BGE 122 IV 235
 
35. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 6. August 1996 i.S. H., F., K. und N. gegen Eidg. Untersuchungsrichterin für die deutsche Schweiz
 
Regeste
Art. 91 ff., insb. Art. 99 Abs. 2 BStP; Art. 22 Abs. 1 lit. b OG. Ernennung von gerichtlichen Sachverständigen.
Diese Spezialisten können indessen im Rahmen der Amtshilfe oder als Hilfspersonen auch durch den Eidg. Untersuchungsrichter zur Erstattung eines Schlussberichtes oder zu ergänzenden Abklärungen angehalten werden (E. 2f und 3).
 
Sachverhalt


BGE 122 IV 235 (236):

Mit Verfügung vom 9. April 1996 ernannte die schweizerische Bundesanwaltschaft im gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren gegen N., F., K. und H. wegen Urkundenunterdrückung, Bestechens, Amtsmissbrauchs, ungetreuer Amtsführung, Sichbestechenlassens ev. Annahme von Geschenken, Urkundenfälschung im Amt sowie Vermögensdelikten drei Inspektoren der Eidg. Steuerverwaltung, R., Z. und S., als Sachverständige; diese waren durch die Bundesanwaltschaft bereits am 14. Februar 1996 durch "Protokoll" als Experten eingesetzt und ausdrücklich auf ihre Pflichten aufmerksam gemacht worden.
Am 25. April 1996 erstatteten die eingesetzten Experten einen Zwischenbericht.
Mit Beschwerden vom 15. April 1996 beantragten N., F. und K. in ihren (Haupt)-Anträgen der Anklagekammer des Bundesgerichts, die Verfügung der Bundesanwaltschaft vom 9. April 1996 aufzuheben. Mit Urteil vom 13. Juni 1996 trat die Anklagekammer des Bundesgerichts auf die Beschwerde nicht ein.
Am 12. Juni 1996 eröffnete der Stellvertreter der Eidg. Untersuchungsrichterin gegen die vier Beschuldigten eine eidgenössische Voruntersuchung. Mit Verfügung vom 21. Juni 1996 ernannte er die drei Inspektoren der Eidg. Steuerverwaltung, Z., R. und S. als gerichtliche Sachverständige.
Mit Beschwerden vom 26. bzw. 27. Juni 1996 beantragen N., F., K. und H. der Anklagekammer des Bundesgerichts, die Verfügung des Stellvertreters der Eidg. Untersuchungsrichterin vom 21. Juni 1996 aufzuheben, soweit Z., R. und S. als gerichtliche Sachverständige ernannt worden seien.
Der Stellvertreter der Eidg. Untersuchungsrichterin beantragt, die Beschwerden abzuweisen.
 
Aus den Erwägungen:


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b) Der Beschwerdegegner hält dem entgegen, die eingesetzten Sachverständigen seien tatsächlich nie in einer anderen Eigenschaft denn als Experten tätig geworden; mit der angefochtenen Verfügung sei lediglich ihr Auftrag perpetuiert worden; sie seien daher im vorliegenden Verfahren nie in anderer Eigenschaft tätig gewesen; Sachverständige könnten zudem im gleichen Verfahren zur Ergänzung ihres Gutachtens angehalten werden.
c) Art. 99 Abs. 2 BStP verweist bezüglich Ausschliessung und Ablehnung von Sachverständigen auf die entsprechenden Bestimmungen des Bundesrechtspflegegesetzes (OG). Gemäss Art. 22 Abs. 1 lit. b OG (in Verbindung mit Art. 99 Abs. 2 BStP) darf ein Sachverständiger daher sein Amt nicht ausüben in einer Angelegenheit, in der er schon in einer anderen Stellung, d.h. namentlich als Richter oder Mitglied einer administrativen oder richterlichen Behörde, als Justizbeamter, als Rechtsberater, Bevollmächtigter oder Anwalt einer Partei oder als Zeuge gehandelt hat. Dieser Anspruch auf funktionelle bzw. organisatorische Unvoreingenommenheit bzw. Nicht-Vorbefassung ergibt sich - ebenfalls für den gerichtlich bestellten Experten (vgl. BGE 118 Ia 144 E. 1c) - auch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK; dabei kommt es unter dem Gesichtspunkt des Anscheins der Vorbefassung in erster Linie auf die objektive Kompetenzordnung an und weniger darauf, in welchem Umfang davon Gebrauch gemacht wird. Eine doppelte Mitwirkung unterläuft grundsätzlich den Sinn der Verfahrensordnung, der aus rechtsstaatlichen Überlegungen oft darin besteht, verschiedene Verfahrensabschnitte zu trennen (vgl. BGE 117 Ia 157 E. 2a).
d) Der in Art. 22 Abs. 1 lit. b OG verwendete Ausdruck "Angelegenheit" ist nach der Rechtsprechung prozessrechtlich zu verstehen, indem Identität der betroffenen Parteien, des Verfahrens, aber auch der zur Beantwortung stehenden (Rechts-)Fragen verlangt wird (unveröffentlichtes Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 8. Oktober 1993 i.S. T., E. 2c mit Hinweis; unveröffentlichter Beschluss des Bundesgerichts vom 1. Oktober 1990 i.S. O., E. 4b, mit Hinweisen). Dies ist hier ohne Zweifel der Fall. Es bleibt daher zu prüfen, ob die durch den Stellvertreter der Eidg. Untersuchungsrichterin bestellten Sachverständigen bereits zuvor "in einer anderen Stellung" bzw. Funktion (BGE 117 Ia 157 E. 2a) gehandelt haben ("à un autre titre/en une autre qualité: JEAN-FRANÇOIS POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Art. 22, N. 3.2.1). Anders als in den bisher beurteilten Fällen, bei welchen es oft um die Grenzziehung zwischen den Verfahrensabschnitten der Strafuntersuchung und

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Anklageerhebung einerseits und der materiellen Beurteilung anderseits bzw. um die Mitwirkung des Richters im Untersuchungs- und im Urteilsverfahren ging, geht es hier um die Abgrenzung des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens vom durch den Untersuchungsrichter geführten Voruntersuchungsverfahren.
e) Auch wenn die Stellung der Bundesanwaltschaft sich jener eines Untersuchungsrichters faktisch annähert, handelt es sich bei dem von ihr geleiteten gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren (Art. 17 Abs. 1 BStP) um ein vom Voruntersuchungsverfahren klar abgegrenztes Verfahren (FRANZ STÄMPFLI, Der Entwurf eines Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspflege, ZStrR 1929, S. 339 ff.). Ziel dieser Abgrenzung war es, die Stellung des Beschuldigten (in der Voruntersuchung) insbesondere durch eine Erweiterung seiner Verteidigungsrechte zu verbessern; mit der klaren Trennung sollte auch erreicht werden, dass in der vom Untersuchungsrichter geführten Voruntersuchung sich der Bundesanwalt und der Beschuldigte als Parteien vor einem unparteiischen, vom Ankläger unabhängigen Untersuchungsorgan gegenüberstehen (BBl 1929 II 605 ff.). Während die Bundesanwaltschaft unter der Aufsicht und Leitung des Bundesrates steht (Art. 14 Abs. 1 BStP), handelt es sich beim Eidg. Untersuchungsrichter um einen unabhängigen Beamten, der weder dem Bundesrat noch der Bundesanwaltschaft, sondern einzig der Aufsicht der Anklagekammer des Bundesgerichts untersteht.
f) Die Anklagekammer des Bundesgerichts hat in ihrem zur Publikation bestimmten Urteil vom 13. Juni 1996 entschieden, bei den (in der vorliegenden Bundesstrafsache) am 9. April 1996 durch die Bundesanwaltschaft bestellten Sachverständigen handle es sich nicht um gerichtliche Sachverständige im Sinne von Art. 91 ff. BStP; wenn die Bundesanwaltschaft im gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren zahlreiche Akten zu sichten habe, deren Auswertung - im Hinblick auf die Frage, ob die gerichtspolizeilichen Ermittlungen einzustellen oder eine Voruntersuchung zu beantragen sei - buchhalterische bzw. finanzwissenschaftliche Spezialkenntnisse und damit den Beizug von Büchersachverständigen voraussetze, so könne sie entweder im Rahmen der Amtshilfe (Art. 27 BStP) an eine andere Bundesbehörde gelangen mit dem Ersuchen, ihr diese spezialisierten Beamten für die Klärung des Sachverhaltes zur Verfügung zu stellen, oder im Rahmen von Art. 101bis BStP ausnahmsweise auch ausserhalb der Bundesverwaltung stehende Sachverständige als Hilfspersonen der

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gerichtlichen Polizei beiziehen; die beigezogenen Büchersachverständigen könnten im Rahmen ihrer Mitarbeit durch die Bundesanwaltschaft auch angewiesen werden, über ihre Feststellungen einen schriftlichen Bericht bzw. ein Gutachten zu erstellen (E. 3a und b).
g) Auch wenn es sich wie im vorliegenden Fall um von der Bundesanwaltschaft lediglich ad hoc beigezogene Spezialisten handelt, haben diese zwangsläufig den Status von Organen bzw. Hilfsorganen der gerichtlichen Polizei und unterstehen wenn nicht in administrativer, so doch zumindest in fachlicher Hinsicht der Leitung bzw. Aufsicht der Bundesanwaltschaft (Art. 17 Abs. 1 BStP). Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den vom Eidg. Untersuchungsrichter zu ernennenden gerichtlichen Sachverständigen nicht um Hilfspersonen des Untersuchungsrichters; denn sie sind unabhängig und weder in administrativer noch in fachlicher Hinsicht jemandem unterstellt.
Diese grundlegenden Unterschiede machen deutlich, dass von der Bundesanwaltschaft im Rahmen des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens beigezogene Sachverständige als Personen zu gelten haben, die im Verhältnis zur Sachverständigenfunktion im Sinne von Art. 91 ff. BStP schon in einer anderen Stellung gehandelt haben (Art. 22 Abs. 1 lit. b OG). Unter dem Gesichtspunkt des (genügenden) blossen Anscheins kann es auch nicht darauf ankommen, ob die im gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren beigezogenen Spezialisten im konkreten Fall keine Weisungen erhalten und daher faktisch selbständig ermittelt haben. Dieser Umstand kann indessen im Rahmen der freien richterlichen Würdigung der Beweise bzw. der Ermittlungsergebnisse bedeutungsvoll sein.
Infolge ihrer dargelegten früheren Tätigkeit in einer anderen Stellung können die drei Beamten der Eidg. Steuerverwaltung im vorliegenden Bundesstrafverfahren nicht mehr als richterliche bzw. gerichtliche Sachverständige im Sinne von Art. 91 ff. BStP ernannt werden. Die angefochtene Verfügung ist daher aufzuheben.
h) Bei diesem Ergebnis braucht nicht geprüft zu werden, inwieweit der Ausstandsgrund der Befangenheit (Art. 23 lit. c OG) vorliegt. Es sei hier lediglich angemerkt, dass auch nach der Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art. 6 EMRK der Angeschuldigte grundsätzlich Anspruch auf Unparteilichkeit des bestellten Experten hat; unter diesem Gesichtspunkt erscheint es zumindest problematisch, wenn das Gericht Experten benennt, deren Feststellungen zur Einleitung des Strafverfahrens geführt haben (vgl. BGE 118 Ia 144 E. 1c). Dieselben

BGE 122 IV 235 (240):

Bedenken gelten für den Fall, dass Experten herangezogen werden, um einen Entscheid darüber zu ermöglichen, ob eine Voruntersuchung zu eröffnen sei.