da die Anträge hängig bleiben, wenn auch in anderer Form. Eine solche Auslegung von Art. 401 Abs. 3 StPO hätte entgegen der ratio legis der Anschlussberufung (vgl. oben E. 2.4.1) zur Folge, dass die gegnerischen Anträge trotz Hängigkeit eines Berufungsverfahrens unbehandelt blieben.
Selbst wenn Art. 401 Abs. 3 StPO bei einer Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung zur Anwendung gelangen sollte - was vorliegend offenbleiben kann -, läge im Umstand, dass damit das Rechtsmittel des Anschlussberufungsklägers zum Dahinfallen gebracht wird, kein legitimes Interesse, welches für die jederzeitige Umwandelbarkeit einer Berufung in eine Anschlussberufung spricht. Ziel des Gesetzgebers war es wie dargelegt vielmehr, der mit einer Angelegenheit befassten Berufungsinstanz eine möglichst umfassende Würdigung des Anklagesachverhalts zu ermöglichen. Es sind daher keine Gründe ersichtlich, weshalb eine Verunmöglichung der Anschlussberufung der Gegenpartei über eine extensive Gesetzesauslegung geschützt werden soll. Gleiches gilt für die übrigen, nicht näher erläuterten prozesstaktischen Überlegungen des Beschwerdegegners.
Unbeantwortet bleiben kann damit auch die vom Beschwerdegegner in seiner Stellungnahme aufgeworfene und in der Lehre umstrittene Frage, ob eine Anschlussberufung zu einer Anschlussberufung zulässig ist (bejahend HUG/SCHEIDEGGER, a.a.O., N. 5 zu Art. 401 StPO; SCHMID/JOSITSCH, Handbuch, a.a.O., N. 1555; a.M. EUGSTER, a.a.O., N. 3 zu Art. 401 StPO).


BGE 147 IV 36 (44):

2.5.2 Zutreffend ist, dass sich eine Anschlussberufung zusätzlich zur Hauptberufung ausnahmsweise aufdrängen kann, wenn zweifelhaft ist, ob auf die eigene Berufung einzutreten ist. Davon, dass es deswegen zu den anwaltlichen Sorgfaltspflichten gehört, nebst der Berufung auch Anschlussberufung zu erheben, kann jedoch keine Rede sein. Der Anwalt muss vielmehr dafür besorgt sein, dass er die Berufungsanmeldung und die Berufungserklärung (vgl. Art. 399 StPO) rechtzeitig und formgerecht vornimmt, ansonsten er unnötige Kosten verursacht, zumal mit dem Nichteintreten auf die Anschlussberufung auch Gerichtskosten verbunden sein können (vgl. Art. 403 i.V.m. Art. 428 Abs. 1 Satz 2 StPO). Das Argument des Beschwerdegegners geht im Übrigen auch deshalb an der Sache vorbei, weil vorliegend nicht die Zulässigkeit seiner Anschlussberufung zusätzlich zu einer ungültigen Berufung, sondern die Umwandlung einer grundsätzlich rechtsgültig erhobenen Berufung in eine Anschlussberufung nach Ablauf der Frist zur Anschlussberufung im Sinne von Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO zu beurteilen ist. Dass eine Partei bspw. nach einer verspäteten Berufung dennoch rechtsgültig Anschlussberufung erheben kann, steht nicht zur Diskussion. Das Berufungsgericht darf eine gleichzeitig erhobene Anschlussberufung mittels Nichteintretensentscheid daher nur für ungültig erklären, wenn es auf die Hauptberufung der betreffenden Partei eintritt. Solange die eigene Berufung nicht formell für ungültig erklärt wurde (vgl. Art. 403 Abs. 1 lit. a und Abs. 3 StPO), ist die zusätzliche Anschlussberufung jedoch unbeachtlich. Daran ändert nichts, dass eine Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung durch Rückzug der eigenen Berufung nach Ablauf der Frist im Sinne von Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO nicht zulässig ist.
2.5.3 Dies steht entgegen den Vorbringen des Beschwerdegegners auch nicht im Widerspruch zu Art. 15 Abs. 2 StBOG und den Materialien zu dieser Bestimmung. Das StBOG regelt die Behördenorganisation, welche nur in rudimentärer Form Eingang in die StPO fand, im Übrigen jedoch Bund und Kantonen überlassen wurde (vgl. Art. 14 StPO; Art. 1 Abs. 1 StBOG; BGE 142 IV 70 E. 3.1 S. 75 f.; Botschaft vom 10. September 2008 zum Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes, BBl 2008 8125 ff., 8129). Als weitere Regelungsmaterie im StBOG zu berücksichtigen sind einzelne Sachbereiche, die keine Aufnahme in die StPO gefunden haben (BBl 2008 8130). Da sich Art. 15 Abs. 2 StBOG nur zur Behördenorganisation äussert und nicht bestimmt, innert welcher Frist

BGE 147 IV 36 (45):

die Umwandlung der Berufung in die Anschlussberufung zu erfolgen hat, ist die Bestimmung im Einklang mit der StPO dahingehend zu verstehen, dass eine gültige Umwandlungserklärung nur innert der Frist für die Anschlussberufung abgegeben werden kann.
 
Erwägung 2.6
2.6.1 Die sinngemässe Erklärung des Beschwerdegegners vom 6. Dezember 2017, seine Berufung in eine Anschlussberufung umwandeln zu wollen, war nach dem Gesagten ungültig, da sie nicht innert der Frist für die Anschlussberufung im Sinne von Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO erfolgte. Die Beschwerdeführerin wendet insoweit zu Recht ein, die Argumentation der Vorinstanz hätte zur Folge, dass die Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung über eine unzulässige "vorsorgliche" Anschlussberufung dennoch jederzeit möglich wäre. Eine solche Möglichkeit ist in der StPO nicht vorgesehen. Unerheblich ist, dass sich die Vorinstanz erst im Beschluss vom 13. März 2018, d.h. nach der Umwandlungserklärung vom 6. Dezember 2017, zur Zulässigkeit der Anschlussberufung vom 21. August 2017 äusserte.
2.6.2 Formell enthielt das Schreiben vom 6. Dezember 2017 keine Umwandlung der Hauptberufung in eine Anschlussberufung, sondern einen schlichten Rückzug der Hauptberufung. Zum Rückzug seiner Berufung war der Beschwerdegegner im mündlichen Verfahren bis zum Abschluss der Parteiverhandlungen berechtigt (Art. 386 Abs. 2 lit. a StPO). Ein Rückzug der Berufung ist gemäss Art. 386 Abs. 3 StPO endgültig, es sei denn, die Partei sei durch Täuschung, eine Straftat oder eine unrichtige behördliche Auskunft zu ihrer Erklärung veranlasst worden (vgl. Art. 386 Abs. 3 StPO). Der Rückzug einer Berufung ist in der Regel daher verbindlich. Einem anwaltlich vertretenen Berufungskläger muss die Wirkung eines Rückzugs grundsätzlich bekannt sein. Der Beschwerdegegner konnte sich auch nicht auf die Gültigkeit seiner Anschlussberufung bzw. der Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung verlassen.
Allerdings gab es im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Verfahrens noch keine höchstrichterlichen Grundsatzentscheide zur Zulässigkeit der Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung. Das Bundesgericht befasst sich im vorliegenden Entscheid erstmals vertieft mit den Voraussetzungen für die Umwandlung einer Berufung in eine Anschlussberufung. Die Vorinstanz hätte dem Beschwerdegegner unter den gegebenen Umständen daher ausnahmsweise eine Frist ansetzen müssen zur Stellungnahme, ob er am Rückzug seiner

BGE 147 IV 36 (46):

Hauptberufung auch in Berücksichtigung der Unzulässigkeit seiner Anschlussberufung festhält. Ein Nichteintreten auf die Berufung des Beschwerdegegners ohne eine solche vorgängige Rückfrage beim Beschwerdegegner wäre in der vorliegenden Konstellation überspitzt formalistisch.
2.6.3 Unbegründet ist die Kritik des Beschwerdegegners, das von der Beschwerdeführerin beantragte Nichteintreten auf die Anschlussberufung vom 21. August 2017 verstosse gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Zwar verzichtete die Beschwerdeführerin, nachdem ihr die "vorsorgliche" Anschlussberufung vom 21. August 2017 in analoger Anwendung von Art. 400 Abs. 2 StPO zur Kenntnis gebracht worden war, in ihrer Eingabe vom 18. September 2017 auf Nichteintretensanträge (vgl. Art. 400 Abs. 3 lit. a StPO). Dies schadet ihr insofern nicht, als die "vorsorgliche" Anschlussberufung des Beschwerdegegners zum damaligen Zeitpunkt angesichts der hängigen Berufung keine praktische Tragweite hatte und lediglich im Falle eines Nichteintretens auf die Hauptberufung des Beschwerdegegners infolge Verspätung oder formeller Mängel zu prüfen gewesen wäre. Die Beschwerdeführerin musste zum damaligen Zeitpunkt auch nicht damit rechnen, dass sich der Beschwerdegegner mit der "vorsorglichen" Anschlussberufung nicht bloss gegen ein allfälliges Nichteintreten auf seine Hauptberufung absichern wollte, sondern diese für eine gesetzlich nicht vorgesehene Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung nach Ablauf der Frist gemäss Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO nutzen wollte. Nach dem Schreiben des Beschwerdegegners vom 6. Dezember 2017 beantragte die Beschwerdeführerin am 18. Dezember 2017 zu Recht, auf die Anschlussberufung des Beschwerdegegners sei nicht einzutreten. Der Antrag ist daher nicht neu im Sinne von Art. 99 Abs. 2 BGG, wobei offenbeiben kann, ob diese Bestimmung vorliegend überhaupt zur Anwendung gelangt. Ein treuwidriges Verhalten der Beschwerdeführerin liegt auf jeden Fall nicht vor.


BGE 147 IV 36 (47):

Für die Anschlussberufung des Beschwerdegegners bestand nur Raum, wenn sich bei der Neubeurteilung seiner Hauptberufung herausstellen sollte, dass diese unzulässig, da bspw. verspätet oder formungültig war. Dies wurde von der Vorinstanz, welche das Verfahren im Beschluss vom 13. Mai 2018 infolge Rückzugs der Berufung für gegenstandslos erklärte, bisher nicht formell geprüft, wird vor Bundesgericht allerdings auch von keiner Seite geltend gemacht.
Die Rüge der Beschwerdeführerin, die Vorinstanz sei auf die Anschlussberufung des Beschwerdegegners zu Unrecht eingetreten, ist nach dem Gesagten begründet. Die Beschwerde ist insoweit gutzuheissen. Eine Behandlung der weiteren Rügen der Beschwerdeführerin betreffend das rechtliche Gehör erübrigt sich damit.